Zu Norwids Traktat «Das Schweigen»

Wiener Slawistischer Almanach

Rolf Fieguth

Im Schatten des Wortes. Zur Poetik des Schweigens bei Cyprian Norwid[1].

Cyprian Norwid (1821-1883), Dichter und bildender Künstler, war Jahrgangsgenosse von Dostoevskij und Baudelaire. Er hat die längste Zeit seines Lebens im Exil zugebracht, und zwar u.a. in Rom, wo er ohne weiteres hätte Gogol’ kennenlernen können und vielleicht sogar kennengelernt hat, später vor allem aber in Paris. Er ist in seinem Vaterland heute der berühmte Dichter des ungewöhnlich kraftvollen, profilierten, geradezu bildnerisch bearbeiteten Dichterwortes und zugleich des Schweigens und der Dunkelheit. „Im Schatten des Wortes“ paraphrasiert eine Stelle aus Norwids Vorlesungen „Über Juliusz Słowacki“[2]. Danach steht das zeitliche Wort des Dichters im Schatten des außerzeitlichen Logos; seine Dunkelheit in diesem Schatten ist ein Zeichen seiner Bindung an eine extraverbale Evidenz – und zugleich die Bedingung für die allmähliche Aufklärung dieser Evidenz. Nach der alten Denkfigur, die Aage Hansen-Löve uns in Erinnerung ruft und die auch Norwid als guten Kenner antiker Philosophie stark beschäftigt, umfasst das Sein das Nicht-Sein, aus dem es sich hervorhebt. Norwid verbindet diese Denkfigur mit seiner eigenen Idee von Ironie – „Ironie ist der notwendige Schatten des Seins“, heißt es in seinem Gedicht „XXXV. Ironia“:

Uczucie zwiedza bez ironii

Szlaki bite cudzym cierpieniem,

Lecz kto był pierwej tam, wie o niéj,

Że jest – koniecznm bytu cieniem.

(Norwid 1971, II, 54-55)[3]

Diese Ironievorstellung liegt Norwids These zugrunde, wonach Klarheit ohne Dunkelheit weder zu denken noch wahrzunehmen ist – andernfalls gerät sie zur inhaltslosen Leere. Es ist dabei zu beachten, dass die Dunkelheit nicht nur Bedingung für das Entstehen von Klarheit ist, sondern Klarheit und Dunkelheit auch als wechselseitige Wahrnehmungshintergründe dienen, sich gewissermaßen wechselseitig ironisieren. Man denke hier an den Streit zwischen Wurzel und Blüte in „XC. Zwei Knöpfe (hinten)“ –  „XC. Dwa guziki (z tyłu)”:

                             Dzikość bowiem stąd pochodzi,

Że jest się jednostronnym, jak kwiatów korzenie,

I że się przeciw-wrotnych połowic nie godzi.

Kwiat śpiewa: „Ja – do słońca prosto drgam!” – a korzeń:

Że kwiat mu jest korzeniem … że różność? – z położeń

Idzie, lecz nie z natury – i że on w ciemności,

Gdzie dąży? czując, kwiatów podeptał próżności!

(Norwid 1971, II, 126-127)[4]

Eben diese Ironievorstellung findet sich wieder in Norwids komplexer Konzeption des Verhältnisses von Reden und Schweigen, das er in vielen Verstexten und mehreren theoretischen Äußerungen charakterisiert hat, am Ende seines Lebens in dem berühmten Traktat „Das Schweigen“ – „Milczenie” ([1882]; Norwid 1971, VI, 221-248).

Am Anfang steht hier die Einsicht, dass Kraft, Farbe, Dynamik des Dichterworts zur Bedingung einen gegenteiligen Wahrnehmungshintergrund hat: das schwache, farblose, arme, „weiße“ Wort. Es ist eine spezifisch Norwidsche Idee, dass dieser Hintergrund auch zum Vordergrund werden, d.h. dass das „weiße Wort“ dominieren kann. Daraus ergibt sich eine ironische Dialektik von Verschwinden und Prägnanz, von Schwäche und Dynamik, die frühzeitig Norwidsche Dichtungen, aber auch die graphischen Werke des Künstlers Norwid prägt. Theoretisiert hat er diese Idee erstmals in der bewusst formlosen Aufzeichnung „Weiße Blumen“ („Białe kwiaty” (1857); Norwid 1971, VI, 187-200).

Ein weiterer Schritt ist die Einsicht, dass das Sprechen das Schweigen zu seiner Existenzbedingung und zu seinem Wahrnehmungshintergrund hat. Auch diese Idee ist bereits in den „Weißen Blumen“ präsent, erhält aber ihre endgültige theoretische Ausprägung in „Das Schweigen“. Das Schweigen wird hier in einer förmlichen transphrastischen Texttheorie explizit zum „Redeteil“ erhoben: ein erster Satz „verschweigt“ bzw. impliziert, was der nächste Satz expliziert – und so fort.

Lange vor der theoretischen Ausformulierung dieser Konzeption praktiziert der Dichter sie in seinen Versen, deren Typographie jeden Leser zunächst hochgradig befremdet. Die „Durchlöcherung“ der Verszeilen mit zahlreichen Verzögerungs- und Pausen-Signalen, die Binnensatzzeichen, Gedankenstriche, Kursive, Versalien, überreichlichen Sperrungen, Leerzeilen, und vieles andere mehr zeigen das Prinzip der Aposiopese und ihrer reichen tropischen Verwandtschaft an.

Indessen wird der vielfältige Bereich des Schweigens, namentlich das Extra-Verbale, Wortlose, wie bei diesem Dichter nicht anders zu erwarten, vom Hintergrund auch häufig zum Vordergrund. Wie das geschieht, und welche Motive und Verfahren dazu eingesetzt werden, soll im Folgenden illustriert werden. Ein vorzügliches Beispiel ist das Gedicht „XV. Sphinx“ aus dem Zyklus „Vade-mecum“ [1865]:

Zastąpił mi raz Sfinks u ciemnej skały,

Gdzie jak zbójca, celnik lub człowiek biedny,

„Prawd!” – wołając, wciąż prawd zgłodniały,

Nie dawa gościom tchu.

                        *

– „Człowiek? … jest to kapłan bezwiedny

I niedojrzały…” –

Odpowiedziałem mu.

                         *

Alić – o! dziwy …

Sfinks się cofnął grzbietem do skały:

– Przemknąłem żywy!

(Norwid 1971, II, S. 33)[5]

Die Diegese des Gedichts erinnert an den Mythos des Ödipus, der auf dem Weg nach Theben das berühmte Rätsel der Sphinx zu lösen weiß – und sie damit besiegen kann. Bei Norwid tritt die Sphinx als eine Art Wegelagerer auf, der dem anonymen Menschen in den Weg tritt und ihm fertige Wahrheiten abpressen will (man möchte fast an das Publikum des Dichters denken). Der Mensch verblüfft dann die Sphinx durch eine Wahrheitsformel, die zugleich ein Rätsel ist – und er kommt „heil durch“. Die Formel lautet: „Der Mensch? … ist ein Priester, unwissend / Und unreif…“. Das polnische „niedojrzały“ („unreif“) kann aber aus der Sicht des Hobby-Etymologen Norwid durchaus auch die Bedeutung „sehbehindert“ oder „kurzsichtig“ verbergen oder verschweigen[6] – und diese menschliche Kurzsichtigkeit ist ein weiterer Verweis auf die Dunkelheit.

Der Mensch kann also ahnen, aber nicht wissen und sehen, dass er ein Träger und vielleicht sogar Botschafter des Göttlichen ist. In Norwids Verständnis ist es die eigentliche Aufgabe von Kunst und Poesie, eine Ahnung dieses Sachverhalts herzustellen. Er vollzieht also letztlich keine „Ausklammerung oder Ersetzung des kataphatisch-positiven Pols durch den negativen“ (Aage Hansen-Löve), son­dern spart allenfalls beredt den positiven Pol aus, der als Ziel bestehen bleibt.

In einem anderen Gedicht desselben Zyklus wird eine Art Variante des Sphinx-Gedichts geboten; sein Titel lautet „XXX. Fatum“:

                          I

Jak dziki zwierz przyszło Nieszczęście do człowieka

I zatopiło weń fatalne oczy …

– Czeka – –

Czy, człowiek, zboczy?

                               II

Lecz on odejrzał mu, jak gdy artysta

Mierzy swojego kształt modelu;

I spostrzegło, że on patrzy – co? skorzysta

Na swym nieprzyjacielu:

I zachwiało się całą postaci wagą

– – I nie ma go!

(Norwid 1971, II, 49)[7]

Dem Menschen begegnet hier das Unglück wie ein wildes Tier im Hohlweg und richtet seine „fatalen Augen“ auf ihn: „ – Czeka – – / Czy, człowiek, zboczy” – man beachte die unübersetzbare Lautinstrumentierung einschließlich der durch Pausen ‘zerhackten’ Verszeile. Das Unglück schaut den Menschen an und wartet, ob er, schwacher Mensch, der er ist, ausweichen wird. „Er aber erwidert den Blick, so wie der Künstler / Das Maß seines Modells nimmt; / Und es merkte, er schaut – was? er gewönne / An seinem Feind: / Da erbebt es in ganzer gewichtiger Gestalt / – – Und fort ist es“. Die hier dargestellte Szene vollzieht sich völlig wortlos, lediglich mit Gesten und Blicken; Norwids Poetik des Schweigens lässt sich daran gut ablesen.

Das Gedicht „XCIX. Chopins Fortepiano“ (Norwid 1971, II, S. 143-147) ist ein Beispiel für zwei weitere interessante Verfahren des Schweigens: (a) für die gleichsam wortlose kompositorische Geste der Hervorhebung des Gedichts im Zyklus „Vade-mecum“, und damit verbunden (b) für den abrupten Wechsel vom verbalen poetischen Diskurs zum akustischen Effekt.

Die kompositorische Geste besteht erstens darin, dass „Chopins Fortepiano“ in der ursprünglichen Fassung des Zyklus das Format der zyklischen Komposition sprengt: es übertrifft in Umfang und Volumen alle vorgegangenen 98 Gedichte, und auch das Schlussgedicht 100. Zweitens folgt es auf zwei explizite Finalgedichte: „XCVII. Finis“, und „XCVIII. Kritik“ (Norwid 1971, II, 139-142) – letzteres eine Parodie auf die mutmaßliche Gazetten-Kritik, die der Zyklus erfahren wird, zugleich aber auch ein Hinweis auf das Selbstverständnis des ganzen Zyklus als einer Poesie in kritischem Augenblick. „XCIX. Chopins Fortepiano“ steht also zusammen mit Gedicht „C. Auf den Hinschied von Józef Z. sel.“ (ibidem, S. 148-149) außerhalb der Kritik und Selbstkritik. Nebenbei bemerkt gibt es in der Geschichte der Gedichtzyklen durchaus eine längere Tradition ähnlicher kompositorischer Gesten, und Norwid macht bereits im Zyklus „Psalmów-psalm“ (Norwid 1971, III, S. 395-419) davon Gebrauch.

In unserem Fall verschärft die wortlose kompositorische Geste den abrupten Wechsel vom verbalen Diskurs zum akustischen Effekt. Die Musik des verstor­benen Komponisten Chopin wird durch subtile onomatopoetische Laut- und Rhythmuseffekte evoziert:

Byłem u Ciebie w te dni, Fryderyku!

Którego ręka… dla swojej białości

Alabastrowej – i wzięcia – i szyku –

I chwiejnych dotknięć jak strusiowe pióro –

Mięszała mi się w oczach z klawiaturą

Z słoniowej kości…

I byłeś jako owa postać, którą

Z marmurów łona,

Niźli je kuto,

Odejma dłuto

Geniuszu – wiecznego Pigmaliona!

(Norwid 1971, II, 144)[8]

Der Dichter resümiert: „I była w tym Polska, od zenitu / Wszechdoskonałości dziejów / Wzięta, tęczą zachwytu – –“ (ibidem; „Und war darin Polen, dem Ze­nith der / All-Vollkommenheit der Geschichte / entnommen, / Entzückens Re­genbogen –  – “). Chopins Musik erbringt nach dieser poetischen Konzeption die Vervollkommnung des polnischen Volksliedes (pieśń ludowa) zur mensch­heitlichen Harmonie (harmonia ludzkościowa) am Ende der Mensch­heits­ge­schichte – wobei die musikalische Allvollkommenheit den verbalen Text des Volkslieds verschlungen hat. Kunst höchsten Ranges kann also im Sinn dieses Dichters jederzeit die Hülle der menschlichen Zeit durchstoßen und zur meta­physischen Allvollkommenheit, zur göttlichen Nicht-Zeit vorstoßen. Aber nur für einen Moment – denn in unserer Zeit zerstört Harmonie sogleich sich selbst: russische Kosaken werfen 1863 zu Beginn des Warschauer Januaraufstandes Chopins Fortepiano aus dem Zamoyski-Palais auf das Warschauer Straßenpfla­ster. Ich beschränke mich hier auf die bloße Erwähnung von Norwids Versinn­bildlichung des akustischen Kakophonieeffekts, der daraus entsteht und den der Dichter mit dem Kreischen der Mänaden bei der Ermordung des Orpheus ver­bindet. Das Warschauer Straßenpflaster, auf dem Chopins Fortepiano auf­schlägt, gerät jedenfalls zum brutalen Resonanzboden einer Art von Musik der Geschichte. Höchstwahrscheinlich ist hier auch an die Kakophonie des Satans gedacht. 

Eine Fundgrube für Motive und Verfahren einer Poetik des Schweigens ist die Verserzählung „Quidam“[9] (1863), die im hadrianischen Rom zur Zeit des jüdischen Bar-Kochba-Aufstandes (132-135 p.C.n.) spielt. Ein junger Epirot, der Dichter und Denker Alexander, sucht im großen Rom nach Wahrheit und Erkenntnis. Der epische Erzähler lässt seinen Helden nur recht selten zum expli­ziten Sprechen in direkter mündlicher Rede kommen. Statt dessen präsentiert er ausführlich dessen innere Gedankenrede mit den Mitteln des inneren Monologs und der erlebten Rede, gemischt mit eigenen Kommentaren aus der Perspektive der Moderne des 19. Jahrhunderts.

Aus diesem Bereich hebe ich hier nur das Motiv von Alexanders Manuskript­rollen hervor. Unvermittelt lässt nämlich der Erzähler auch Fragmente aus Alexanders Manuskriptrollen sprechen, verschriftlichte Gedankenrede des Hel­den, die dann in milder Phantastik zeitweilig den übergeordneten Erzählerkom­mentar ersetzen.

Gesten und Tableaus können die explizite Rede bald begleiten, bald ersetzen. In seinen „Weißen Blumen“,entstanden um dieselbe Zeit wie „Quidam“, geht Norwid so weit, wortlose Gesten und Tableaus im Drama als Übergang zur mo­numentalen Skulptur zu bezeichnen („Białe kwiaty” (1857); Norwid 1971, VI, 190-191).

Gesten sind oft individuelle Körpersprache, aber nicht selten kommen auch kollektive Gesten oder Gestikulationen vor. Eine solche erlebt Alexander in der Begegnung mit der Gruppe nackter hungernder christlicher Glaubenszeugen, die sich einer militärischen Willkürjustiz ausgesetzt sehen, aber auch im nächtlichen Marschtritt der römischen Legionen, die im Moment der politischen Krise we­gen des jüdischen Aufstandes in die Stadt einrücken.

Einer speziellen kollektiven Gestikulation begegnet Alexander in der hoch angesehenen Philosophenschule des (fiktiven) Artemidoros von Korinth. Das nächtliche philosophische Symposion in dessen Haus erlebt er durch den Schleier seiner Faszination für die schöne griechische Poetessa Sophia von Kni­dos als kollektive Gestikulation der Tonfälle, als kollektive philosophische Ek­stase mit geröteten Augen – ohne konkreten klaren oder ernsten Gedanken. Ar­temidoros’ Schule wird denn später auch als „Philosophie der solidarischen Leere“ apostrophiert. Der Mann ist ein Verschnitt aus trivialisiertem Pythagoras und Platon. Die Rolle des Sokrates, des provozierenden Andeuters und Schwei­gers, spielt übrigens Artemidors komplizierter jüdischer Freund Jazon – aber das ist ein weites Feld, das wir hier nicht betreten.

Eine kollektive Gestikulation kennzeichnet auch den dramatischen Höhe­punkt der Erzählung. Eine rätselhafte religiöse Schar sät schreckensvollen Tu­mult auf dem römischen Vieh-, Gemüse- und Blumenmarkt. Ein Bewaffneter tötet Alexander durch einen Beilwurf – und Alexanders Blut spritzt aus der Halsschlagader auf die Umstehenden und die Blumen. Das spritzende Blut ist Alexanders intensivste explizite Äußerung. Er stirbt im Bewusstsein der Sinnlo­sigkeit seiner Existenz und seines Todes – ohne zu ahnen, dass er hier ein Evan­gelienwort realisiert: „sein Blut komme über uns“ (Mt 27,25). Gerade in diesem irrigen Bewusstsein erweist sich aber nach der Logik dieser Dichtung auch Alexanders Eigenschaft als „Priester, unbewusst und unreif“, denn die vom Er­zähler geschaffenen Umstände nähern ihn schon längst dem Christentum an.

Alexanders einsamer Leiche widmet Norwid eines seiner irritierendsten wortlosen Tableaus, das hier wie eine Filmsequenz wirkt: die Abendsonne hüllt den Toten in roten Schein, Frauen suchen sich die am wenigsten blutbespritzten Blumen vom Körper des Ermordeten, und Hunde beschnüffeln das Blut.

Eine skulpturartige Geste bildet das Finale von „Quidam“: der junge Jude Barchob ist im Begriff, die Pritsche mit der Leiche des alten Rabbi Jazon mit der linken Hand in eine Öffnung im schwarzen römischen Tuffstein zu schieben – und reckt die rechte Hand wortlos gen Himmel, als wollte er zwei vorbeirei­tende Römer zur Teilnahme am Begräbnis des Alten auffordern. Diese Geste deutet sehr paradoxerweise das Zeichen des christlichen Kreuzes an. Auch der Jude Barchob ist nach dem Sinn dieser Erzählung ein Priester, unbewusst und unreif. –

Es gibt Stellen und Werke in Norwids Oeuvre, bei denen auch der Gutwillig­ste unsicher ist: Überschreitet der Dichter hier in vollem Bewusstsein die Gren­zen des guten Geschmacks (was er nachweislich öfter tut), oder verfällt er un­freiwillig einem aus dem Barock stammenden süßlichen katholischen Kunst­kitsch, der bei ungetauften Ungläubigen oder Häretikern, Protestanten oder ge­bildeten Russisch-Orthodoxen heftige Abscheu hervorruft. Assunta heißt auf­reizenderweise die junge, schöne, aber elternlose und noch dazu stumme Gärt­nerin und Titelheldin des Poems „Assunta (czyli spojrzenie)“ ([nach 1869]; „Assunta (oder der Blick)“; Norwid 1971, III, S. 261-297), das wir hier noch besprechen wollen. Der Leser merkt erst sehr spät, dass dieser Name wörtlich als „die in den Himmel Genommene“ zu verstehen ist: wir haben es mit einem eigenartigen Nekrolog auf eine Tote zu tun, der in Form der rückblickenden Entwicklung einer mehr oder weniger mystischen Liebes- und Ehegeschichte dargeboten wird. Der junge anonyme Mann dazu – zugleich der homodiegeti­sche Erzähler – ist ein Sinnsucher, Dichter, Maler und Wanderer, eine leicht überkandidelte Figur und damit auch ein sanft autoironisches Selbstporträt des Dichters aus Jugendzeiten. Die Ehe stiftet im Sterben der Großvater und Vor­mund des stummen Mädchens. Während der Trauerfeier richtet die Leidtra­gende den tränenden Blick gen Himmel, was ihren Verlobten außerordentlich stark beeindruckt. Er interpretiert diesen Blick als Assuntas unio mystica mit dem Herrn und vergleicht ihre „leidenstrunkenen“ Augäpfel mit zwei Weinbee­ren für den Leidenskelch Christi. Sogleich entwirft er während der Trauerzere­monie in Gedanken eine Kunstgeschichte des Himmelsblicks – und ein betref­fender Kurztraktat in Prosa sollte als Fußnote unbedingt unter den poetischen Text gesetzt werden, denn Norwid war sehr stolz auf seine wahre oder ver­meintliche kunstgeschichtliche Entdeckung (die Herausgeber bevorzugen aller­dings von jeher den Abdruck im Anhang).

Anders als der faszinierte junge Liebende denkt der ungläubige Leser und Kenner von Norwids sonstigem Ironiepotenzial  in diesem Augenblick vielleicht auch an ein Gran Eheskepsis der leidtragenden Braut, sowie an die Basedow-Krankheit mit den hervortretenden Augäpfeln im Zusammenhang mit gefährli­cher Störung der Schilddrüsenfunktion. Schließlich verdirbt und stirbt ja die stumme junge Frau nach kurzer Ehe.

Die Liebe des jungen Dichters zur stummen Assunta war von Anfang an mit neuen poetischen Aufschwüngen verbunden gewesen – er wollte gegen den lauten Literaturbetrieb des Romans ankämpfen, er wollte eine ganz innere Poesie in Verbindung mit der unhörbaren Sprache der Gegenstände und Blumen entwerfen, er kommunizierte in innerer Sprache mit seiner stummen Gefährtin – und nun, nach dem Tod der Geliebten, sammelt er für seine stumme Poesie in Erinnerung die Gesten Assuntas, die er poetisch nachstellt, einschließlich ihres seinerzeitigen Blicks gen Himmel. Diese Poesie der Wortlosigkeit, nach dem Tod der Poesie, hat ein eigenes Agressionspotenzial – sowohl gegen den Literaturbetrieb der 1870er Jahre, als auch gegen den Himmel. Nahezu wörtlich paraphrasiert besagt die vorletzte Strophe des Finales: ‚Nicht aus euren Kontroversen um Gefühl oder Verstand, um verneintes Gefühl oder verneinten Verstand, um die Negation als Bedingung für die Inspiration beziehe ich meine eigenen einsamen Inspirationen, sondern aus meinem konfliktreichen Bezug zum Himmel’ (Assunta IV, v. 147-153). Die letzten Zeilen der finalen Strophe lauten: „Pomnąc, że gdzie są bezmowne cierpienia, / Są wniebogłosy … – bo są przemilczenia…” (Assunta IV, v. 159-160; „Bedenkend, wo wortlose Leiden sind, / Da sind auch Schreie gen Himmel … denn es gibt Verschweigungen“). Das ist der Zorn des geprüften Hiob auf den Herrn – und wird zur verschwiegenen Quelle wortloser poetischer Inspiration.

Dem sei noch hinzugefügt, dass Norwid offenbar in demselben Arbeitsgang als Nekrolog auf eine enge Freundin ein Gedicht mit dem Titel „Na zgon poezji. Elegia“ ([1870]; „Auf den Tod der Poesie. Elegie“; Norwid 1971, II, 200-201) geschrieben hat. Hier verzichtet er auf das Dichteramt und will nur noch als Wächter sorgen, dass die Feinde der Poesie ihr Grab in der „geräumigen Kirche des Schweigens“ nicht mit ihren Füßen betrampeln.

Er hat dann allerdings noch manches Weitere gedichtet.


[1]   Überarbeitete Version des gleichnamigen Vortrags auf der Münchener Apophatik-Konferenz. Zitiert wird ausschließlich aus der Gesamtausgabe C. Norwid, Pisma wszystkie. Wyd. J.W. Gomulicki, tt. I-XI, Warszawa 1971-1978 (Norwid 1971, Bandnummer, Seiten). Jahreszahlen in () nach Werktiteln Norwids verweisen auf die Erstpublikation, in [] auf das (vermutliche) Entstehungsjahr. Norwid-Zitate entsprechen in Interpunktion und Typographie der Vorlage. Die deutschen Übersetzungen stammen vom Verf. – R.F.

[2]   „O Juliuszu Słowackim” (1860); Norwid 1971, VI, 405-464. Die Stelle lautet: „Ale ja odpowiem, że czytanie autora zależy na wyczytaniu zeń tego, co on tworzył, więcej tym, co pracą wieków na tym urosło. Jest to cień, który z łona najnieskończeńszej  wyższej prawdy upada na literatury papier, i świadczy albowiem, że poza słowami naszymi jest jeszcze żywot Słowa!“ – „Aber ich antworte darauf, dass das Lesen eines Autors darauf beruht, aus ihm herauszulesen, was er [selbst] zu schaffen versuchte, samt dem, was durch die Arbeiten der Jahrhunderte darauf erwachsen ist. Es ist dies der Schatten, der aus dem Inneren der allerunendlichsten höheren Wahrheit auf das Papier der Literatur fällt und davon zeugt, dass es außerhalb unserer Worte noch das Leben des Wortes gibt!“ (ibidem, S. 428).

[3]   „Gefühl besucht ohne Ironie / Wege, die fremdes Leiden gebahnt, / Doch wer dort eher war, weiß von ihr, / Dass sie – der notwendige Schatten des Seins ist.“

[4]   „Die Wildheit rührt nämlich daher, / Dass man einseitig ist, wie die Wurzel der Blüten, / Und die wider-läufigen Hälften nicht versöhnt. / Die Blüte singt: „Ich – zittere direkt der Sonne entgegen!“ – und die Wurzel: / Dass die Blüte ihre Wurzel ist… dass der Unterschied? – von den Situationen / Kommt, nicht aus der Natur – und dass sie in der Dunkelheit / Fühlt, wo sie hinstrebt? und ihr der Hochmut der Blüten egal ist!“

[5]   Einst vertrat mir die Sphinx den Weg an dunklem Fels, / Wo sie wie ein Räuber, Zöllner oder armer Mensch, / „Wahrheiten her!“ – ruft, und stets wahrheitshungrig / Den Gästen keine Ruhe lässt. // – „Der Mensch? … ist ein Priester, unwissend / Und unreif [kurzsichtig] …“ – / Gab ich zur Antwort. // Jedoch – oh! Wunder … / Die Sphinx zog sich zum Fels zurück: / – Heil kam ich durch.“

[6]   Das in „niedojrzały” enthaltene Simplex „źrzeć“ kann „reifen“ (źrzeję) oder „sehen“ (źrzę) bedeuten.

[7]   „Wie ein wildes Tier kam das Unglück zum Menschen / Und versenkt in ihm fatale Augen …/ – Wartet – – / Ob er, Mensch, weiche? // Doch er erwidert den Blick, wie ein Künstler / Maß nimmt an seinem Modell; / Und es merkt, er schaut – was? er gewönne / An seinem Feind: / Und es erbebt in ganzer gewichtiger Gestalt / – – Und fort ist’s.“

[8]   „Nah war ich dir jener Zeit, Frédéric! / Und deine Hand hat… in ihrem so weißen  / All-alabasternen – Greifen – und Walten – / Mit wehendem Anschlag wie Straußenfedern  / Meinen Augen der Klaviatur sich vermischt,  / Der elfenbeinernen…  / Und du glichst jener Statue, die  / Aus Marmors Schoß, / Eh’ sie gehauen, / Herausnimmt der Meißel / Pygmalions – des ewigen Genius!“

[9]   „Quidam“, lat. „Irgendwer“, ist vornehmlich Deckname zweier christlicher Glaubenszeugen und wird einmal „versehentlich“ auf den epirotischen Helden der Erzählung angewandt.