Rolf Fieguth
Werder-Impressionen 2016[1]
Notizen von einer Reise mit Nachkommen von Agathe und Peter Wiebe
Seit Ende August 2016 befinde ich mich in einer seltsamen Gemütsverfassung, deren tieferer Grund – neben einer schweren Sommergrippe – meine Reise mit einer internationalen Gruppe von Verwandten durch die Werder-Gegend war, eine meiner möglichen Heimatregionen, von denen keine die richtige ist. Für einen echten Deutschen ist das eine Katastrophe, denn normalerweise hat man einen Ort, an dem man sich zu Hause fühlt, wo die ungeliebte Familie sitzt und man den regionalen Dialekt spricht – wobei man alles tut, um den Akzent zu verlieren und Begegnungen mit langweiligen Onkeln und Tanten zu vermeiden. Nach meinem ersten und vermeintlich letzten Besuch 1969 wollte ich nie wieder dorthin – ins Werderland. Ach was, jetzt denke ich jeden Tag fast nur noch daran.
Wir starteten am 25. August mit einem Minibus in Berlin und verließen Westpreußen am 30. August. Wir waren eine Gruppe von Nachkommen von Agathe Wiebe, geb. 1840 in Herrenhagen/Pielica bei Lasowice Wielkie/ Groß Lesewitz, gest. 1922 in Ließau/Lisewo, und Peter Wiebe, geb. 1825 in Ladekopp/Lubieszewo, gest. 1899. Übrigens wurde am Tag seiner Beerdigung in Irrgang/Martąg am 26.2.1899 dort sein Enkel und mein Vater Hans-Otto Fieguth geboren, Autor zweier schwer lesbarer genealogischer Werke, darunter die „Grüne Bibel” über die Familie Wiebe aus Westpreußen[1]. Wir sind die Urenkel bzw. Ururenkel von Agathe und Peter. Während der Reise sprachen wir hauptsächlich Englisch, da zwei Personen kein Deutsch konnten und zwei andere Personen die Sprache Shakespeares bevorzugten. Der einzige in Deutschland lebende Deutsche war André Dieball. Polnisch konnte nur ich.
Am stärksten vertreten war die Nachkommen des dritten Kindes von Agathe und Peter – Otto Wiebe (geb. 1874 in Ladekopp/Lubieszewo; gest. 1932 in Groß Ottlau/Otłowiec nach dem Ruin seines Hofes durch Selbstmord, um seiner Witwe die Lebensversicherung zu sichern) und seiner Frau Irmgard, geb. Behrends (geb. 1886 in Marienburg/Malbork, gest. 1941 in Altmünsterberg/Stara Kościelnica). Es waren: ihr Enkel Henry/Heiner aus Kanada, unser Senior, mit seiner stets zum Lachen neigenden Tochter Kristen, und seine Schwester Ellen aus Paris mit ihren beiden französischen Söhnen (Jérôme und Jean-Pierre). Henry erinnert sich aus seiner frühen Kindheit an die Gestalt seiner in Altmünsterberg verstorbenen Großmutter Irmgard.
Nach dem Tod von Heiners und Ellens Großvater Otto, dem Lieblingsonkel meines Vaters, zog die Witwe Irmgard mit ihren beiden Söhnen (Peter und Fritz) auf den nach 1932 neu erworbenen (oder gepachteten) Hof in Altmünsterberg, dessen Chef ihr jüngerer Sohn Peter Wiebe wurde (geb. 1919 in Gross Bandtken/Bądki bei Marienwerder/Kwidzyn; gefallen 1942 in Stalingrad). Ihr älterer Sohn war der Nichtsnutz und Radikalnazi Fritz Wiebe (geb. 1907 in Gross Bandtken/Bądki, gest. 1934 bei Gnojau/Gnojewo infolge eines von ihm unter Alkoholeinfluss verursachten Lkw-Unfalls). Sein Rang als Sturmführer ist auf seinem Grabstein verzeichnet, der ironischerweise auf dem ehemaligen Mennonitenfriedhof in Heubuden/Stogi erhalten geblieben ist. Es ist das einzige Grab eines Nachkommen von Peter und Agathe Wiebe, das wir auf dieser Reise gefunden haben.
Organisator, Leiter und Fahrer unserer Reise war André Dieball, Urenkel von Hermann Wiebe (geb. 1869 in Ladekopp/Lubieszewo, gest. 1956 in Isernhagen bei Hannover), dem zweiten Kind von Agathe und Peter.
Ich bin der Enkel sowohl des fünften als auch des siebten Kindes von Agathe und Peter. Ihr siebtes Kind war meine Großmutter mütterlicherseits Helene (geb. 1876 in Ladekopp/Lubieszewo, gest. 1926 in Berlin; heiratete 1898 Johannes Fieguth). Ihr fünftes Kind war mein Großvater mütterlicherseits Johann Wiebe (geb. 1873 in Ladekopp/Lubieszewo, gest. 1924 in Marienburg/ Malbork), eine interessante Persönlichkeit, da er im Handel und in der Gastronomie Karriere machte und viele Jahre lang das Marienburger Hotel „Zum Weissen Lamm” besaß. Im Gegensatz zu anderen Mennoniten aus der Weichselniederung war er Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (liberal – vergleichbar mit der heutigen FDP) und Stadtrat in Marienburg, zuständig für die Kontrolle des städtischen Landbesitzes und die Verwaltung der Burg Marienburg. Nach den Erzählungen seiner Tochter Annemarie, meiner Mutter (geb. 1905 in Marienburg, gest. 1986 in Oldenburg), engagierte er sich gerne mit Temperament und Humor in lautstarken politischen Auseinandersetzungen im Stadtrat. Angeblich nahm er nach 1918 auch Kontakt zu einem katholischen Kantor in Marienburg auf, um Polnisch zu lernen – aber wahrscheinlich blieb es nur bei dieser edlen Idee. Przemek Siwicki – unser unersetzlicher junger Reiseführer, Kenner aller Dinge, die mit den Mennoniten zu tun haben, und engagierter Patriot von Tiegenhof/Nowy Dwór Gdański – berichtete mir, dass das Gebäude des ehemaligen Hotels „Weisses Lamm” abgerissen worden sei und dass der Grabstein meines mennonitischen Großvaters auf dem Friedhof der ehemaligen lutherischen St.-Georgs-Kirche, der 1969 noch an seinem Platz stand, gestohlen und zu einem Grabstein für einen polnischen Verstorbenen umgebaut worden sei, wobei der Täter angeblich vor Gericht gestellt wurde. Zu meiner Enttäuschung hatte unsere Gruppe nicht mehr die Kraft, nach Gross Ottlau/Otłowiec zu fahren, dem Dorf von Hans-Ottos Lieblingsonkels (Otto Wiebe).
Weder meine Eltern noch die meisten Verwandten ihrer Generation hatten sich nach dem Krieg zu einer Reise in das polnische Werdergebiet entschlossen – in unserer Gruppe war ich der Einzige, der zuvor in Polen (und im Werder) gewesen war.
Meine Eltern: Hans-Otto Fieguth und Annemarie, geborene Wiebe, Cousin und Cousine ersten Grades, heirateten 1924 und ließen sich in Berlin nieder, wo mein Vater als Ingenieur bei Siemens arbeitete. Dort wurde ich 1941 als jüngstes von vier Kindern geboren. Mein Vater verteidigte in den letzten Monaten des Krieges in einer Stimmung von Götterdämmerung[2] und auf der Suche nach dem Tod Berlin in den Reihen des Volkssturms und begab sich am 8. Mai 1945 quasi freiwillig in sowjetische Kriegsgefangenschaft; Ende 1949 kehrte er aus der sowjetischen Estland zurück. Meine Mutter teilte mit drei ihrer vier Kinder (darunter ich) das Schicksal der vielen Flüchtlinge; ab Februar 1945 lebten wir bei nicht sehr freundlichen Menschen in der Kleinstadt Brake an der Unterweser (nördlich von Bremen), bis wir 1951 in die kleine nordbayerische Stadt Erlangen (20 km nördlich von Nürnberg) kamen, die uns völlig fremd war. Dort herrschte das Wirtschaftswunder und eine künstliche Nachkriegsnormalität, ein traumatischer und nicht immer fröhlicher Wohlstand. Von 1961 bis 1967 studierte ich in West-Berlin (das noch voller Trümmer war) Slawistik, Osteuropäische Geschichte und ein wenig Germanistik (seit 1962 lerne ich Polnisch). Über meine spätere Karriere als Slawist und Polonist muss ich hier nicht näher eingehen, nur dass ich unter anderem Werke von C. Norwid („Vade-mecum”) und W. Gombrowicz („Trans-Atlantyk” und „Ślub”) ins Deutsche übersetzt habe.
Was suchte ich, als ich mit der genannten Gruppe nach Westpreußen fuhr? Zwei Dinge, wie mir während der Reise am wichtigsten erschienen: den Schatten eines fröhlichen und lebhaften Mädchens, das meine Mutter während ihrer Kindheit in Marienburg war – in den Jahren des Nachkriegswohlstands war Annemarie eine strenge und oft depressive Frau. Unter ihren Freundinnen in Marienburg war sie „Mia” oder sogar „Mischa” (wahrscheinlich Misia – woher diese Form im urdeutschen Marienburg?). Und zweitens: Ich suchte Ottlau, den Glücksort meines Vaters Hans-Otto, eines äußerst ernsthaften Mannes nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Natürlich fand ich weder die Stellen in Marienburg, an denen Mia wahrscheinlich herumgetobt war, noch Ottlau, das Paradies des jungen Hans-Otto. Ich habe auch nicht versucht, noch einmal nach Rudnerweide/Rudniki bei Rejów/Rehof zu fahren, wo meine Mutter mit ihren beiden jüngeren Söhnen, darunter ich, wegen der Bombardierung Berlins fast ein Jahr (1943/44) verbracht hatte. Wir waren Gäste bei Tante Gretel (Margarete) Tghart [Aussprache: Tjart] geb. Suckau (geb. 1913 in Schulwiese/Jarzębina bei Marienwerder/Kwidzyn, vor vielen Jahren verstorben). Tante Gretel, eine gute Mennonitin wie alle Verwandten, war die Witwe von Otto Tgahrt, dem Sohn von Marie, dem ersten Kind von Agathe und Peter. Laut ihrer Tochter Elisabeth zählte sie zu ihren mennonitischen (!) Vorfahren die Familien Leschinski, Saleski und Sawatzki[3]. Meine ersten Erinnerungen an Rudnerweidei reichen bis in den Sommer 1944 zurück, als ich noch keine drei Jahre alt war. Ich war 1969 wieder dort und erkannte damals das Gutshaus und das Wohnhaus wieder. Die polnischen Bewohner des Hauses sprachen damals nicht ohne Sympathie von meiner Tante Gretel Tgahrt: „Czartowa“ (Teufelin); sie wurde 1947 mit ihren drei Kindern aus Polen ausgesiedelt.
Dafür bin ich auf meiner letzten Reise zum ersten Mal in meinem Leben ernsthafter mit den heutigen Bewohnern des Werderlandes in Kontakt gekommen. Ich war übrigens nach mehreren früheren Aufenthalten in Danzig seit 1986, insbesondere nach drei Monaten, die ich im Herbst 2014 dort verbracht hatte, schon ein wenig darauf vorbereitet. Es war erfreulich festzustellen, dass die frühere kommunistische Tabuisierung der deutschen Traditionen dieser Stadt, die bis heute die zwei Kreuze des Deutschen Ordens und die Krone des polnischen Königs in ihrem Wappen trägt, überwunden ist. Ich möchte hier nur die deutschen Motive in den Romanen von Stefan Chwin und Paweł Huelle sowie die große Steintafel im Foyer des Wybrzeże-Theaters erwähnen, auf der alle Direktoren des Danziger Stadttheaters seit 1820 oder 1830 aufgeführt sind, und an die Inschrift „Johanna Henriette Schopenhauer” auf einer der neuesten Danziger Straßenbahnen. Auch Spuren der Kaschuben sind in Danzig sichtbar. Paweł Huelle erklärte mir, dass sich die sehr gemischte Einwandererbevölkerung in Anlehnung an die älteren Traditionen der Stadt langsam eine regionale Identität aufbaut.
Wir haben gesehen, dass eine Gruppe polnischer Enthusiasten der mennonitischen Vergangenheit im Werder in einem ähnlichen Geist handelt, die bewusst darauf Bezug nehmen, um sich ein regionales Bewusstsein aufzubauen – natürlich hundertprozentig polnisch. Ich habe verstanden, dass die Mennoniten, die zum großen Teil aus den Niederlanden stammen, in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen; sie sind – um Gombrowicz zu paraphrasieren – quasi die erlaubten Deutschen. Glaubt man an Holländer, dann ist es einfacher, ihre Friedhöfe, Vorlaubenhäuser und Traditionen zu verehren, wobei es keine Rolle spielt, dass die niederländische Sprache in den noch vorhandenen Relikten dieser Tradition im Werder völlig fehlt[4]. Mit Bewunderung besuchten wir das Werder-Museum in Tiegenhof / Nowy Dwór Gdański, wo eine ganze Etage den Mennoniten gewidmet ist; dort fand ich einen Hinweis auf einen früheren Besuch des seinerzeitigen niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte – für die Vertreter des deutschen Generalkonsulats in Danzig war die Existenz dieses Museums offenbar noch ein Geheimnis. Durch das Werder führte uns einer der Mitarbeiter dieses wunderbaren Museums, der bereits erwähnte Przemek Siwicki, ein Kenner jedes erhaltenen mennonitischen Grabes – sodass wir zu sechs oder sogar mehr Friedhöfen gelangten. Auf den Grabsteinen aus dem 18. und 19. Jahrhundert können wir nun alle Symbole (Seele, Tod, Ewigkeit, Anzahl der Ehefrauen und Kinder) entziffern, die dort zu sehen sind. Auf dem Friedhof in Orloffer Feld / Orłowskie Pole sahen wir gut restaurierte Gräber der mir persönlich bekannten mennonitischen Familie Stobbe, Hersteller des unter dem Namen Machandel bekannten Wacholderschnapses, die sich persönlich um das Andenken ihrer verstorbenen Verwandten und Vorfahren gekümmert haben.
Wir lernten auch die in Polen wohl berühmten (und für uns fast unbekannten) köstlichen mennonitischen Vorlaubenhäuser kennen, von denen einige vor der Zerstörung nach dem Krieg gerettet wurden. Nach der Renovierung steht das Haus von Marek Opitz in Petershagen / Żelichowo wieder. Sein Besitzer hat den köstlichen Käse unter dem traditionellen Namen „Werderkäse” wiederbelebt und nimmt gerne Gäste zur Übernachtung auf. Großen Eindruck hat auch das Vorlaubenhaus von Artur Wasielewski in Orłowo auf uns gemacht, das derzeit einer sehr ambitionierten und einfallsreichen Restaurierung unterzogen wird. Die Arbeiten umfassen sowohl die Fassaden als auch die ländlich-barocke Pracht der Innenräume oder vielmehr das, was davon nach jahrelanger Verwahrlosung durch die früheren Nachkriegsbewohner noch übrig ist. Herr Opitz bekennt sich übrigens zu seiner entfernten Verwandtschaft mit dem deutsch-schlesischen Dichter Martin Opitz, der in der Marienkirche in Danzig begraben liegt und trotz Widerständen der Behörden in seiner Heimatstadt Bunzlau / Bolesławiec mit einem Straßennamen und einem restaurierten Denkmal geehrt wird.
Herr Wasielewski wiederum trägt einen Namen, der, mit Verlaub gesagt, sehr an die ehemaligen polnischen Ostgebiete erinnert, und ist ebenfalls ein begeisterter Anhänger des Werders. Von Przemek erfuhren wir auch von den recht regen Kontakten der heutigen Mennoniten, vor allem aus Kanada und den Niederlanden, aber auch aus Deutschland, zu polnischen Werder-Enthusiasten.
Besonders bewegend war die Geschichte des deutschen Mennoniten Helmut Reimer, der großzügig bei der Rettung der mennonitischen Gräber im Werder und beim Aufbau der Nachkriegskontakte zu den Mennoniten half; er wurde 1991 auf dem katholischen Friedhof in seiner Heimat Heubuden / Stogi beigesetzt. Aus unserer Gruppe unterhält niemand mehr außerfamiliäre Kontakte zum Leben der mennonitischen Gemeinden, daher waren all diese Informationen für uns neu.
Als Sprachkenner erhielt ich auch Zugang zu Publikationen polnischer Werder-Enthusiasten; hinter jeder davon stehen eigene Kontexte und Geschichten, und jede enthält für mich entweder längst vergessene oder völlig neue Inhalte. Zu den größten Sensationen für polnische und nichtpolnische Werder-Liebhaber gehört zweifellos das zweisprachige „Dziennik żuławski” (Werder-Tagebuch) von Heinrich Dyck aus dem Jahr 1878, dessen Manuskript auf völlig paradoxem Wege in die Redaktion der Vierteljahreszeitschrift „Prowincja” gelangte[5]; die Frau des Autors, Anna, geborene Wiebe, ist natürlich eine entfernte Verwandte von uns[6]. Wenn ich den Originaltext lese, höre ich förmlich die Stimmen meiner zahlreichen Onkel und Großonkel aus dem Werder mit ihren epischen mündlichen Erzählungen („Erzählchens”), ihrer westpreußischen Aussprache, Intonation[7] und nicht immer koscheren Morphologie und Syntax[8]. Ich habe mit Sympathie festgestellt, wie sehr dieses Tagebuch in der polnischen Übersetzung von Małgorzata Rysicka (die ich nicht überprüft habe) die polnischen Werder-Enthusiasten begeistert. Unter ihnen sind der bereits erwähnte Artur Wasielewski[9] sowie Andrzej Kasperek, der die Figur des Dyck mit den polnischen Bauern von Pol, Prus, Sienkiewicz, Wyspiański und Reymont vergleicht [10] und damit als Literaturwissenschaftler einen Beitrag zur edlen Sache der polnischen Verbindung zum mennonitischen Erbe leistet, zu dem wir deutsche Nachkommen keinen so lebendigen Kontakt mehr haben.
Ich habe auch zwei Arbeiten von Aleksandra Paprot gelesen, über die Spuren der Mennoniten in Heubuden / Stogi und über die schwierigen Prozesse der Nachkriegs-Konsolidierung der heutigen Bewohner von Altmünsterberg / Stara Kościelnica, die aus der Region Kielce sowie aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten (dem heutigen Litauen, Weißrussland und der Ukraine), dorthin gekommen sind[11]. Frau Aleksandra haben wir übrigens ganz zufällig auf dem Parkplatz neben der Kirche in Heubuden / Stogi kennengelernt, von wo aus wir zu Fuß zum ehemaligen Mennonitenfriedhof gingen. Wir führen bereits einen regen Briefwechsel, da ich das seltene Exemplar eines Nachkommen der Werder-Mennoniten bin, der die Sprache von Mickiewicz und Gombrowicz (fließend, aber nicht fehlerfrei) spricht. Ich weiß auch von ihrer Teilnahme an verschiedenen Programmen und Aktionen im Werder, darunter das bewegende „Światło pamięci” (Licht der Erinnerung).
Aber werde ich noch einmal dorthin fahren?
P.S. Dank Herrn Siwicki bin ich im Besitz des Buches von Ludwig Passarge, Z wiślanej delty. Tczew, Gdańsk, Żuławy, Malbork. Szkice z podróży 1856 (Von der Weichselmündung. Dirschau, Danzig, Werder, Marienburg. Skizzen von einer Reise 1856), Danzig 2016. Dank der überzeugenden Übersetzung von Wawrzyniec Sawicki habe ich einen mir bisher fast unbekannten ostpreußischen Autor des 19. Jahrhunderts kennengelernt, der Italien, die Schweiz, Österreich, Süd- und Westdeutschland, das Baltikum, Skandinavien und Großbritannien sehr gut kannte. Für mich war seine Beschreibung des Baus der alten Dirschauer Brücke erschütternd. Was in meinem Bewusstsein ein Ort der Katastrophe für die Flüchtlinge aus der Weichselniederung war (1945 kamen dort viele ums Leben, darunter mein betagter Großvater väterlicherseits mit seiner zweiten Frau), wird in dieser Beschreibung als ein in der Geschichte Europas bedeutendes technisches Werk wiederbelebt. Die imposanten Überreste dieser ursprünglichen Konstruktion warten als besonders wertvolles historisches Denkmal auf ihre Restaurierung. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es etwas weiter flussabwärts eine modernere Konstruktion, die ebenfalls ihre Geschichte hat.
[1] Hans-Otto Fieguth, Familienbuch Wiebe (Siebenhubener Linie, Freienhubener Linie, Ellerwalder Linie, Schönhorster Linie), Behrends, Epp (Herrenhagener Linie, Zeyersvorderkamper Linie), Froese (Tiegerweider Linie, Vierzehnhubener Linie), Jansson, Regier. Mennonitische Geschlechter aus dem Weichsel-Nogat-Delta, Oldenburg [1979]. Ein Exemplar befindet sich in der Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Danzig. Die Familie spricht wegen der Farbe des Einbands von der „Grünen Bibel”.
[2] Verweis auf „Götterdämmerung” – eine Oper von Richard Wagner sowie den Film „Zmierzch bogów” (dt. „Götterdämmerung”) von Luchino Visconti. Eine der faszinierendsten, umstrittensten und düstersten Visionen des Faschismus. [Anmerkung des Herausgebers]
[3] Das heißt: Lesz[cz]yński, Zaleski und Zawadzki. [Anmerkung des Herausgebers]
[4] Das Holländertum der Mennoniten ist ein teilweise historisch belegter Mythos der Mennoniten selbst, aber auch ihrer polnischen und nichtpolnischen Beobachter, von Wincenty Pol und sogar Ludwig Passarge bis zu den heutigen polnischen Werderanern. In unseren Familien wurden Kontakte zu Verwandten in Australien, Amerika und Russland gepflegt – unter den niederländischen Glaubensgenossen („Doopsgezinden“) gab es keine Verwandten. Der polnische Westpreuße Józef Wybicki, der seit seinem Studium in Leiden ein Kenner des Niederländischen war, wusste das, als er 1794 seinen Appell an die westpreußischen „Holländer“ in polnischer und deutscher Sprache veröffentlichte, nicht in Niederländisch. (An die Bürger und Einwohner des polnischen Landes, die dem Auspurischen Glauben angehören und gewöhnlich Holländer genannt werden – siehe Nowy Korbut, Bd. 6, 1, S. 471).
[5] Heinrich Dyck, Dziennik żuławski. Tagebuch, Sztum – Nowy Dwór Gdański 2015 (Biblioteka kwartalnika „Prowincja“, Bd. 3
[6] Siehe Familienbuch Wiebe, op. cit., S. 595
[7] Aussprache: g>j [Gustav>Justaf; eigentlich>äjntlich]; am Wortende g>ch (wie in ach nach den Vokalen a, o, u [Tag>Tach oder Dach]; wie ch im deutschen Wort „ich” nach den Vokalen ä, e, i, ö, ü sowie nach den Diphthongen ei und eu [Flugzeug>Flu:chcäych]; [pf>f [Pfeife>Fäjfe; Pferd>Fē:äd]; „au“>ou oder äu [Pflaume>Floume oder Flä-ume]; ä:>ē: [Käse>Kjē:zy]; Endung –er>ä [Pfarrer>Fa:rä]; „ei“>äj [meinetwegen>mäjnswējyn]; „eu“>äy [heute: häyty]; kurzes i>y [Tisch>Tysz]; ü:>y: [Flügel>Fly:jyl]; die Satzmelodie erinnert ein wenig an den Tonfall der Ostpolen.
[8] Im Vorwort („Heinrich Dyck und sein einzigartiges Tagebuch“) zu diesem Band behauptet Leszek Sarnowski, dass die Sprache des Tagebuchs „eine Mischung aus Deutsch, Niederländisch und verschiedenen lokalen Dialekten“ sei (S. 12). Das ist ein grobes Missverständnis. Als Deutscher und Kenner des Niederländischen finde ich im gesamten Text vielleicht ein oder zwei Batavismen; dagegen ist das lokale Plattdeutsche (Plattdeutsch) präsent – direkt in zahlreichen Fachbegriffen des ländlichen Lebens in der Nehrung und in einigen Zitaten, indirekt in der ausgeprägten Mündlichkeit des Textes. Der gesamte Tagebuchtext ist in einem nicht besonders gepflegten, eher gesprochenen als geschriebenen Hochdeutsch gehalten, dessen Klang und Farbe ganz und gar dem Werder entspricht.
[9] Siehe sein köstliches Buch Kulinaria żuławskie, sine loco, sine anno [2015]. ISBN 978-83-941384-0-0
[10] Andrzej Kasperek, „Żuławski chłop potęgą jest i basta“, in: Heinrich Dyck, op, cit,. S. 167-182
[11] Ich möchte hier das Werk von A. Paprot erwähnen, Stara Kościelnica. Dzieje żuławskiej wsi, Warschau 2012
[1] Deutsch nach dem polnischen Original (2025)