Rolf Fieguth und Alessandro Martini (Hrsg.), Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, Bern 2005, 365-383
Rolf Fieguth
Drei Gedichtbücher, drei Stadien der Ich-Überwindung um 1900. Conrad Ferdinand Meyers “Gedichte” (1892), Stefan Georges “Hymnen”, “Pilgerfahrten”, “Algabal” (1889-1892) und Vjačeslav Ivanovs “Leitsterne” (1903)
Gedichtzyklen und komponierte Gedichtbücher sind ihrer Struktur nach Gattungen, die im Medium der poetischen und kompositorischen Kunst das subjektive auktoriale Ich problematisieren, so wie sie den autonomen Status des individuellen Gedichts in Frage stellen. Drei komponierte Gedichtbücher werden hier als Stadien der Problematisierung des “vereinzelten Bewusstseins” um 1900 präsentiert: Conrad Ferdinand Meyers (1825-1898) “Gedichte” (in der Fassung von 1892, letzte vom Autor selbst verantwortete Anordnung[1]); Stefan Georges (1868-1933) Dreierzyklus “Hymnen”, “Pilgerfahrten” und “Algabal” (1899) und Vjačeslav Ivanovs (1866-1949) “Leitsterne” (“Kormčie zvezdy”, 1903). Die Zusammenstellung dieser drei Gedichtsammlungen hat den Charakter einer experimentellen komparatistisch-literarhistorischen Konstruktion[2]; ihre Kommentierung in der vorliegenden Studie muss sich von fachgermanistischen Bräuchen unterscheiden. In der hier herbeigeführten Anordnung repräsentieren sie drei dicht aufeinander folgende Entwicklungsstadien der frühen Moderne; ferner realisieren sie je auf ihre Weise den allgemeinen Typus des komponierten Gedichtbuches, das in der europäischen Poesie des 19. Jahrhunderts eine Traditions- und Entwicklungslinie bildet. In der Regel besteht es aus mehreren Abteilungen, die Zyklen sein können, aber nicht müssen. Als ein wichtiger Auftakt dieses Typus kann in der sog. romantischen Epoche der europäischen Literatur der “West-östliche Divan” (1819) des Klassikers Goethe gelten; dazu kommen Heinrich Heines “Buch der Lieder” (1827) und seine nachfolgenden großen Sammlungen, sowie Victor Hugos lange Serie von umfangreichen komponierten Gedichtbüchern seit “Les Orientales” (1829). Alle diese Werke wirken insbesondere auch auf die europäische Zyklusdichtung der nachfolgenden, post-romantischen Periode ein. In dieser Periode selbst entstehen u.a. Walt Whitmans “Leaves of Grass” (1855) und Baudelaires “Les Fleurs du Mal” (1857; 1861), die allerdings wohl erst in der naturalistischen und symbolistischen Poesie der Jahrhundertwende vollauf zur Geltung kommen – unter anderem auch über die großen Gedichtbücher von Emile Verhaeren (1855-1916). Ferner ist für das ausgehende 19. Jahrhundert an die erhebliche europäische Ausstrahlung der Gedichtbücher von Paul Verlaine (1844-1896), sowie der Gedichteinlagen, zyklusartigen Gedichtanhänge und Gedichtanklänge in Nietzsches Schriften zu erinnern, vor allem in “Also sprach Zarathustra”, dem ab 1891 die “Dionysos-Dithyramben” als Anhang beigefügt wurden. Nietzsches Einwirkung auf die europäische[3] Zyklusdichtung harrt noch der genaueren Erforschung. Soweit die Skizzierung des weiteren europäischen Kontexts, in dem unsere drei Beispiele zu sehen sind.
Conrad Ferdinand Meyers “Gedichte” 1892[4]
C.F. Meyers “Gedichte” stellen die kunstvolle Anordnung eines lyrischen Lebenswerkes dar und stehen damit unserem Ivanov-Beispiel näher als unserem George-Beispiel. Die meisten Texte sind in einer früheren, dem Modernismus vorangehenden literarhistorischen Epoche entstanden (dies trifft übrigens auch für einen nicht geringen Teil der Gedichte in Ivanovs “Leitsternen” zu). Dennoch fällt die lange Arbeit an der definitiven Fassung der Einzeltexte sowie der Komposition des Bandes von der Erstauflage 1882 bis zur “endgültigen” Fassung 1892 bereits in die Frühphase des Modernismus.
Meyers Buch ist in römisch nummerierte, mit Zwischentiteln überschriebene Gedichtgruppen eingeteilt: I. “Vorsaal”, II. “Stunde”, III. “In den Bergen”, IV. “Reise”, V. “Liebe”, VI. “Götter”, VII. “Frech und Fromm”, VIII. “Genie”, IX. “Männer”. Gemeinsam ist ihnen, dass jeweils zwei oder drei aufeinanderfolgende Gedichte miteinander verbunden sind, zuweilen auf sehr paradoxe Weise (vgl. die Zusammenfassung bei Brecht 1918, 200 ff., Anmm. 1 und 2). Jede der Abteilungen weist ihre eigenen Kompositionsprinzipien auf und könnte auch für sich selbst Bestand haben. Wie Brecht 1918 vorbringt, treten sie aber auch in deutliche Beziehungen zueinander und suggerieren in ihrem Zusammenspiel eine kompositorische Ganzheit, in der auch kunst- und menschheitsgeschichtliche Konzeptionen eine Rolle spielen (vgl. die sicherlich etwas spekulative Deutung Brecht 1918, 185 ff.).
Wie fast immer beim Typus des großen komponierten Gedichtbuches, namentlich in Goethes “Divan” und in Heines “Buch der Lieder”, so kreuzen sich auch hier paradigmatische und syntagmatische Prinzipien der Anordnung der Gedichte. Gelegentlich schimmert das ältere Prinzip einer Zusammenstellung gattungsgleicher oder gattungsähnlicher Gedichte durch, wobei die Aufeinanderfolge gattungsgleicher Gedichte zugleich den Charakter der Variation herauskehren kann, indem unterschiedliche Versmaße und rhythmische Stile in den Gedichten der betreffenden Serie oder Suite vorherrschen. Aber das paradigmatische Prinzip kann schnell in ein syntagmatisches umschlagen: es häufen sich die Elegien in der das Zentrum des Buches bildenden Abteilung V. “Liebe”, während die Balladen – präsent bereits in jeder der Abteilungen von I bis VI – in den letzten drei Abteilungen zunehmend den Ton angeben. Dieser Wechsel der vorherrschenden Gattung zeigt jedoch zugleich auch einen lyrischen Ablauf an.
Durch den Titel “Vorsaal” der ersten Gedichtgruppe ist der auktoriale Wille zu einer kompositorischen Architektur[5] deutlich angezeigt: ein Vorsaal führt logischerweise in Hauptsäle, und tatsächlich lassen sich die nachfolgenden acht Abteilungen in ungefährer Analogie zu großen Bilder- oder Skulpturengalerien lesen, auch gibt es in dieser Sammlung nicht wenige Gedichte auf Gebäude, Plastiken und Gemälde. Eine andere Architekturmetaphorik deutet “Die Krypte” (199) an, in früheren Fassungen (vgl. Zeller in Meyer 1963-1996, Band 4, 669) “Architectur der Zukunft” betitelt und den Kathedralenbau als Ganzes thematisierend, in der definitiven Fassung den Kathedralenbau nur noch metonymisch durch Thematisierung des Kryptenbaus andeutend. Dieses Architekturgedicht kann wohl auch als versteckter Hinweis auf die “Architektur” des gesamten Gedichtbandes gelesen werden. Eine noch andere Metaphorik entfaltet das berühmte Gedicht “Der römische Brunnen” (111), das Brecht als eine Art emblematischen Text für die Zusammengehörigkeit aller Texte der Sammlung deutet (Brecht 1918, 209). Andere Assoziationen führen auf das Theater, noch andere auf den planvoll gestalteten Landschaftsgarten mit vielen Abteilungen.
Ein besonderes Kapitel sind in diesem Buch die Anspielungen auf die Musik; diese wird zwar in der Sammlung seltener explizit thematisiert als die bildenden Künste[6], dennoch kann die eigenartige assoziative Verbindung zwischen den Einzelgedichten kleinerer Gedichtgruppen und dann zwischen den Gedichtgruppen nicht selten einen para-musikalischen Charakter annehmen, eine Art “unendliche Melodie”[7] andeuten, welche diese Gedichte über all ihre thematischen und metrischen Verschiedenheiten hinweg zu verbinden scheint.
Die Struktur des Bandes erwächst aus vielfältigen thematischen Oppositionen (die unter Umständen auch im formalen Bereich begegnen). Die Spannung zwischen deutschsprechendem Norden und italienischem Süden wird gewissermaßen erweitert durch englische sowie griechische und spanische Themen; sie wird durchkreuzt durch eine zusätzliche Spannung zwischen französischem Westen und deutschsprechendem Osten. In diese Spannungslinien mehr oder weniger paradox eingehängt sind vielfältige weitere Kontraste wie der zwischen Romantik (als Meyers unmittelbarem, von ihm sicherlich als problematisch empfundenem Erbe) und Renaissance (offensichtlich Meyers Idealepoche), zwischen antikem Heidentum und aktuellem Christentum, zwischen Protestantisch und Katholisch, zwischen Natur und Kunst, zwischen Geschichte und zeitenthobener oder an den “Moment” gebundener Poesie. Es sind Spannungen, die meist nicht als einander ausschließende Kontraste daherkommen, sondern die thematische und poetische Versöhnung zumindest als Möglichkeit enthalten. Es scheint aber, dass die große, alles andere mehr oder weniger prägende Bewegung aus der Spannung zwischen Ich-Poesie und “objektiver”, zum subjektenthobenen Ideal vordringender Poesie herrührt, die in der Gesamtkomposition dieser Sammlung in ganz besonderer Weise inszeniert wird, aber auch in jeder einzelnen Abteilung prägend ist. Bezeichnend ist dafür das auf “Camoëns” folgende zweite Gedicht der Abteilung VIII “Genie”:
Michelangelo und seine Statuen (201)
Du öffnest, Sklave, deinen Mund,
Doch stöhnst du nicht. Die Lippe schweigt.
Nicht drückt, Gedankenvoller, dich
Die Bürde der behelmten Stirn.
Du packst mit nervger Hand den Bart,
Doch springst du, Moses, nicht empor.
Maria mit dem toten Sohn,
Du weinst, doch rinnt die Träne nicht.
Ihr stellt des Leids Gebärde dar,
Ihr meine Kinder, ohne Leid!
So sieht der freigewordne Geist
Des Lebens überwundne Qual,
Was martert die lebendge Brust,
Beseligt und ergötzt im Stein.
Den Augenblick verewigt ihr,
Und sterbt ihr, sterbt ihr ohne Tod.
Im Schilfe wartet Charon mein,
Der pfeifend sich die Zeit vertreibt.
Ich halte dieses Gedicht für eines der Schlüsselgedichte der gesamten Sammlung, die eine nicht-lineare, repetitive große Bewegung thematisiert und als Sammlung auch verkörpert: die Bewegung einer Poesie der vom subjektiven Ich sowohl ausgehenden als auch absehenden Idealisierung, einer Poesie der künstlerischen Tat, der Geschichte und des männlichen Handelns, einer Poesie der Götter, der Genies und der bedeutenden Männer, in der das leidende, gequälte, mitten in der Liebe vom Tod bedrohte Ich aufgehoben oder völlig umgeschaffen ist. In einem anderen Michelangelo-Gedicht, “In der Sistina” (209), kommt das Meyersche Ich-Problem geradezu blasphemisch zum Ausdruck. Michelangelo hat Gott gemalt und fordert nun von ihm, seinem Geschöpf, ihn, den Künstler, als Stein zu behandeln und mit dem Hammer neu zu schaffen:
So schuf ich dich mit meiner nichtgen Kraft:
Damit ich nicht der größre Künstler sei,
Schaff mich – ich bin ein Knecht der Leidenschaft –
Nach deinem Bilde schaff mich frei!
Den ersten Menschen formtest du aus Ton,
Ich werde schon von härterm Stoffe sein,
Da, Meister, brauchst du deinen Hammer schon,
Bildhauer Gott, schlag’ zu! Ich bin der Stein!”[8]
(“In der Sistina” (209), vv. 17-24)
Kunst oder Poesie – so kann man aus diesem Gedicht schließen – sollen letztlich der objektiv-artistischen Formung des Künstler- bzw. Dichtersubjekts dienen – eine Formung oder Umformung, die dem Tod des Subjekts gleichkommt.
Jede anspruchsvolle Poesie, und insbesondere jedes anspruchsvolle komponierte Gedichtbuch, thematisiert implizit die Entstehung dieser Poesie und der Poesie überhaupt – jeder Zyklus und jedes komponierte Gedichtbuch ist in irgendeinem Grade auch autoreferentiell. Bei Meyer ist diese spezielle Autoreferentialität der Poesie vor allem in die Gedichte zur bildenden Kunst verlagert. Michelangelo wird vornehmlich als Bildhauer und Maler angesprochen, als Dichter wird er nicht thematisiert, wohl aber durch zahlreiche Zitate und Kryptozitate aus seinen Sonetten heimlich eingebracht. Hierzu passt, dass in “Venedigs erster Tag” (103) als Sänger und Dichter Giorgione auftritt, den die Welt sonst als Maler kennt. Dies zeigt eine allgemeine Tendenz an: Dichter und das Dichten werden in diesem Gedichtbuch nicht allzu häufig offen und direkt thematisiert. Als Ausnahmen dürfen gelten “Schillers Bestattung” (3), “Ein Lied Chastelards” (18; es evoziert sowohl Maria Stuart als auch ihren unglücklichen Liebhaber Chastelard als Dichter); “Schutzgeister” (68; Schiller und Goethe). Abgesehen von Michelangelo finden wir noch einen Minnesänger (“Thibault von Champagne” (176)), Petrarca (“Der Tod und Frau Laura” (184)), “Camoëns” (200) und Milton (“Miltons Rache” (229)). Es kommen dazu zahlreiche, für gebildete Zeitgenossen leicht erkennbare Anspielungen auf Dichter der Antike, sowie versteckte Nennungen von Ariost und Tasso. Die Reihe lässt sich wahrscheinlich fortsetzen, dennoch darf gesagt werden, dass die Evokation anderer Dichter in diesem Gedichtbuch keine exponierte Rolle spielt. Allerdings ist das Finalgedicht der Abteilung “Genie”, “Chor der Toten” (213), geeignet, die Proportionen geradezu umzukippen, weil hier das ganze Erbe der vergangenen Künstler und Dichter aufgerufen wird:
Chor der Toten
Wir Toten, wir Toten sind größere Heere
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten,
Und was wir vollendet und was wir begonnen,
Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen,
Und all unser Lieben und Hassen und Hadern,
Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,
Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
Erkämpfen den Lorbeer in strahlendem Lichte,
Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele –
Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!
Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Gedicht, an kompositorischer Tonstelle platziert, eine Art “musikalische” Grundstimmung der ganzen Gedichtsammlung aktivieren soll – das Mitschwingen der Töne, Gebilde und Gedichte der Toten zum Chor der Gedichte des noch lebenden Autors. Diese etwas verborgene musikalische “Grundierung” des ganzen komponierten Buches steht mit Sicherheit auch im Zusammenhang mit einer romantischen Strömung, die neben vielen anderen gegensätzlichen Momenten in Meyers Gedichtbuch auch ihren Platz behauptet. Das Motiv des Chores weist übrigens über die Grenzen der Poesie hinaus, wie ja der Zyklus oder das komponierte Gedichtbuch das lyrische Einzelgebilde weit überschreiten.
Als poetische metazyklische Kommentare eignen sich in allen Zyklen und Gedichtbüchern Kranz- und Rankenmotive, die natürlich auch bei Meyer begegnen (das “Morgenlied” (24) mit seinem Kranzmotiv; “Eppich” (25) mit seinem Rankenmotiv). Metazyklische Bedeutung kann den erwähnten Architektur-Gedichten beigemessen werden. In besonderer Weise mag dies für “Musensaal” (115) gelten, dem Vatikanischen Museumssaal gewidmet, in dem die neun Musen, von Apollo nicht geführt und geordnet, “in wilder Gruppe” schreiten, wie von einem ’flammenden Gewitter überrascht’. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das ursprünglich unter dem Eindruck des deutsch-franzöischen Krieges von 1870/71 verfasste Gedicht (vgl. Zeller, Band 3, 324 ff.) in dem neuen Zusammenhang des gesamten Gedichtbuches das unverordnete Zusammenwirken aller Musen in der Welt dieser Gedichte und zugleich auch die poetische Willkür der Anordnung der Gedichte reflektieren soll. Die Neunzahl der Abteilungen des Gedichtbuches wird hier zweimal reflektiert, einmal in der Nennung von “Pio Nono”, sodann in der Neunzahl der Musen (“Die Neune saßen oder standen nicht…”; v. 11). Die schöne freiwillige Ordnung des Chores der Musen, die sich von keinem Tyrannen erzwingen lässt (auch nicht vom Interpreten der Komposition von Meyers Gedichtbuch), wird wohl nicht von ungefähr am Schluss des “Vorsaales” angeführt, in “Die gefesselten Musen” (23) – auch dies ein verschlüsselter Hinweis auf den Aspekt der freien und unverfügbaren Ordnung des Bandes[9].
Eine metazyklische Note besonderer Art ist im Schlussgedicht der Abteilung “Götter” zu sehen, in “Alle” (168), einem Gedicht über Gottes Geist, der das Abendmahl im Himmel und beim “ganzen Volk” der Erde veranlasst. Der uneingeweihte Leser vermutet ein derartiges Motiv der Geistgemeinschaft (russisch: sobornost’) nicht bei dem sonst höchst individualistischen Meyer; es bleibt zu untersuchen, ob er dieses Thema heimlich vielleicht doch für den kompositorischen Zusammenhang seiner Gedichte produktiv machen wollte, wie Vjačeslav Ivanov es später mit großer poetischer Energie in seinen Gedichtbüchern tat. Auch die dort so stark herausgestellte Idee des “Gesamtkunstwerks” kann mit Meyers Motiv des freiwilligen Chores aller Musen zumindest verglichen werden.
Stefan Georges Zyklen “Hymnen”, “Pilgerfahrten”, “Algabal” (1899)[10]
Georges noch der Frühphase seines poetischen Schaffens angehöriger Dreierzyklus “Hymnen”, “Pilgerfahrten” und “Algabal” (1899)[11] entsteht in derselben literarhistorischen Periode wie die letzte Fassung von Meyers Gedichtsammlung. So problematisch ein Vergleich mit Meyer ist[12]: auch in diesen frühen George-Zyklen geht es um das Problem der Selbstformung und Selbstentäußerung des künstlerischen und dichterischen Ichs durch Poesie. Als alle drei Zyklen zusammenfassende Grundidee kann ein desaströser Weg von einem Zustand der Liebe zum Leben des Dichters als Herrscher angenommen werden. Die “Hymnen” sind Ausdruck einer der Kunstinspiration vorgelagerten Liebesemotion; die “Pilgerfahrten” – langer und problematischer Abschied von der Liebe – folgen als eine Art poetischer ascensus. “Algabal” charakterisiert die erreichte und dann skandalös scheiternde Herrscher- und Künstlerexistenz, die zeichenhaft für die poetische Existenz steht. Der übersteigerte Individualismus der Dichter-, Künstler- und Herrscherfigur Algabal wird – bei aller unbezweifelbaren ästhetischen Verlockung – als menschliche Sackgasse dargestellt, die nicht wie bei C.F. Meyer zur produktiven Vernichtung und Aufhebung des Subjekts im poetisch Objektiven führt, sondern zur Selbstvernichtung. Ein Individualismus dieser Art wird anschließend zum negativen Ausgangspunkt für Georges spätere eigene anti-individualistische Zyklusdichtung; mutatis mutandis gilt dies analog auch für Ivanov.
Der poetische Ablauf, der im obigen Résumé der drei Zyklen (re)konstruiert wird, basiert nicht etwa auf einem Voranschreiten der Zeit; diese verläuft vielmehr alinear-zyklisch in mehreren widersprüchlichen Bewegungen, indem eine phantastisch-traumhafte Gegenwart der ersten beiden Zyklen in eine noch phantastischere “historische Vergangenheit” des dritten Zyklus zurückzuführen scheint.
“Hymnen”, der Titel des ersten Zyklus, verweist auf einen religiösen Bereich, der in der Antike, aber auch im älteren Christentum liegen könnte, und ruft dabei die Tradition der pindarischen Hymne, der christlichen Hymnenpoesie und ihrer romantischen Wiederbelebung auf (allein ein Titel wie “Nachthymne” evoziert unweigerlich Novalis); auch Anklänge an Barockpoesie[13], an Verlaine (“Hochsommer”) sowie an die “dekadenten” modernen Franzosen (“Neuländische Liebesmahle”) lassen sich vernehmen. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit im Vergleich zu Meyer weitaus spröderen Verbindungen zwischen den Einzelgedichten zu tun, wie Simons 1965 266 ff. besonders herausstellt. Es wird ein hybrider zyklischer Raum geschaffen, der je nach poetisch thematisierter Gefühlslage von einem Satz zum anderen nördlich oder mittelmeerisch werden kann[14], und genau diese Überblendung und mehrfache Inklusion der Räume darf zyklisch genannt werden. Sie ist vielleicht eine zyklustechnische “Neuerung” gegenüber den kulturräumlichen Nord-Süd-(sowie West-Ost)-Oppositionen eines C.F. Meyer, die allerdings ebenfalls keine planen Exklusiv-Oppositionen sind, sondern durch vielfältige Kreuzung selbst schon eine erhebliche Verkomplizierung erfahren. Bei George wird die für den Gedichtzyklus gattungstypische Hybridisierung von Raum und Zeit und ihre Aufhebung in einer poetischen Struktur (“im Bilde”) in manchen poetischen Formulierungen geradezu thematisiert: “Der zeiten flug verliert die alten namen / Und raum und dasein bleiben nur im bilde (“Weihe”)”. Aus der Zeit herausgenommen sind die Liebenden am Ende nur noch “im Bilde” vorhanden – im Zyklus aufeinander bezogen und getrennt: als Gemälde des “Infanten” (“Der Infant” – vermeintlich von Velasquez, vgl. Morwitz 1969, 20 f.) und als kindliche Mariendarstellung (“Ein Angelico”). Bei alledem bleibt die Idee des “Ablaufs” einer vergeblichen Liebesgeschichte durch alle poetischen Verfremdungen und ‘Entzeitlichungen‘ hindurch über den gesamten Zyklus “Hymnen” hin durchaus erkennbar.
Der zweite Zyklus, “Pilgerfahrten” betitelt, kündet weiter von nie gestillter Liebessehnsucht und ist allein schon dadurch eine poetisch schlüssige Fortsetzung der “Hymnen”. Stärker hervorgehoben ist in den “Pilgerfahrten” die zyklisch verschachtelte und delinearisierte Zeit in ihrem spezifischen Ablauf– nicht zuletzt infolge des Wander- oder Reisemotivs, das hier strukturbildend ist.
Der dritte Zyklus, “Algabal”, versetzt uns in ein völlig anderes, phantastisch-spätrömisches Chronotop, – anvisiert wird die Periode des römischen Kaisers Heliogabal (204-222 p. Chr.)[15]. Man beachte übrigens den Kontrast zwischen C.F.Meyers Geschichts-Poesie und Georges lyrischer “History-Fiction”. Dieser Zeitsprung ist als unvermitteltes Heraustreten aus der “normalen” Zeit aufzufassen, die besondere Existenz Algabals wird dadurch als poetische Konsequenz aus den Existenzstadien des Hymnikers und des Pilgers erkennbar.
Der Zyklus “Algabal” weist in seiner poetischen Zeitstruktur noch weitere Komplikationen auf. Einen Schlüssel zum besseren Verständnis der zeitlichen oder quasi-zeitlichen Beziehungen zwischen den Einzelgedichten sowie den Unterabteilungen “Im Unterreich”, “Tage” und “Andenken” liefert das Verfahren des ‘entzeitlichten Rückblicks‘, der in poetische Konstruktion transformierten Zeitstufung. Dieses begegnete schon in den vorangehenden Zyklen – vgl. das Gedicht “Rückblick” im Zyklus “Hymnen” sowie die “Verjährten Fahrten” in “Pilgerfahrten”. In “Algabal” ist ein poetisch-zeitlicher Orientierungspunkt gesetzt: der Tod des Kaisers. Insofern stellt sich bei jedem Gedicht die Frage, ob es einen Zeitpunkt vor oder nach dem Tod des Kaisers anvisiert, oder ob es diese Frage bewusst offen lässt. Mit dieser Fragestellung verbindet sich die Frage danach, ob wir es im Sinn der zyklischen Fiktion bei einem konkreten Gedichttext jeweils mit der poetisch-erlebten Rede des Kaisers, mit einem Gedicht des Kaisers selbst, oder “nur” mit einem Text des poetischen Autors zu tun haben. In jeder der drei Unterabteilungen kommen Einzelgedichte mit unterschiedlichem zeitlichem und auktorialem Status vor; die poetische Zeit und das zyklische Subjekt sind also in jeder von ihnen synthetisch gestaltet. Dennoch kann die mittlere Unterabteilung “Tage” als Mischung aus poetischer Evokation von Algabals letzter Lebensphase und poetischem Tagebuch des Kaisers aus eben dieser Phase verstanden werden[16]. In “Unterreich” mischen sich demgegenüber präsentische und retrospektive Evokationen der vom Kaiser geschaffenen nächtlich-unterirdischen Kunstwelt – wobei der kaiserliche Dichter dabei zuletzt auch selbst zu Wort kommt[17]; in der Unterabteilung “Die Andenken” sind im Sinn der zyklischen Fiktion posthum weitere Gedichte des Kaisers gesammelt, die in Bezug auf “Tage” eine Art retrospektives poetisches Tagebuch des Kaisers ergeben und auch auf frühere Phasen seines Lebens Bezug nehmen.
Es ist offenkundig, dass die drei Zyklen in ihrem Zusammenhang einen poetologischen und damit autothematischen Charakter haben und eine Selbststilisierung des poetischen Werdegangs und der eigenen poetischen Existenz des Autors darstellen. Auch in diesen drei Zyklen lassen sich ferner Elemente der lyrischen Modellierung eines poesiehistorischen Prozesses identifizieren, dessen wichtige Punkte Traditionen sind, die C.F.Meyer eher fern standen. Evoziert werden die Spätantike, die deutsche Barockpoesie, an die sich – möglicherweise inspiriert durch den rücksichtslos archaisierenden Versklang von Mallarmés Poesie – Georges eigenartiges poetisches Idiom anzulehnen scheint, weiter Hölderlin, die Romantik[18], die modernen Franzosen (außer Mallarmé sicherlich Baudelaire und Verlaine), und nicht zuletzt Nietzsche. Ein besonderes Gepräge erhalten diese Zyklen durch ihre Aufschriften und Widmungen, darunter an die Dichter Hugo von Hofmannsthal (“Pilgerfahrten”) und Albert Saint-Paul (“Algabal”).
Wie steht es mit den metazyklischen Elementen in den drei Gedichtfolgen? Nicht wenige Worte, Motive und Formulierungen in den aufeinanderfolgenden Zyklen lassen sich hierzu heranziehen. In den “Hymnen” sind es die Motive des Parks und des Teppichs (“Im Park”, S. 12), des Gartenreichs (“Rückblick”, S. 21), des Tanzreigens (“Hochsommer”, S. 20) sowie Fomulierungen wie “zu träumen einen melodienstrom” (“Neuländische Liebesmahle III”, S. 15), “rauschen alle stauden in akkorden” (“Strand”, S. 19), oder “Dahlien levkojen rosen / In erzwungenem Orchester duften” (“Die Gärten schließen”, S. 24). In den “Pilgerfahrten” sind es Motive wie Baumreihen (“Siedlergang”, S.19: “den langen schattenzug der rüstern”), Bogenhallen (“In alte landen laden…”, S. 32) oder die (alles zusammenhaltende) “Spange” (S. 42), und Formulierungen wie “Ihn wirren leis die bunten sonnenmale. / Den hellen bäumen folgt er ohne wende / Und ohne wissen um ein strenges ende. / Da stand er wieder in dem alten tale”, (“Siedlergang”, S. 29) oder “Verschlungen in den tanz der roten frauen” (ebenda). In “Algabal” sind die in dieser Hinsicht aussagekräftigsten Formulierungen “An allen seiten aufgereiht als spiegel / – Gesamter städte ganzer staaten beute” (“Der saal des gelben gleisses…”, S. 48), sowie “Weisse Schwalben sah ich fliegen / Schwalben schnee- und silberweiss / Sah sie sich im winde wiegen” ( “Vogelschau”, S. 61). Die allermeisten dieser Formulierungen und Motive fungieren allerdings nicht so sehr metazyklisch, d.h. bewusstseinsschärfend; eher suggerieren sie dem träumerisch gestimmten Bewusstsein des Poesielesers zyklisch-assoziative Zusammenhänge.
Vjačeslav Ivanovs “Leitsterne” (“Kormčie zvezdy”, 1903)[19]
Vjačeslav Ivanov trat im bemerkenswert hohen Alter von 37 Jahren in die russische Poesie ein, und zwar mit dem Gedichtbuch “Leitsterne” (“Kormčie zvezdy”; 1903), einer Summe seiner jahrzehntelangen, ganz im Stillen geleisteten poetischen Arbeit. Zyklusbildende Motive Ivanovscher Gedichtbücher sind zum einen die poetische Verarbeitung der Idee des ascensus und descensus des nach göttlicher Inspiration und nach Kommunikation mit seinen Mitmenschen suchenden Dichters, darüber hinaus aber auch die kompositorische Modellierung der Idee der “sobornost’” (Gemeinschaft im göttlichen Geist): durch den zyklischen Zusammenhang überwinden die Gedichte ihre Vereinzelung und bilden ein geistinspiriertes neues Ganzes. Dies entspricht der Idee der Überhöhung des individuellen Subjekts und der geistgemeinschaftlichen Überwindung seiner Vereinzelung (vgl. dazu ausführlicher Fieguth 1994). Diese ziemlich evidente Verbindung zwischen zyklischer Kompositionsidee und geistinspirierter Gemeinschafts-Idee ist das, was Ivanovs Zyklus vom prä-modernistischen C.F. Meyer und vom frühmodernistischen George unterscheidet. Im Zusammenhang damit erweitert und vertieft Ivanov aber einen Aspekt zyklischer Komposition auf radikale Weise: die Modellierung eines poesiehistorischen Prozesses. Dieser Aspekt gerät bereits in den “Leitsternen” zu einem die Gattungsgrenzen der zyklischen Lyrik dramatisch sprengenden Prozess, zur poetischen Gestaltung eines auf den Zyklus bezogenen Entwicklungsgesetzes, das die künftige Aufhebung der Gattung mitdenkt.
Eine schwerwiegende Durchbrechung der Grenzen des lyrischen Gedichtzyklus findet bereits in drei metaphysischen Poemen[20] statt, die im letzten Drittel des Buches platziert sind, den Weg der Seele des Dichters durch quälende Visionen schildern und dabei namentlich Dantes “La Divina Commedia” in Erinnerung rufen, die auch sonst einen der wesentlichsten literarischen Bezugspunkte der “Leitsterne” darstellt. Überhaupt kann das ganze Buch “Leitsterne” als zyklischer ‘Bericht‘ von den Irrfahrten und Reisen der Seele gelesen werden, der jedoch die himmlischen Leitsterne vorschweben.
Eine noch viel wesentlichere Rolle kommt hier aber den zahlreichen Anspielungen auf die Bühne, auf die Musik, auf den Tanz zu, die durch die nicht nur lyrische Gattung der Dithyramben in diesem Zyklus besondere poetische Präsenz erhalten. Dithyramben sind ursprünglich chorisch gesungene und getanzte Hymnen auf den Gott Dionysos, also Teil einer Liturgie; für Ivanov waren sie besonders aktuell, weil sie am literarhistorischen Anfang sowohl der Lyrik als auch der Tragödie stehen und er nach Nietzsches Vorgang die Möglichkeit sieht, Lyrik wieder mit Tragödie und Liturgie zu versöhnen[21]. Mehr als auf Nietzsche, der Ivanov sehr beeindruckt hat[22], bezieht sich Ivanov aber auf die Dithyramben Schillers, auf Beethovens 9. Symphonie, die mit der Vertonung von Schillers großer dithyrambischer ”Ode an die Freude” endet, auf Goethes Faust und schließlich namentlich auch auf Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk[23].
Dithyrambische Elemente sind besonders in den ersten drei Büchern “Entzücken und Flimmern” (”Poryv i grani”, 517-537), “An Dionysos” (”Dionisu”; 539-551), “Paradiesesmutter” (”Rajskaja mat’”; 553-558) sowie im vorletzten Buch ”Evia” (681-694) präsent – und zwar so präsent, dass man beim Lesen eine szenische Aufführung mit mehreren Chören und Ballettgruppen, Solostimmen und Musikbegleitung, stellenweise aber auch liturgieartige Szenen imaginieren sollte.
Zum erstem Mal stellt sich dieser Effekt voll ausgeprägt im 8. Gedicht des 1. Buches ein, in dem “Lied der Kainsnachkommen” («Pesn’ potomkov Kainovych», 522 f. ). Hier gewinnt der mehrfache Wechselgesang zwischen einem ”Chor der Männer” und einem ”Chor der Frauen” zumindest vor dem geistigen Ohr und Auge des Lesers szenische Präsenz. Deutlichen Oratoriencharakter hat die in demselben Buch platzierte längere Dichtung “Die Nacht in der Wüste” («Noč’ v pustyne»; 527-534), eine mystisch-theatralische Szene mit mehreren sprechenden oder singenden Personen, die ihrem ganzen Charakter nach aus Goethes Faust stammen könnte. Dem folgt ”Missa solemnis, Beethoven” (534), poetische Evokation eines mächtigen ”geistesgemeinschaftlichen” Solo-, Chor- und Musikwerks, das nach Ivanovs Verständnis die ideale Verwirklichung des dithyrambischen Prinzips überhaupt darstellt («Vagner i dionisovo dejstvo» (1905); Ivanov 1971-1987, Bd. II, 83-103). Das Buch ”Entzücken und Flimmern” wird schließlich durch einen mystischen Anruf an Dionysos und an alle Künste abgeschlossen (“Das Werk”, ”Tvorčestvo”, 536 ff. ), unter Nennung der großen Namen der Poesie, der Bildhauerei, der Musik usw. (Orpheus, Beethoven, Buonarotti, Pygmalion, Dante, Homer, Phidias). Hier ist die Idee der Versammlung aller Künste am deutlichsten und explizitesten zum Ausdruck gebracht. Auch wenn Wagner nicht namentlich zitiert wird, ist die Evokation seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks deutlich. In dem “An Dionysos” betitelten 2. Buch des Zyklus, spielt das Prinzip des chorlyrischen Dithyrambus ferner deutlich in eine liturgische Konzeption der Tragödie hinein, d.h. das große Gedichtbuch, das sich in dieser Phase zur chorlyrisch bestimmten Szene transformiert, nimmt Züge einer dionysischen Tragödie an, die am Schluss motivisch mit dem Geschehen von Golgatha verbunden wird. Ostslavisches Orthodoxes und Folkloristisches verbindet sich dann mit Chorlyrisch-Dithyrambischem und Liturgischem im 3. Buch des Zyklus, ”Die Paradiesesmutter”.
Danach nimmt das szenische, chorlyrische und musikalische Element deutlich ab und macht für lange Zeit in den “Leitsternen” dem konventionellen monologisch-lyrischen Prinzip Platz. Eine erhebliche Überschreitung der lyrischen Form tritt erst wieder in den erwähnten drei mystischen Poemen ein; danach kommt dann allerdings die dithyrambische, musikalische und theatralische Form stärker denn je im vorletzten Buch ”Evia”[24] zu ihrem Recht; es ist musikalisch-rhythmisch und szenisch besonders bewegt. Die meisten seiner Texte sind von Chören gesprochen oder psalmodiert zu denken. Dagegen schließen die “Leitsterne” ab mit dem leisen, monolog-lyrischen Buch ”Suspiria” – denn auf die Hörbarkeit der dichterischen Einzelstimme legte Ivanov gleichfalls großen Wert.
Der Band ist stark komponiert, er ist dem Typ nach sowohl ein ”großes Gedichtbuch” als auch ein ”großer Zyklus”. Inhaltliche Grundidee ist der Weg der Seele durch Tode und Anfechtungen zu sich selbst, mit all den erwähnten Referenzen auf den Dionysos-Mythos und auf Leben, Sterben und Auferstehen des christlichen Gottessohnes. Der zyklisch wiederholte Weg des Dichters zur göttlichen Inspiration und zu seiner Vermittlung dieser Inspiration an seine Mitmenschen ist nur ein – wenngleich sehr wesentlicher – Aspekt dieses Weges.
Die Gedichte der ersten beiden Bücher ”Entzücken und Flimmern” und ”An Dionysos” bilden gemeinsam einen mystisch-epischen Zusammenhang, auf dessen Grundlage die musikalischen, chorlyrischen und szenischen Elemente immer stärker hervortreten, bis sie sich am Schluss zur Idee des Gesamtkunstwerks verdichten. All dies findet seine Fortsetzung in dem Buch “Paradiesesmutter” (”Rajskaja mat’”) mit seiner Verbindung von slavisch-heidnischer und christlicher Gesangs- und Tanz-Folklore, orthodoxen Liturgie-Anklängen und dionysisch-dithyrambischen Komponenten. Vom vierten Buch ”Blumen der Dämmerung” (“Cvety sumerek”) an findet eine Art Rückreise in Tradition und Vorgeschichte des lyrischen Gedichtzyklus statt, dessen Grenzen in den ersten drei Büchern weit überschritten worden waren: ”Blumen der Dämmerung” spielt u.a. auf Baudelaires “Les fleurs du mal”, aber auch auf Evgenij Baratynskijs spätromantischen Zyklus “Dämmerung” (“Sumerki”; 1842) an. Das Buch “Hesperiden” (”Gesperidy”) bewegt sich zwar stärker als das vorige in der antiken Sphäre und akzentuiert entsprechend stärker die liturgischen und religiösen Elemente der ”Mysterien des Dichters”, bleibt aber gleichwohl in den Grenzen des Lyrischen. Die Bücher ”Thalassia” und “Oreaden” (”Oready”) sind lyrische Reisezyklen, die ihre Parallelen und Fortsetzungen in den Sonettsequenzen “Sonette” (”Sonety”) und “Italienische Sonette” (”Ital’janskie sonety”) und darüber hinaus in den Büchern ”Pariser Epigramme” und ”Distichen” finden. Die Sonettbücher, die “Pariser Epigramme” sowie die ”Distichen” sind in besonders auffälligem Maß Reisen in die Gattungsvorgeschichte (die “Pariser Epigramme” als Anspielung auf die antiken Epigrammzyklen, die den Elegienzyklen vorausgehen[25]) und Gattungsgeschichte des lyrischen Gedichtzyklus. Die durch die ersten drei Bücher vollzogene drastische Sprengung des Rahmens eines Lyrikzyklus wird hier gleichsam durch eine Reise ins Innere seines Gattungsgedächtnisses kompensiert. Dem folgen als neuerliche explizite Grenzüberschreitung die drei erwähnten mystischen Verserzählungen, die allerdings ”lediglich” ein von Anfang an durchgehend vorhandenes mystisch-episches Element (‘Irrfahrten der Seele‘) explizit werden lassen. Stark in den Vordergrund gestellt wird neuerlich das den ganzen Zyklus besonders prägende dithyrambische Moment im vorletzten Buch ”Evia”, das im lyrisch bestimmten abschließenden Buch ”Suspiria” dann nur noch mitschwingt. Der Tod des Dionysos im Abschlussgedicht “Der Gast” (”Gost’”) geht seiner sonnenhaften Wiederauferstehung voraus – und kündet eine neue Phase von ”Entzücken und Flimmern” (Aufbruch und Grenzen) an, verweist also auf den Beginn des Buches “Kormčie zvezdy”.
Abschlussbemerkung
Die ausgewählten Gedichtbücher von Conrad Ferdinand Meyer, Stefan George und Vjačeslav Ivanov repräsentieren drei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Entwicklungsstadien einer bewusst nicht auf das Nationale beschränkten, europäisch orientierten Poesie: C.F. Meyers Lyrik, die in der definitiven Fassung von 1892 wegen ihrer auf die moderne Poesie vorausweisenden Konzentration, Verknappung und Andeutungstechnik hohe Anerkennung genießt, ist erkennbar aus dem lyrikgeschichtlichen Kontext der 2. Jahrhunderthälfte heraus entfaltet, aber so eigenartig fortentwickelt, dass dem Lyriker Meyer hie und da der Anfang des deutschen Symbolismus zugeschrieben wird. George, wie Valerij Brjusov frühzeitig von der modernen französischen Poesie beeindruckt (Baudelaire, Verlaine und Mallarmé, sicherlich auch von einem Dichter wie Jean Moréas), gehört mit seinen Zyklen der 1890er Jahre nach zentral- und osteuropäischen Begriffen zur frühen Phase des Symbolismus, weil hier Artistik und ins “Dekadente” übersteigerter Individualismus im Vordergrund stehen; später, ab dem “Siebenten Ring”, hat George die zyklische Form zum poetischen Ausdruck einer den Individualismus überwindenden Führer- und Gemeinschaftsideologie gemacht, die in die mittlere Phase des Symbolismus hineingehört und auch schon auf die Kollektivitätsutopien der Avantgarden vorausverweist. Diese post-individualistische Phase des Symbolismus repräsentiert in der vorliegenden Studie Vjačeslav Ivanovs erstes großes Gedichtbuch “Leitsterne” (1903). Hier macht sich die zyklische Form in ganz besonderer Weise zum poetischen Ausdruck einer Überwindung der Grenzen des engen Individuums, die zu gleicher Zeit die Begegnung mit dem Göttlichen und die Öffnung zur Liebe und zur geistigen Gemeinschaft mit den anderen Menschen ermöglicht.
In allen drei Zyklen sind auf je eigene Weise poetische Modellierungen eines Dichterlebens anzutreffen. Erstaunlicherweise zeitigt dies auf der Ebene der zyklischen Komposition bei C.F.Meyer die geringsten quasi-narrativen Elemente, bei George die vergleichsweise ausgeprägtesten, während Ivanov zwar in einzelnen Büchern und Partien seines Zyklus ausgesprochen episch werden kann, nicht aber im gleichen Maße auf der Ebene einer Verkettung aller ‚Bücher‘ seiner “Leitsterne”. Alle drei Zyklen arbeiten auf mehr oder weniger offenkundige Weise an der Formung des poetischen Subjekts und an einer Überwindung seiner engen Beschränkung auf das Individuum. C.F. Meyer inszeniert in seinem komponierten Gedichtbuch eine Auseinandersetzung zwischen individualistischer Ich-Dichtung und einer sogenannt objektiven Dichtung, die das Subjektive bald durch die Liebe, bald durch das Erleben der erhabenen Natur, durch die historische Kontextualisierung und durch die Kunstgestaltung überwindet und sich hierdurch unter anderem auch in einen – sehr angedeuteten – Bezug zu der Sprach-, Glaubens-, Traditions- und Kulturgemeinschaft setzt, der er gewissermaßen in konzentrischen Kreisen angehört. Stichworte sind hier das Schweizerische im Deutschen und über das Deutsche hinausstrebend, das Schweizerische und Deutsche im Europäischen, das Protestantische im allgemein Christlichen, der Mensch in der existenziellen Situation und in der Historie.
Georges “zyklisches Ich” sucht ebenfalls die Selbstformung durch die Kunstgestaltung. Es geht den Pilgerweg emotionaler Vereinsamung, die schließlich in die für andere und sich selbst tödliche Vereinsamung der absoluten Kunstfigur des Kaisers und Dichters Algabal führt – die zyklische Darstellung einer völligen Ausweglosigkeit dieses Weges lässt den Umschlag in eine andere, post-individualistische Konzeption bereits vorausahnen – trotz der verführerischen Schönheit der Produkte dieser Kunstexistenz. Ivanovs “zyklisches Ich” sucht die Selbstformung durch die Liebe und durch poetische Gestaltung, und zwar durch die poetische Partizipation an einer Geistgemeinschaft mit den anderen Menschen, die gewissermaßen alle Epochen und geographischen Räume Europas umfasst, vom Dionysos-Kult der vorklassischen Antike bis zum Christusglauben des zeitgenössischen Russlands und Italiens. Alle drei Zyklen partizipieren überdies bewusst an einer gesamteuropäischen Formtradition (wobei den beiden Deutschsprachigen jeder Sinn für den europäischen Osten abgeht) von der Antike bis in die literarische Gegenwart. Am tiefsten in die europäische Vergangenheit geht hier der Russe, er entfaltet auch das deutlichste poetische Zukunftskonzept. Kein anderer brachte es zuwege, wie Ivanov die griechische Tradition der Dithyramben in Verbindung mit Wagners Idee des Gesamtkunstwerks zu einer ganz beträchtlichen Erneuerung und Erweiterung des komponierten Gedichtbuches oder Zyklus auszunützen. Es wäre reizvoll, Gemeinschaftsutopien des Symbolismus und der frühen Avantgarden im Zusammenhang mit der zyklischen Form vergleichend zu untersuchen, darunter insbesondere die diametral verschiedenen Konzeptionen Vjačeslav Ivanovs und Georges, doch kann dies in der vorliegenden Skizze nicht geleistet werden.
[1] Zur Entstehungsgeschichte vgl. Brecht 1918, Henel 1954 und Hans Zeller in Meyer 1963-1996, Bd. II.
[2] Allerdings kannte Stefan George nachweislich die Lyrik C.F.Meyers; Ivanov, ein hervorragender Kenner deutscher Sprache und Poesie, kannte George ebenfalls nachweislich; es ist anzunehmen, dass er auch C.F.Meyer kannte.
[3] Zur Wirkung Nietzsches in der deutschen Lyrik s. Heselhaus 1962
[4] Zitate nach Meyer 1963-1996, Bd. I, Gedichttitel, Gedichtnummer in ().
[5] Henel 1954, 248 f. deutet die interessante Hypothese an, dass Meyer im “Vorsaal” mehr oder weniger bewusst unvollkommene Gedichte bzw. Gedichte, die das Unvollkommene thematisieren, versammelt.
[6] Bemerkenswert ist jedoch die “musikalische” Dreiergruppe aus “Pergoleses Ständchen” (211), “Auf Ponte Sisto” (212) und “Chor der Toten” (213), welche die vorletzte Abteilung “Genie” abschließt , aber zu Beginn der letzten Abteilung “Männer” sich sogleich fortsetzt in “Lutherlied” (214, auf “Ein feste Burg”) und in dem stark im Stil des Kirchenliedes gehaltenen “Hussens Kerker” (215) .
[7] Dieser Begriff stammt zwar von Wagner, aber er charakterisiert vorzüglich ein spätromantisches Element in Meyers Lyrik – vgl. “Vor der Ernte” (47): “An wolkenreinem Himmel geht / Die blanke Sichel schön, / Im Korne drunten wogt und weht / Und rauscht und wühlt der Föhn. // Sie wandert voller Melodie / Hochüber durch das Land. / Früh morgen schwingt die Schnittrin sie / Mit sonnenbrauner Hand.”
[8] Die Idee ist offenbar Meyers geistiges Eigentum; vgl. hierzu sowie zu den Anklängen an Michelangelos eigene Sonette Hans Zellers Kommentar in Meyer 1996, Band 5.1.,148; ausführlicher über Meyers Michelangelo-Verhältnis ebenda, 20 ff.
[9] Die Musen produzieren sich bei einem Fest (“Erst sang ein jedes Himmelskind / Im Tone, der ihm eigen, / Dann schritt der ganze Chor im Takt / Und trat den blühnden Reigen”), werden dann aber vom Despoten eingekerkert, weil sie nur aus eigenem Willen ihre Kunst ausüben wollen. Interessant ist ein sonst bei Meyer seltener Heine-Anklang zu Beginn des Gedichts: “Es herrscht’ ein König irgendwo / In Dazien oder Thrazien, / Den suchten einst die Musen heim, / Die Musen mit den Grazien”.
[10] Zitiert wird nach George 1983, mit Angabe des Gedichttitels oder Gedichtanfangs (kursiv), und der Seitenzahl.
[11] In der “Vorrede zur zweiten Ausgabe”, welche die erste öffentliche war, bestätigt der Autor den Zusammenhang der drei zuvor einzeln in Privatdrucken verbreiteten Zyklen, die: “Hymnen Pilgerfahrten und Algabal führen die reihe seiner veröffentlichungen” (George 1983, 8); vgl. hierzu auch Morwitz 1969, 7 ff.
[12] Georges Dreierzyklus unterscheidet sich in vielem von Meyers “Gedichten”: mit seinem sehr viel geringeren Umfang stellt er gewissermaßen eine Reduktionsstufe des ‘großen komponierten Gedichtbuches‘ dar. Vor allem aber sticht er durch die völlig andere ethische und poetische Gesinnung Georges von allem ab, was Meyer vertrat.
[13] Vgl. die Strophe “Die blicke mein so mich dem pfad entrafften / Auf weisser wange weisser schläfe sammt / Wie karg und scheu nur wagten sie zu haften – / Der antwort bar zur kehrung ja verdammt !” (“Von einer Begegnung”, S. 14)
[14] “Die lust enführt uns aus dem fahlen norden: / Wo deine lippen glühen fremde kelche blühen – / Und fliesst dein leib dahin wie blütenschnee / Dann rauschen alle stauden in akkorden / Und werden lorbeer tee und aloe” (“Strand”, S.19)
[15] Vgl. die spätantiken Vorlieben des Esseintes, des Helden von Joris-Karel Huysmans’ Roman “A rebours” (1884), dem das Algabal-Motiv entnommen sein könnte; David 1967, 77 verweist auf die Vorbilder Platen, Baudelaire, Mallarmé und Villiers de lIsle-Adam .
[16] In der Unterabteilung “Tage” ist das erste Gedicht “Wenn um der zinnen …” (S. 50) eine auktoriale retrospektive “Ballade” (“Der kaiser wich mit höhnender gebärde”); das zweite, gleichfalls auktoriale Gedicht “Gegen osten ragt der bau…” (S. 50) bezieht sich auf die Lebenszeit des Kaisers (“Nur sein mund gebete lallt”), das dritte ist Redetext des Kaisers (“O mutter meiner mutter und Erlauchte”, S. 51), ebenso das fünfte, das sechste, das achte sowie das neunte und letzte “Lärmen hör ich im schläfrigen frieden…” (S. 55), in dem phantastischerweise der Kaiser selbst sein Ende und die Erstürmung seines Palasts in dichterische Worte fasst.
[17] Das Initialgedicht von “Unterreich”, “ihr hallen prahlend in reichem gewande” (S. 47) ist ‘zu Lebzeiten‘ des Kaisers verfasst (“Der schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet / Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut”), so auch das zweite Gedicht “Der saal des gelben gleisses …” (S. 48); das dritte, “Daneben war der raum…”( S. 48) ist ‘nach seinem Tod‘ geschrieben (“Des kaisers finger war am tage rein / Wo tränend er sie vor das auge hielt”). Das letzte Gedicht “Mein garten…” (S.49) ist phantastischerweise durch die Ich-Form als Gedicht des Kaisers ausgezeichnet, jedoch durch die Präteritumsform der letzten Strophe als nach dem Tod des Kaisers entstanden charakterisiert: “Wie zeug ich dich aber im heiligtume / So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass / In kühnen gespinsten der sorge vergass – / Dunkle grosse schwarze blume?”
[18] Wie schon bei C.F.Meyer ist auch bei George die Rezeption der Poesie Goethes ein Problem, das aufzurollen Aufgabe eines kundigen Germanisten wäre.
[19] Aus den “Leitsternen” wird zitiert nach der Ausgabe Ivanov 1971-1987, Bd. I (Angabe des Titels, Seitenzahlen).
[20] “Sphinx” (”Sfinks”; 644-660), “Das Tor” (”Vrata” ; 662-667) und “Welten des Möglichen” (”Miry vozmozˇnogo”; 669-679)
[21] Aktuell waren sie dank Friedrich Nietzsche und dessen berühmter Abhandlung ”Die Entstehung der Tragödie aus dem Geist der Musik” geworden, aber auch durch Nietzsches eigene dithyrambischen Zarathustra-Lieder und Dionysos-Dithyramben.
[22] Vgl. u.a. Glatzer Rosenthal 1986, 20 ff. und Stammler 1986
[23] Zum Interesse der Symbolisten für Wagners Idee des Gesamtkunstwerks vgl. Hansen-Löve 1998, 32, Anm. 23; 142 f., Anm. 76. Nur in Ivanovs theoretischen Schriften, nicht aber in seiner Poesie verfolgt diese Idee Heller 1994; Ivanovs Auseinandersetzungen mit Wagner in seinen Reflexionen zur Tragödie geht Murašov 1999 nach. Wichtig sind hier Ivanovs eigene Schriften: «Primečanie o difirambe» in dem Gedichtbuch Prozračnost´ (1904; Ivanov 1971-1987, Bd. I, 816-819), «O Sµillere» (1905; Ivanov 1971-1987, Bd. IV, 168-180) sowie «Vagner i dionisovo dejstvo» (1905; Ivanov 1971-1987, Bd. II, 83-103). Malcovati 1986 erkennt die Wagnerinspiration überhaupt nicht, im Unterschied zu Stammler 1986 und Terras 1986. Holthusen 1982, 19 spricht als einer der ganz wenigen von einem Einfluss Wagnerscher Operntexte auf Ivanovs Poesie.
[24] ”Evia” bezeichnet Dionysos (abgeleitet von ”euaein”, dem Verbum, das das Frohlocken der Anhänger des Gottes bedeutet), es entspricht aber – in lateinischer Schrift – auch der neugriechischen Aussprache des Inselnamens Euboea.
[25] Für den Hinweis auf diesen Sachverhalt danke ich Jacques Schamp, Fribourg. Vgl. dazu Jacoby 1961, 65-121, sowie Holzberg 1990, 7 ff.