Rolf Fieguth, Edward Swiderski, Einführung in die kritische Neuausgabe von Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerk, 1997

Vorwort der Herausgeber zu
Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks

Inhaltsverzeichnis:
0. Präliminarien
0.1. Kurzrechtfertigung der Ausgabe
0.2. Ausblick auf das Folgende
1. Das philosophische Interesse von Ingardens Ästhetik, Literaturphilosophie, und speziell diesem Buch.
1.1. Seinsweise des intentionalen Gegenstands.
1.2. DLK und VELK als Theorie der Textbedeutung.
1.3. Das literarische Kunstwerk als reiner intentionaler Gegenstand; Zusammenhang von Ontologie und Epistemologie.
2. Vom Erkennen aus literaturwissenschaftlicher Sicht
2.1. Vom Erkennen als eine Theorie des Entzückens an literarisch ästhetischen Gegenständen.
2.2. Kurz zur Frage der Werte
2.3. Anschaulichkeit, Ansichten und Unbestimmtheitsstellen.
2.4. Ingardens Theorie des ästhetischen Erlebnisses und ihre Angriffsflächen.
2.5. Das ästhetische Erlebnis als Voraussetzung des literaturwissenschaftlichen Erkennens.


0. 1. Kurzrechtfertigung der Ausgabe.

Unsere Entscheidung, Ingardens erkenntnistheoretische Untersuchung Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1., polnische Ausgabe 1937; 2., bedeutend umgearbeitete deutsche Ausgabe 1968) im Rahmen dieser Gesamtausgabe vor dem für sie grundlegenden Buch Das literarische Kunstwerk (1. Ausgabe 1931; die nachfolgenden Ausgaben erbrachten vergleichsweise wenige Veränderungen) herauszubringen, erheischt ein Wort der Erklärung. Das literarische Kunstwerk ist noch lieferbar; es zeigt sich gerade in der Rückschau als jugendfrischer Klassiker einer kunsttheoretischen Moderne, und es ist so formuliert und aufgebaut, daß auch philosophischen Laien der Zugang zum Verständnis der darin ausgeführten ontologischen Theorie des literarischen Kunstwerks nicht über Gebühr erschwert ist. Im Gegensatz dazu ist Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks in seiner deutschen Fassung ein hochkomplexes Spät- und Alterswerk, voll kühner, auch kontroverser und für sein Erscheinungsjahr 1968 ganz unzeitgemäßer Gedanken. Es machte, so fanden wir, eine besondere editorische Mühewaltung erforderlich, damit es jetzt, in den späteren 1990er Jahren, neu in die Diskussion der Philosophen und Literaturwissenschaftler einzutreten vermag. In erster Linie haben wir ein sehr ausführliches analytisches Inhaltsverzeichnis sowie einen alphabetischen Index der Namen und Begriffe erstellt und somit das Buch überhaupt erst benützbar gemacht. Über weitere Einzelheiten berichten wir in einer eigenen Editorischen Notiz im Anhang zu diesem Band.
In dem vorliegenden Vorwort wollen wir in einigen wenigen Stichworten andeuten, was für Philosophen und Literaturwissenschaftler an diesem Buch interessant sein kann, das sowohl eine philosophische Studie aus eigenem Recht, als auch, wörtlich und explizit (VELK, § 1; §§ 27-33) eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft sein will. Im inneren Zirkel der phänomenologischen Bewegung genießt Ingarden als Schüler und Fortsetzer Edmund Husserls, insbesondere aber auch als Opponent von dessen transzendentalem Idealismus, beträchtliches Ansehen. Außerhalb dieses Zirkels, in den akademischen Kulturen des englischen, deutschen und polnischen Sprachraums, kennt man ihn vor allem als Ästhetiker; speziell in der Literaturwissenschaft hat seine Theorie vom literarischen Kunstwerk und dessen Konkretisationen Spuren hinterlassen. Nicht immer ist dabei den Philosophen hinreichend gegenwärtig, daß zwischen Ingardens ontologischer und epistemologischer Theorie des literarischen Kunstwerks, repräsentiert in den beiden Hauptwerken Das literarische Kunstwerk und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks , und den allgemeinen Revieren seines Denkens, repräsentiert vor allem in seinem monumentalen Streit um die Existenz der Welt,, ein wesentlicher Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang wird für den Fachphilosophen, aber auch für den philosophisch aufgeschlossenen Literaturwissenschaftler interessant sein und soll hier zuerst kurz charakterisiert werden; anschließend werden wir uns einigen Fragen speziell literaturwissenschaftlichen Interesses zuwenden.

1.1. Zum intentionalen Gegenstand.

Ingardens ästhetische Studien sind grundsätzlich im Kontext der Kontroverse zwischen Realisten und Idealisten um die Existenz von ‘Welt’ in Bezug auf ‘Bewußtsein’ anzusiedeln. Eine gründliche Analyse der Seinsweise des literarischen Kunstwerks diente Ingarden bereits in seinem Buch Das literarische Kunstwerk als Argument gegen Husserls Auffassung, wonach jedem Seienden die rein intentionale Seinsweise zukomme. Diese Auffassung bekämpft Ingarden, indem er zwischen intentionalen und rein intentionalen Gegenständlichkeiten einerseits, sowie realen und idealen Gegenständen andererseits unterscheidet. Das heißt, neben realer Seinsweise und idealer Seinsweise zeigt er nunmehr eine dritte Seinsweise auf, nämlich die der intentionalen Gegenständlichkeiten in einem neuen Sinn. Intentionale Gegenständlichkeiten haben ihr ontisches Fundament in realen Gegenständen (z.B. die Steine einer Kirche; die Luft, die den ausgesprochenen Wortlaut trägt), sowie in schöpferischen oder nachschöpferischen bedeutungsverleihenden Bewußtseinsakten von Subjekten oder Gemeinschaften von Subjekten (die geplante spezielle Architektur der Kirche sowie die Kirchenweihe; die bedeutungsverleihenden Akte der Sprecher einer Sprache), sie sind aber den subjektiven Bewußtseinsakten gegenüber transzendent.

1.2. Das literarische Kunstwerk und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks als Theorie der Textbedeutung.

Fundamentales Alltagsbeispiel eines intentionalen Gegenstandes ist der sprachliche Text und seine Gesamtbedeutung, die gesprochene oder geschriebene sprachliche Äußerung, das "literarische Werk" in Ingardens Terminologie. Es wird oft vergessen, daß Ingarden seine Theorie des literarischen Kunstwerks auf einer allgemeinen Theorie des "literarischen Werks" in diesem allgemeinen Sinne aufbaut. Das literarische Kunstwerk und auch Vom Erkennen sind in weiten Partien als hochelaborierte Forschungen zu den allgemeinen sprachlichen Bedeutungseinheiten und den Weisen ihres Erfaßtwerdens zu lesen, in einer heute üblichen Ausdrucksweise: sie sind auch allgemeine Theorie der Konstitution und der Erfassung des Textes, bis in die Einzelheiten der Wortarten, Satztypen und Arten der Verbindungen zwischen den Sätzen im Text hinein. Ingardens Position ist hier übrigens eine explizite Antwort auf die landläufigen reduktionistischen Bedeutungstheorien der 30er Jahre: alle Arten von Naturalismus (Psychologismus, Physikalismus), welche die sinnhafte Bedeutungserfahrung wegerklären wollen.

1.3. Das literarische Kunstwerk als reiner intentionaler Gegenstand; Zusammenhang von Ontologie und Epistemologie.

Das literarische Kunstwerk ist nun im Vergleich zum "normalen Text" ein noch "reineres" Beispiel für einen intentionalen Gegenstand, weil in seiner Textbedeutung der Verweis auf die reale Wirklichkeit gelöscht ist, und es selbst und die in ihm entworfene fiktionale Welt dennoch auf eine intersubjektiv zugängliche Weise existiert. Darum wird eben dieses besonders reine Beispiel eines intentionalen Gegenstandes in seiner besonderen Seinsweise zum zentralen Thema von Das literarische Kunstwerk. Die dort entwickelte ontologische Argumentation wird aus der Sicht der Erkenntnistheorie und der Analyse des ästhetischen Erlebnisses in Vom Erkennen ganz erheblich erweitert, vertieft und verfeinert .
Danuta Gierulanka stellt mit Nachdruck fest, daß Ingardens in Vom Erkennen vorgelegte Analyse der Bewußtseinsoperationen, in denen das literarische Kunstwerk erfaßt und zum ästhetischen Gegenstand konkretisiert wird, sowohl für die Ästhetik, als auch die Erkenntnistheorie und -kritik einen hohen Neuigkeits- und Originalitätswert beanspruchen kann . Ingardens Methode ist die des deskriptiven Phänomenologen, dem an der Enthüllung der Wesensstrukturen der untersuchten Phänomene gelegen ist, im Gegensatz zu Husserls ‘transzendentaler’ Konstitutionsanalyse, die dieser in seiner noetisch-noematischen Theorie der Sinnkonstitution entwickelt hatte. Zunächst geht es Ingarden vornehmlich um die wesenseigene Grundstruktur des literarischen Kunstwerks selbst - das ist die hauptsächliche Fragestellung in Das literarische Kunstwerk, die in Vom Erkennen nunmehr in erkenntnistheoretischer und erkenntniskritischer Perspektive noch einmal aufgerollt wird. Die erweiterte Perspektive in Vom Erkennen stellt einen geordneten Zusammenhang her zwischen den Wesensstrukturen einer ganzen Textur von Erfassensakten verschiedener Art und darin zur Erscheinung kommenden Erkenntnisgegenständen. Dieser Zusammenhang kann hier nur stichwortartig angedeutet werden: Die Erfassensakte, in denen das Subjekt in ästhetischer Einstellung das literarische Kunstwerk perzipiert, müssen zuerst der Wesensstruktur des literarischen Kunstwerks angepaßt werden. Das durch die ästhetische Ursprungsemotion in eine entsprechende Einstellung versetzte Subjekt bringt in diesen Erfassensakten nachschöpferisch und mitschöpferisch den ästhetischen Gegenstand hervor, der sich in vielem von der Struktur des "schematischen" literarischen Kunstwerks unterscheidet. An diesem ästhetischen Gegenstand enthüllt sich in neuen Erfassensakten ein Zusammenklang ästhetischer Wertqualitäten , der über seine eigene Wesensstruktur verfügt. Eben diese wechselseitigen Bedingtheiten und schwierigen Übergänge zwischen Ontologie und Epistemologie sind das zentrale philosophische Anliegen von Vom Erkennen. Die Pointe dieses Spätwerks eines "realistischen" Phänomenologen ist die folgende: Ontologie hebt sich nicht in der Epistomologie auf, sondern umgekehrt tritt die Ontologie auf dem Kerngebiet der Epistemologie beständig in Erscheinung. In seiner Wesensstruktur und vor allem in seiner Ausstattung mit künstlerischen Werten bleibt das individuelle literarische Kunstwerk allen Erfassensakten gegenüber transparent und enthüllt sich vom Standpunkt der von ihm gebildeten ästhetischen Objekte aus wenigstens in Einzelheiten immer anders. Der literarisch ästhetische Gegenstand, zu dem der Leser das "schematische" literarische Kunstwerk konkretisiert, ist zwar mit den subjektiven Erfassungsakten und -emotionen auf das engste verwoben, löst sich aber in dem Moment von diesen ab, da er fertig konstituiert ist und nunmehr als ganzer, aus der unmittelbaren Erinnerung und Rückschau, zum Objekt weiterer Erfassung und Kontemplation wird.

2. Vom Erkennen aus literaturwissenschaftlicher Sicht
2.1. Vom Erkennen als eine Theorie des Entzückens an literarisch ästhetischen Gegenständen.
Für die Literaturwissenschaftler ist Ingarden schon immer ein unzeitgemäßer Denker und Theoretiker gewesen. Im stocknüchternen und umständlichen Geheimratsstil, der Indogermanistik- oder Medizinprofessoren des alten Deutschlands und des alten Kakaniens eigen war, entwickelt er in Vom Erkennen Schritt für Schritt, gedankliche Umwege und Exkursionen nicht scheuend, Konzentrationsfähigkeit und Geduld des Lesers auf harte Proben stellend, eine Theorie des ästhetischen Erlebnisses, die auf weite Strecken zu einer Theorie des Entzückens an literarisch ästhetischen Gegenständen wird. In eben diesem Stil läßt er sich über fünf Seiten darüber aus (330-335), daß man zum Reden über diese Dinge eigentlich eine neue, "irrationale" Sprache erfinden müßte. Ohne die Miene zu verziehen, vergleicht er den Verlauf des ästhetischen Erlebnisses von der ästhetischen Ursprungsemotion an mit dem Verliebtsein und dem entsprechenden Hunger und Begehren; folgerichtig "verkehrt" bei ihm auch der Leser fortwährend mit den ästhetischen Wertqualitäten. Er tut dies zeitenthoben, das praktische Leben um ihn herum vergessend. Ingardens entzückter Leser bringt die Wörter und Sätze des literarischen Kunstwerks durch sein aktives, von Sprachkomplikationen möglichst unbeirrtes Vorwärtslesen zum Fließen. Sprachlautliche Gestaltung, Wortwahl und syntaktische Eigentümlichkeiten des Texts dringen insoweit in sein Bewußtsein, als sie ihm zum vorstellungsmäßigen "Erschauen" der dargestellten gegenständlichen Welt, insbesondere aber auch zum "Erschauen" der ästhetischen Wertqualitäten des konkretisierten Werks und ihrer spezifischen Konfiguration verhelfen. Wir kommen damit an den Kern von Ingardens Theorie des mitschöpferischen ästhetischen Erlebnisses: es wird darin etwas "realisiert", was zuvor nicht in der Welt war, auch im literarischen Kunstwerk selbst nur als Bedingung seiner Möglichkeit angelegt ist, nämlich dieser spezifische Zusammenklang ästhetischer Wertqualitäten, der "erschaut" wird und eine Wertantwort auslöst, in der ein Moment der "Seinsanerkennung" enthalten ist: dieser Zusammenklang ist möglich, es gibt ihn aus wesensmäßiger Notwendigkeit, er entzückt mich.
2.2. Kurz zur Frage der Werte.

Vom Erkennen enthält wesentliche Elemente einer Theorie der künstlerischen und der ästhetischen Wertqualitäten und Werte. Künstlerische Wertmomente kommen dem literarischen Kunstwerk als einem schematischen Gebilde zu; sie sind funktionale, instrumentale und relative Wertmomente in dem Maße, als sie es dem Leser dieses individuellen literarischen Kunstwerks gestatten, zusammen mit dem ästhetischen Gegenstand auch die entsprechenden ästhetischen Wertmomente zu konstituieren. Die ästhetischen Wertmomente sind übrigens absolut, sie haben ihr Ziel in sich selbst. Mitunter sind nun künstlerische Wertmomente erst dadurch zu erkennen, daß bei der Konkretisation sich bestimmte ästhetische Wertmomente einstellen, die ihre Grundlage im schematischen Gebilde des literarischen Kunstwerks haben müssen. Besonderen Wert legt Ingarden auf die Frage des Zusammenspiels der Wertqualitäten, die sich bei der ästhetischen Konkretisation in hierarchischen Gliederungen unterschiedlicher Art zu Synthesen verschiedenen Typs vereinigen.
Philosophen in der ‘analytischen’ Tradition, die an der Frage ‘Was ist Kunst?’ bis zur Erschöpfung herumlaboriert haben, haben sich bei ihren definitorischen Bemühungen wenig Zeit für die ästhetischen Faktoren, insbesondere für die ästhetische Einstellung gelassen. Überdies interessiert man sich in dieser Tradition erst seit kurzem für ästhetische und moralische Werte, und zwar in einer sogenannt ‘realistischen’ Perspektive. So kommt es, daß zwar Ingardens Ontologie des Kunstwerks unter angelsächsischen Denkern hie und da durchaus Zuspruch fand, daß aber die Werttheorie, die Ingarden darauf errichtete, weitgehend terra incognita geblieben ist.
Ingardens Interesse an künstlerischen und ästhetischen Wertfragen wurde im Verlauf seiner kunstphilosophischen Forschungen deutlicher und deutlicher. In mancherlei Schriften untersuchte er die Frage der ‘Systeme’ von künstlerischen und ästhetischen Wertqualitäten; er baute hier seine Einsicht aus, daß sowohl in der Kunst selbst, als auch in der Kunstwissenschaft die erkenntnismäßige und die ästhetische Dimension einander ergänzen. Einer der wichtigsten Gründe dafür, daß Ingarden 30 Jahre nach der polnischen Erstveröffentlichung sein Buch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks so tiefgreifend überarbeitete, liegt sicherlich in seinem inzwischen sehr verstärkten Interesse an allgemeinen und spezifischen Fragen der Werttheorie. Allerdings hat er weder in Das literarische Kunstwerk, noch in Vom Erkennen, die Analyse des Wesens und der Seinsweise der Werte zu einem Ende geführt. Er kam nämlich zu der Einsicht, daß die Frage des Wertes eines der schwierigsten, ja geradezu unlösbaren philosophischen Probleme darstellt. Ihn befriedigte nie, was er über die Frage wußte, ‘was’ Werte sind, ihn beunruhigte anhaltend, ‘was wir über Werte nicht wissen’, und daher ist seine Theorie des literarischen Kunstwerks auch nicht ‘abgeschlossen’. Auch wenn sie aus schöpferischen Bewußtseinsakten hervorgehen, weisen Kunstwerke Qualitäten auf, die nach Ingardens Auffassung keineswegs vom Menschen abhängen, und diese Qualitäten wohnen Werten inne. In Das literarische Kunstwerk hatte Ingarden den Begriff der ‘metaphysischen Wertqualität’ eingeführt: das literarische Kunstwerk enthüllt an der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten transzendentale Züge des Seins. Wir wissen nicht, ob und inwieweit Ingarden Heideggers Auffassung kannte, wonach Kunstwerke, vor allem Dichtung, bevorzugte Formen sind, in denen das Sein sich selbst enthüllt. Dagegen spielten sowohl Max Scheler, als auch Dietrich von Hildebrand nachweislich eine Rolle in seinem Denken. Eines der Beispiele für Ingardens ‘metaphysische Qualitäten’ ist ‘das Tragische’. Nicht von ungefähr übersetzte er Schelers ‘Über das Tragische’ ins Polnische. Von Hildebrand übernimmt er den Begriff der ‘Antwort auf…’ bzw. der ‘Einsicht in…’ Werte und zitiert ihn mehrfach, zuletzt in seinem späten Werk über die Verantwortung. Dort wird nun deutlich, daß Werte das ‘ontische Fundament’ moralischer Handlungen sind, und angesichts der Wirkung dieser Handlungen sind die Werte klar in die Gewebe der Realität verflochten. Ingardens Interesse an der Wertfrage bringt noch eine weitere ‘klassische’ Seite von Ingardens Ästhetik zutage. Dem literarischen Kunstwerk kommt darin eine einzigartige Funktion zu: dem entsprechend begabten und empfänglichen Leser die Mit-Konstitution und direkte "Erschauung" von Werten zu vermitteln, die sein Leben bereichern.

2.3. Anschaulichkeit, Ansichten und Unbestimmtheitsstellen.
An vielen Stellen seines Buches spricht der Verfasser von einer "Anschaulichkeit" der ästhetischen Wertqualitäten am konkretisierten literarischen Kunstwerk. Sie wird durch das Vorhandensein besonderer Charaktere der Prägnanz, Anschaulichkeit, Sinnfälligkeit an vielen Momenten und Seiten des literarischen Kunstwerks und seiner ästhetischen Konkretisation gefördert und bewirkt. Dies ist auch der eigentliche Sinn des Vorhandenseins der "Schicht der schematisierten Ansichten" im literarischen Kunstwerk, derjenigen Schicht, deren Momente in der ästhetischen Konkretisation des Werks die vorstellungsmäßige Sinnfälligkeit und Anschaulichkeit der dargestellten Welt einschließlich des Raumes ("Raumansichten") und der Zeit ("Zeitansichten") bewirken. Es mag sein, daß in den Ingardenschen "Ansichten" die von modernen Literaturtheoretikern so perhorreszierte Illusionsästhetik Nahrung findet, und in den mündlichen und schriftlichen Kritiken an Das literarische Kunstwerk hat gerade diese Schicht den meisten Widerstand der Literaturwissenschaftler ausgelöst. Aber die Sache bekommt ein ganz anderes Gesicht, wenn deutlich wird, daß die spezifische Anschaulichkeit der dargestellten Welt dazu da ist, eben die "Anschaulichkeit" der ästhetischen Wertqualitäten zu fördern. Bei so ganz unterschiedlichen Autoren der Moderne wie James Joyce, Franz Kafka, Alfred Döblin, Vladimir Nabokov oder Bruno Schulz besteht sicherlich ein je spezifischer Zusammenhang zwischen der ausgeprägten vorstellungsmäßigen Anschaulichkeit ihrer dargestellten Welten und der "Anschaulichkeit" ihrer ästhetischen Wertqualitäten .
Es scheint freilich, daß Ingarden sich die vielfältige Kritik an seinen "schematisierten Ansichten" zu Herzen genommen hat. In Vom Erkennen sind sie immer noch sehr wichtig, treten aber nicht mehr dermaßen unter allen anderen Schichten in den Vordergrund, wie dies in Das literarische Kunstwerk der Fall war. Statt dessen entdeckt er nun die ästhetisch relevanten Eigenschaften der Unbestimmtheitsstellen, die in Das literarische Kunstwerk vor allem als Begleiterscheinung des schematischen Wesens der dargestellten Gegenständlichkeiten behandelt worden waren, und die nun in Vom Erkennen zum immer neu besprochenen Thema werden. Die wohlüberlegte Auswahl und der künstlerisch geplante und verständliche Einsatz der Unbestimmtheitsstellen prägt der dargestellten Welt des individuellen literarischen Kunstwerks ganz spezifische ästhetische Charaktere auf. Sie dürfen bei einer feinfühligen und taktvollen ästhetischen Konkretisation des Werks nicht unterschiedslos beseitigt und "ausgefüllt" werden, sondern haben als Unbestimmtheitsstellen Anteil an der anschaulichen Konstituierung der ästhetischen Wertqualitäten. Ingarden interessiert sich in Vom Erkennen für die ästhetisch relevante Funktion der Unbestimmtheitsstellen deshalb in so hohem Maße, weil sich daraus, wie er hofft, im Fall des konkreten individuellen Werks normative Eingrenzungen für die Art und Weise einer "stilnahen" ästhetischen Konkretisierung ableiten lassen. Zweifellos will er sie dort nicht unter dem Aspekt sehen, daß sie der Aktivität des Lesers und der Entfaltung seiner Phantasie einen noch weiteren Spielraum verschaffen . Überhaupt ist er der Meinung, er habe in Das literarische Kunstwerk die Vielfalt der von einem literarischen Kunstwerk zugelassenen ästhetischen Konkretisationen überschätzt. (VELK 319, Anm. 98).
Angemerkt sei noch: so, wie die Theorie des literarischen Kunstwerks für den Ästhetiker Ingarden in selbstverständlichem Zusammenhang mit einer allgemeinen Theorie des Kunstwerks steht, so hat auch seine Theorie des ästhetischen Erlebnisses einen allgemeinen und einen spezifisch literarischen Aspekt. Zum letzteren führt er unter "Besonderheiten der literarischen ästhetischen Erlebnisse" (235-242) folgendes aus: Im Unterschied zur bildenden Kunst sind die Ansichten nicht unmittelbar gegeben, sondern müssen aktualisiert werden; ähnlich wie in der Musik und in der Architektur ist das literarische ästhetische Erlebnis mehrphasig; der Anteil des intellektuellen Verstehens besonders der Sätze am Erlebnis ist hoch; andererseits sind auch an Satzstrukturen und Satzzusammenhängen ästhetisch relevante Qualitäten vorhanden; die ästhetisch relevanten Qualitäten des literarischen Kunstwerks zeichnen sich durch besondere Reichhaltigkeit und besondere Heterogenität aus.

2.4. Ingardens Theorie des ästhetischen Erlebnisses und ihre Angriffsflächen

Ingardens Theorie des literarisch ästhetischen Erlebnisses, das verschiedene irrationale, emotionale und intellektuelle Erfassensakte explizit einschließt, enthält vieles, was in diesem kurzen Vorwort gar nicht angesprochen werden kann - darunter die Frage der Phasen, in denen es typischerweise abläuft, die Rolle, die die Erinnerung dabei spielt, und überhaupt die Frage seines Verhältnisses zur Zeitlichkeit, ferner das Problem der Mitkonstituierung der ästhetischen Wertqualitäten und ihrer Synthetisierung. Einen ersten Überblick über die Fülle der von Ingarden in diesem Zusammenhang behandelten Fragen vermittelt unser analytisches Inhaltsverzeichnis. In der obigen kurzen Darstellung wurden insbesondere die Aspekte ausgewählt, an denen eine ernste Fremdheit dieser Theorie gegenüber weiten Bereichen moderner allgemeiner und literarischer Kunst und den von ihr implizierten Erlebnisweisen besonders gut ersichtlich wird. Auch zur Charakterisierung dieser Fremdheit müssen sehr wenige Stichworte genügen. Es ist zweifellos nicht Absicht aller bedeutenden modernen Kunst, die entzückte Erschauung zu einer harmonischen Gestalt sich fügender ästhetischer Wertqualitäten zu stiften. Die moderne Unfähigkeit zum ästhetischen Entzücken war Gegenstand bereits des Vorkriegsromans Ferdydurke (1937) von Witold Gombrowicz gewesen. Vollends schufen Nachkriegslyriker wie Paul Celan und Tadeusz Różewicz Texte, die die ästhetische Ursprungsemotion durchkreuzen, sich gegen das fließende Voranlesen sperren, Anschaulichkeit verweigern und am Schluß über den geborstenen Teilen des literarisch ästhetischen Gegenstandes allenfalls ein fahles und trübes Licht leuchten lassen. Aber die Destruktionen, die die moderne literarische Kunst vornimmt, und insbesondere ihre Verweigerung von Entzückung, werden heute möglicherweise gar nicht mehr recht wahrgenommen und mit besonderer Schärfe erst wieder erkennbar, wenn man eine Theorie wie die Ingardens heranzieht. Liest man Das literarische Kunstwerk und Vom Erkennen nur ein wenig gegen den Strich, so stößt man durchaus auf Passagen, in welchen Ingarden die mögliche Disharmonie als ästhetisch legitim zuläßt; z.B. sieht er vor, daß ein literarisches Kunstwerk bei seiner ästhischen Konkretisation mehr als nur ein einziges "Kristallisationszentrum" seiner ästhetisch wertvollen Qualitäten aufweisen (86-87) und die resultierende Gesamtqualität eines Werkes sich auch in einer Disharmonie ausprägen kann (337-341) . In solchen Fällen schwebt ihm aber offenbar vor, daß die im Konflikt miteinander stehenden Einheiten letztlich dann doch eine neue synthetische Gestalt bilden müssen, damit es nicht zum endgültigen Zerfall des ästhetischen Gegenstandes und der Synthese seiner Wertqualitäten kommt. Mit eben diesem Ganzheitlichkeitsideal, an dem moderne literarische Kunst fortwährend ihre Zerstörungen vorgenommen hat, ist Ingardens Theorie als wahrhaft "klassisch" zu bezeichnen.
"Klassisch" ist sie ferner auch in ihrer Elaboriertheit und ihrer sorgfältigen Durchdachtheit, von der man sich einen ersten Begriff anhand unseres analytischen Inhaltsverzeichnisses machen kann. Auch in dieser Beziehung steht diese "epistemologische" Theorie würdig neben Ingardens "ontologischer" Theorie des literarischen Kunstwerks und hat wie diese nur sehr vereinzelte Konkurrenz-Projekte gezeitigt . Wer immer eine Theorie des Lesens literarischer Kunstwerke aufstellen will, wird sich nach wie vor gründlich mit Ingardens Theorie des ästhetischen Erlebnisses auseinandersetzen müssen.

2.5. Das ästhetische Erlebnis als Voraussetzung des literaturwissenschaftlichen Erkennens.
Ingarden weist die Theorie des ästhetischen Erlebnisses der Literaturwissenschaft als eines der wesentlichsten empirischen Fundamente ihrer spezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisweise zu. Jede wissenschaftliche Erforschung des literarischen Kunstwerks hat zur Voraussetzung, daß es zuvor Gegenstand eines authentischen ästhetischen Erlebnisses gewesen ist. Was Ingarden das "vor-ästhetische forschende Betrachten des literarischen Kunstwerks" nennt, wäre daher vielleicht besser "nach-ästhetisch" genannt worden. Vom ästhetischen Erlebnis angeregte Erleuchtungsakte über Ganzheit und Struktur des ästhetischen Gegenstandes schaffen ein intuitives Wissen, das auch für das forschende Erkennen gültig bleibt (419). Aber diese intuitiven und irrationalen Elemente werden bei Ingarden durchaus gezähmt. In den §§ 27-32, welche die knappe Hälfte des ganzen Buches einnehmen, werden sie in ein sehr rationales, äußerst kontrolliertes und dabei stets auch erkenntniskritisch denkendes erkenntnismäßiges Prozedere der forschenden Literaturwissenschaft eingebaut. Dieses Prozedere, eben das "vor-ästhetisch forschende Betrachten", unterscheidet sich auf sehr charakteristische Weise vom ästhetischen Erleben. In penibler Kleinarbeit schreitet es von der analytisch-funktionellen Erfassung der Einzelheiten der vier Schichten und zwei Dimensionen des literarischen Kunstwerks - jeweils in Konfrontation zwischen "Schema" und "ästhetischer Konkretisation" - zur wissenschaftlichen Synthese voran. Das "Klima" dieses wissenschaftlichen Erkenntnisprozedere erinnert ungeachtet seiner irrationalen Elemente insgesamt an die Kühle des Positivismus, manchmal auch an das Forschungslabor. Überhaupt will das gesamte Buch als erkenntnistheoretische Grundlegung einer verantwortungsvollen und gültige Ergebnisse anstrebenden Literaturwissenschaft betrachtet werden. Der Philosoph kommt dabei aus seiner Sicht dieser Wissenschaft und ihren Bedürfnissen, wie er sie sieht, weit entgegen. Es wird in einem aus Das literarische Kunstwerk völlig unbekannten Ausmaß mit konkreten Textbeispielen meist aus der deutschen, aber auch aus der polnischen und angelsächsischen Literatur gearbeitet. Der Verfasser scheut sich nicht, Thomas Manns Buddenbrooks auf das statistische Vorkommen bestimmter Wortarten in seinen einzelnen Kapiteln zu untersuchen. Ingarden geht auf klassische Fragestellungen der Literaturwissenschaft ein, also auf Fragen des Epochen- und Individualstils, auf die Frage der Unterscheidungsmerkmale literarischer Gattungen in Bezug auf den Einsatz von Unbestimmtheitsstellen und in Bezug auf die charakteristische Zeitbehandlung (vgl. den langen Abschnitt über die Lyrik 273-286). Dagegen unterläßt er jeden Exkurs in Fragen der Literaturgeschichte und der literarischen Evolution , vielmehr konzentriert er sich gänzlich auf die Erforschung des einzelnen literarischen Kunstwerks und seiner ästhetischen Konkretisationen. Er beschreibt den Effekt der Dekomposition ("Destruktion", 249 f.; 288-300; 373-381) der ursprünglichen Hierarchie der Elemente des individuellen literarischen Kunstwerks durch das analytisch-funktionelle Vorgehen und durch die gleichwertig "thematische Objektivation" ungleichgewichtiger Elemente. Dieser Effekt, den wir als methodischen Verfremdungseffekt identifizieren können, erscheint ihm notwendig, um eine Kontrolle gegenüber den unvermeidlichen perspektivischen Verkürzungen zu haben, die bei jeder synthetischen Erfassung unvermeidlich sind. Er empfiehlt die Methode experimenteller Veränderungen am Werk bzw. an seiner ästhetischen Konkretisation, um die ästhetische Wirkung einer Einzelheit besser erfassen zu können, er empfiehlt hier auch die Zusammenarbeit mehrerer Forscher.
Insbesondere aber will er die Literaturwissenschaft zur Erarbeitung eines begrifflichen und methodischen Rüstzeugs für die begründete Formulierung von Werturteilen anregen. Ingarden hat hier durch die begriffliche Unterscheidung zwischen künstlerischen und ästhetischen Werten, zwischen einem System von ästhetischen Wertqualitäten einerseits und bestimmten Typen und Strukturen der Synthesen und Zusammenklänge ästhetischer Wertqualitäten andererseits hochinteressante Anregungen hinterlassen. Der Literaturtheoretiker, der überhaupt zur Wertproblematik vordringt, findet ein großes Stück geleisteter gedanklicher Vorarbeit vor, gleichgültig, welchen ästhetischen Idealen er selbst huldigt, oder ob er überhaupt welchen huldigt. Ingardens Vorstellungen beruhen sicherlich auf künstlerischen und ästhetischen Idealen, die von Adorniten und Lukácsianern noch vor 15 Jahren umstandslos als "klassizistisch" abgetan worden wären. Heute ist die Nachkriegsmoderne schon länger vorbei und auch die Postmoderne nicht mehr ganz farbecht. Jenseits der Flatulenzen des Zeitgeists und der müden Moden angesiedelt, kann Ingardens Vorstellung vom zeitenthobenen "Erschauen" ästhetischer Wertqualitäten, seine beispiellos ernsthafte und strenge methodische Grundlegung der Erkenntnisarbeit von Literaturwissenschaft, seine Weigerung, an den Altären der Moderne, der Hermeneutik, der Tiefenpsychologie oder irgendeiner Art von Hegelnachfolge zu opfern, am Ende des Jahrhunderts mit neuem kritischem Interesse rechnen.