Rolf Fieguth und Alessandro Martini (Hrsg.), Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, Bern 2005, 407-427
Rolf Fieguth
Der Gedichtzyklus als Gegenstand historisch-vergleichender Betrachtung. Theoretische und methodologische Probleme [1].
Die ursprüngliche Absicht dieses Bandes und des ihm zugrundeliegenden Forschungsprojekts kann nachträglich mit der Formulierung “Prolegomena zu einer ’Gattungsgeschichte’ des europäischen Gedichtzyklus im 19. Jahrhunderts” umschrieben werden; wir hoffen, dass wir diesem Ziel etwas nähergekommen sind. Wir sind davon ausgegangen, dass der Gedichtzyklus zwar selbst keine Gattung im strengen Sinn des Wortes ist, wohl aber als “unkanonische Sekundärgattung” (sekundär in Bezug auf die Primärgattungen der den Zyklus konstituierenden Gedichte) bezeichnet werden kann und sich in seiner historischen Entwicklung vielfach ähnlich verhält wie eine Gattung. Die nachfolgende Studie ist bewusst nicht als Einführung in unseren Band gestaltet worden, sondern als theoretisch-methodischer Epilog, weil die unterschiedlichen Artikel von unterschiedlichen theoretischen Prämissen und Fragestellungen ausgegangen sind. Bewusst wurde auch im Titel des Bandes der Ausdruck “Gedichtzyklus” durch “Zyklisierung in der Lyrik” ersetzt. In keiner der hier vorgelegten Studien ist ein dogmatischer, restriktiver Begriff vom Gedichtzyklus zugrundegelegt worden, und dafür gibt es Gründe in der Sache selbst, über die im Folgenden nachgedacht werden soll. Der bei weitem wichtigste ist die Einsicht, dass jeder Versuch einer literarhistorischen, gattungsgeschichtlich orientierten Betrachtung des Gedichtzyklus einer beliebigen Epoche fast unmittelbar auf den engen Entwicklungszusammenhang von Gedichtzyklen mit verwandten Kompositions- und Gruppierungsweisen führt, die selbst keine Gedichtzyklen im strengen Sinn des Wortes sind. Alle großen und prägenden Vorbilder des Gedichtzyklus sind keine “richtigen” Gedichtzyklen: die alttestamentlichen “Psalmen” und das “Hohe Lied”, die Gedichtbücher der römischen Klassiker, und insbesondere Petrarcas “Canzoniere”. Dazu kommt, dass die Regeln einer unkanonischen Sekundärgattung, wie der Gedichtzyklus eine ist, nur eine eingeschränkte normative Gültigkeit beanspruchen können. Ihre “Gattungsnormen” haben schon frühzeitig nicht strikte Befolgung, sondern häufig im Gegenteil Verletzung und kreative Überwindung erfordert, denn der ästhetische Idealtypus des poetisch gelungenen Gedichtzyklus stand wohl schon immer im Gegensatz zu einer doktrinären Auffassung vom “richtigen” Gedichtzyklus. Das hängt übrigens mit der Regel von der Nicht-Dominanz wesentlicher Spezifika und Charakteristika des Gedichtzyklus zusammen, die gleich noch näher ausgeführt werden soll. Die Spannung zwischen Regeln und Befolgung verschärft sich im 19. Jahrhundert, dem der vorliegende Band gewidmet ist, in allen Gattungen, und im Zusammenhang damit ohne Zweifel auch im Bereich des Gedichtzyklus. Goethes “West-östlicher Divan”, Heinrich Heines und Victor Hugos Gedichtbücher, Baudelaires “Blumen des Bösen” arbeiten sich offenbar nicht mehr wie frühere Gedichtzyklen am doktrinären Zyklusschema ab, sondern greifen auch den hergebrachten Idealtypus an.
Es ist trotzdem wenig sinnvoll, auf jede Zyklustheorie und damit auf die Ergründung der sehr spezifischen “Gattungsregeln” des Gedichtzyklus verzichten zu wollen. Eine begriffslose Anschauung der Komposition einer Gedichtsammlung kann nichts erbringen; von einer Zyklustheorie darf man erwarten, dass sie zu präzisierten Einsichten in Kompositionsverhältnisse von Gedichtzyklen und anderen komponierten Gedichtsammlungen verhilft und dafür Begriffe und Kategorien zur Verfügung stellt. Im Folgenden wird die Theorie des Gedichtzyklus aus der Sicht des Gattungshistorikers so zugespitzt, dass sie sich mit desto größerer Leichtigkeit und begrifflicher Präzision selbst überwinden und auf konkrete literarhistorische Entwicklungskonstellationen reagieren kann. Was im Folgenden allerdings nicht geleistet werden kann, sind generalisierende Bemerkungen über charakteristische Eigenschaften der Gedichtzyklen der Romantik und ihrer verschiedenen Phasen, der mit dem Realismus zeitgleichen Post-Romantik und ihrer sehr verschiedenen Strömungen, des Naturalismus und schließlich des Modernismus. Jedoch finden sich zahlreiche Ansätze zu solchen Charakteristiken einerseits in den Einzelbeiträgen des Bandes, andererseits aber auch in den Abschnitten dieses Beitrags über die Typologie des Gedichtzyklus.
Der Zyklus als Objekt einer Theorie und als Subjekt einer ”Gattungsgeschichte”
Wir wissen spätestens seit den russischen Formalisten, dass das Objekt der theoretischen Definition eines gattungsartigen Phänomens etwas anderes ist als das Subjekt der Geschichte dieses Phänomens, bzw. als das Objekt seiner literarhistorischen Darstellung. Eine Geschichte der Ode oder der Elegie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert hat nicht ein und dieselbe Kategorie von Phänomenen zum Objekt, sondern ein dynamisches System von Veränderungen, welche die betreffende Kategorie im Lauf der Literaturgeschichte durchmacht, eingebettet in ein gleichfalls dynamisch sich änderndes System von Beziehungen zu anderen Gattungen. Das Subjekt der Veränderungen bleibt nicht in allen Phasen mit sich selbst identisch; vielmehr verwandelt sich seine Identität in eine Kohärenz und Kontinuität seiner oft widersprüchlichen Erscheinungsformen; diese Kohärenz wird letztlich allein noch durch den Entwicklungszusammenhang seiner Erscheinungsformen hergestellt.
Zur Geschichte einer Gattung oder einer Gattungsfamilie gehören ferner bis zu einem gewissen Grad immer auch die Nachbargattungen mit dazu, zu denen sie in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche funktionale Beziehungen unterhält – bei Gedichtzyklen sind dies in allererster Linie Gedichtbücher verschiedenster Art, die ihrerseits eine gewisse Komposition aufweisen, Gedichtsammlungen eines Autors oder verschiedener Autoren (Anthologien), nicht selten auch eine außerliterarische Gattung wie das Liederbuch; weiter Epopöen, Versnovellen, Verstraktate, ferner aber auch zahlreiche andere literarische Gattungen, darunter bestimmte Typen von Romanen oder sogar Dramen – ganz zu schweigen von zyklusartigen Phänomenen in der Musik und in den bildenden Künsten.
Zyklustheorie ”von unten”
Der literarhistorischen Veränderlichkeit des Gedichtzyklus und den großen Unterschieden zwischen seinen Erscheinungsformen kann Rechnung getragen werden durch eine von unten aufgebaute Theorie des Gedichtzyklus, wie ich sie selbst an verschiedenen Orten, zuletzt in meinem Buch “Verzweigungen” (Fieguth 1998), vorgeschlagen habe. Eine solche Theorie hält zuerst fest, was überhaupt an “zeitlichen” und “unzeitlichen” kompositorischen Beziehungen zwischen den Gedichten eines Zyklus oder einer sonstwie komponierten Gedichtsammlung möglich ist, unterscheidet sodann Direkt-, Nah- und Distanzbeziehungen zwischen Gedichten, verbindet dies mit den Möglichkeiten der subzyklischen Gruppierung sowie mit den spezifischen Verbindungen zwischen Zyklusende, – mitte und -anfang, und fragt schließlich nach den Konstitutionsebenen des zyklischen Bedeutungsaufbaus.
Typen der Beziehungen zwischen den Gedichten
Zwischen den Gliedgedichten eines Zyklus können in sehr beschränktem Umfang zeitliche (“zeitlich-diegetische”) und in höherem Maß nichtzeitliche Beziehungen bestehen. Letztere können auf Ähnlichkeit oder auf Kontrast beruhen. Im Bereich der nichtzeitlichen Beziehungen können poetische und thematische Beziehungen unterschieden werden. Poetische Beziehungen beruhen auf gattungsmäßigen, formalen (Metrum und Rhythmus, Reimstruktur, Strophenbau, Stilregister) und/oder positionellen (auch: zahlenbezogenen) Verbindungen. Thematische Verbindungen beziehen sich u.a. auf Eigenschaften und Aspekte von dargestellten Gegenständen, Personen, Situationen, Emotionen und gedanklichen Konzeptionen. Zu synthetischen Verbindungen all dieser Beziehungsarten kommt es bei der Konstituierung des zyklischen Subjekts (des auktorialen Subjekts des Zyklusganzen – s.u.). Es sollte deutlich sein, dass diese Beziehungen niemals sämtliche Elemente und Aspekte des Bedeutungsaufbaus der beteiligten Gedichte umfassen, sondern in der Regel nur einige davon.
Gruppierungen innerhalb des Zyklus
Zusätzlich zu den genannten Beziehungstypen können Direkt-, Nah- und Distanzbeziehungen zwischen den Gliedgedichten unterschieden werden. Direkt- und Nahbeziehungen konstituieren Subzyklen (komponiert als Serien oder Rahmen- bzw. Schachtelkompositionen), die oftmals drei oder mehr direkt aufeinanderfolgende Gedichte umfassen; die Grenzen zwischen den Subzyklen sind prinzipiell ambivalent und durchlässig. Distanzbeziehungen zwischen oft weit voneinander entfernten Gliedgedichten ergeben “zyklische Stränge”, deren Gemeinsamkeit auf einem formalen Merkmal mit gleichartigem thematischem Hintergrund beruhen kann, aber möglicherweise auch aus dem gemeinsamen Beitrag dieser verstreuten Gedichte zu einem quasi-narrativen Strang herrührt, der sich heimlich durch den ganzen Zyklus ziehen mag. Ein wichtiger Sonderfall der Distanzbeziehung sind die Verbindungen zwischen Final-, Zentral- und Initialgruppe des Zyklus.
Konstitutive Ebenen und Dimensionen des Zyklus
Für den Bedeutungsaufbau des Gedichtzyklus lassen sich in Anknüpfung an Roman Ingarden sekundäre Konstitutionsebenen und Dimensionen ansetzen: eine sekundäre sprachliche Doppelschicht (Lautschicht, lexikalische und syntaktische Schicht) sowie eine sekundäre gegenständliche Doppelschicht (“schematisierte Ansichten” – imaginäre sinnliche, psychische und zeitlich-räumliche Ansichten; “Gegenständlichkeiten”: alle Objekte und Subjekte, die im Zyklus zur Sprache kommen, namentlich das zyklische Subjekt). Ferner hat der Gedichtzyklus eine ausgeprägte zeitliche Dimension spezifischer Art. Kann man davon ausgehen, dass das einzelne lyrische Gedicht sich durch eine Tendenz zur Neutralisierung seiner zeitlichen Dimension auszeichnet, so lässt der Gedichtzyklus mit seiner festgelegten Anordnung der Gedichte und mit seinem bloßen Umfang eine derartige Neutralisierung nicht zu. Es ist sogar zu fragen, ob die spezifische Zeitbehandlung im Gedichtzyklus (repetitiv, zirkulär, anti-linear) “sekundär” genannt werden kann.
Das Subjekt und die Subjekte, die sich im Gedichtzyklus zum Ausdruck bringen oder zum Ausdruck gebracht werden, verlieren ihre im Rahmen poetischer Fiktion gedachte ontologische identitäre Basis und gehen in den Schwebezustand einer assoziativen Kette von oft sehr verschiedenen und nicht selten sogar widersprüchlichen Subjekt-Varianten über. Das auktoriale Subjekt des Gedichtzyklus ist die dispersive und vage schillernde Projektion aus der Gesamtheit der lyrischen Subjekte und Sprechersubjekte der Einzelgedichte. Es ist resultativ, es geht aus den semantischen Bewegungen des Zyklus hervor und ist ihm nicht statisch vorgegeben. Es geht insbesondere hervor aus einer Projektion aller in den Gedichten vorkommenden Subjekte auf die Stelle des zyklischen Subjekts, und diese Projektion kommt nicht zu einem definitiven Ende.
Auf der Ebene des “Sujets” (des ordo artificialis aller Komponenten) der Gedichtzyklen kommt dieser Sachverhalt in verschiedener Weise zum Ausdruck. Wenn in den pragmatischen (narrativen und dramatischen) Genres jedes Subjekt idealiter seine Identität wesentlich auch aus seinen sukzessive zurückgelegten Lebensphasen bezieht, kommt es beim zyklischen Subjekt häufig zu einer gänzlich unsukzessiven Vermischung von Erinnerungs- und Gegenwartszuständen, von Jetzt und Früher. Ferner kann es die Grenzen seines individuellen Ich durch die Zuwendung zu einem geliebten anderen Subjekt, zu einer Gemeinschaft von Subjekten, oder zu einer höheren metaphysischen Instanz überschreiten. Nicht selten kommt dies aber auch durch die Einführung ”fremder poetischer Subjekte” oder mehrerer ”alter ego” des zyklischen Dichters zum Ausdruck – z.B. der Dichterkollege Hafis oder die Mit-Dichterin Suleika in Goethes West-östlichem Divan, Petrarca und der Mirza in den Sonetten von Adam Mickiewicz, Allah und der Prophet in Puškins Nachahmungen des Korans.Auf den unteren Etagen des Bedeutungsaufbaus eines Gedichtzyklus betrifft dies die Deixis-Problematik, die in unserem Projekt von Andrej Dobricyn bearbeitet wurde: die in den Gedichten des Zyklus auftretenden er-, du- und ich-Subjekte stehen schon innerhalb eines einzigen Gedichts, erst recht aber im Raum der zyklischen Zusammenordnung der Gedichte, nicht mehr im Verhältnis gesicherter Identität, sondern im Verhältnis der poetischen Äquivalenz.
Eine solche allgemeine Theorie von unten lässt sich mit etwas Glück auf komponierte Gedichtgruppierungen vieler Arten und Umfänge anwenden, von einem Kurzzyklus wie Goethes ”Urworte. Orphisch” bis hin zum besonders umfangreichen ”West-östlichen Divan”, aber auch auf nicht wenige komponierte Gedichtbücher, die nicht notwendigerweise Gedichtzyklen im strengen Wortsinn sein müssen.
Definition des Gedichtzyklus “von oben”
Im Folgenden soll eine definitorische Fortschreibung der oben skizzierten Charakteristik des Gedichtzyklus vorgeschlagen werden, die bestimmte Aspekte einer literarhistorischen und gattungsgeschichtlichen Betrachtungsweise bereits einbezieht und dabei auch klare Abgrenzungen von einigen genera proxima des Gedichtzyklus vornimmt. Diese Abgrenzungen dienen nicht zur Ausblendung, sondern im Gegenteil zu einer begriffsschärferen Einbeziehung der genera proxima in die angestrebte Darstellung der betreffenden “gattungsgeschichtlichen” Entwicklungsbewegungen.Es ist darauf hinzuweisen, dass die literaturwissenschaftliche Definition einer Gattung oder eines locker damit verwandten Phänomens, wie der Gedichtzyklus eines ist, nicht nur Spezifika, also Eigenschaften enthält, welche ausschließlich dem Definiendum zukommen, sondern auch Charakteristika, d.h. Eigenschaften, welche das Definiendum mit anderen Phänomenen gemeinsam hat. Das Spezifische liegt vor allem in der obligatorischen Konfiguration der Eigenschaften.
Ein Gedichtzyklus ist jede vom Autor selbst komponierte Gedichtgruppierung, die den nachfolgend in zwei Punkten entwickelten Regeln genügt.
1. Das autonome Einzelgedicht und das zyklische Ganze.
Jedes Gedicht muss mit zumindest einigen Elementen seines Bedeutungsaufbaus und mit seiner Position unter den anderen Gedichten für das zyklische Ganze bedeutungstragend sein. Dabei muss sich eine Spannung zwischen dem Bedeutungsaufbau des Einzelgedichts und dem Bedeutungsaufbau des zyklischen Ganzen herstellen. Das zyklische Ganze muss die (wenngleich nicht unangefochtene) Autonomie seiner Einzelgedichte wahren; zum hierarchisch aufgebauten, um einen festen ästhetischen Kern angelagerten, mit soliden Grenzen ausgestatteten “literarischen Kunstwerk” im Sinne des traditionellen, z.B. Ingardenschen, ästhetischen Werkbegriffs kann es daher nicht werden[2].
2. Umfassende Kompositionsidee und neue Sinngestalt.
Die Anordnung der Gedichte muss als Ganzes gelesen eine mehr oder weniger prägnante Kompositionsidee und eine darin verankerte, in den Einzelgedichten im Prinzip nicht enthaltene neue Sinngestalt (eine spezifische Situation, eine spezifisch angedeutete “Geschichte”, eine gedankliche Konzeption, oder ähnliches)[3] ergeben, die nicht dominieren dürfen. Die Verbindung von Kompositionsidee und neuer Sinngestalt wird in der Regel in einer mehr oder weniger drastisch negierten Ganzheitsvorstellung münden. Die Ganzheitsvorstellung wird suggeriert, aber nie sanktioniert; da sie nicht dominieren darf, enthält der Zyklus immer auch zahlreiche Elemente, welche der Ganzheitsvorstellung widersprechen. Der Gedichtzyklus ist eine prinzipiell offene Form.
Die Regel vom nicht dominierenden Zusammenhang zwischen Kompositionsidee und neuer Sinngestalt unterscheidet den Gedichtzyklus von zwei unterschiedlichen anderen Arten der auktorialen Gruppierung von Gedichten: vom Typus der zufälligen oder bewusst antizyklischen (z.B. rein chronologischen, asyndetischen) Gruppierung sowie vom Typus der kunstvoll Text mit Text verknüpfenden Aneinanderreihung von Gedichten gleicher Gattung, oder gleicher Strophenform, oder gleicher Themen, ohne umfassendere Kompositionsidee und ohne neue Sinngestalt. Es lässt sich aber nicht a priori ausschließen, dass im konkreten Fall einige solcher anscheinend rein äußerlich-formalen Gruppierungen – z.B. die Abteilung “Elegien” oder “Oden” in dem Gedichtbuch eines frühneuzeitlichen Autors – heimlich doch als Gedichtzyklen konzipiert sind.
2.1. Einige Grundfiguren zyklischer Kompositionsideen.
Die Kompositionsidee des Gedichtzyklus kann auf unterschiedlichen Grundvorstellungen beruhen, die keine Theorie abschließend dingfest machen und in klare Regeln fassen kann. Eine Grundtendenz bei allen Zyklen ist sicherlich die Annäherung an irgendeine kompositorische Symmetriefigur, verbunden mit einer spezifischen Deformation des damit verbundenen Symmetrieprinzips. Möglich ist die Vorstellung des Kreises mit einem Zentrum, die Vorstellung der Ellipse mit zwei Zentren, die Vorstellung der “Kette” (Wantuch 1985), und vieles andere mehr. Nicht selten kommt auch die Kompositionsfigur des wiederholten, idealiter “unendlichen” An- und Abschwellens vor; als Sonderform dieser Kompositionsfigur kann das “alle Maßstäbe sprengende” Anschwellen eines der Schlusstexte gegenüber den vorangehenden Texten beobachtet werden (Baratynskijs “Sumerki”, Baudelaires “Fleurs du mal”, Norwids “Vade-mecum”, Różewiczs “Twarz” 1965). In allen Fällen müssen die Finalgruppe, die Zentralgruppe(n) und die Initialgruppe der Gedichte des Zyklus in spezifische Beziehungen zueinander treten.
2.2. Die neue zyklische Sinngestalt in Abgrenzung von der nichtzyklischen Gedankenkonzeption und vom nichtzyklischen Narrativ.
Die neue Sinngestalt muss die Autonomie der einzelnen Gedichte wahren und darf diese daher nicht zu bloßen Teilen und Phasen eines größeren Ganzen degradieren[4]; sie ist, wie schon gesagt, obligatorisch rezessiv. Wird diese Bedingung nicht erfüllt, d.h. beginnt die neue Sinngestalt zu dominieren, so nähert sich die Gedichtgruppierung dem philosophischen oder narrativen Poem an. Hier liegt sicherlich ein gravierendes Dilemma der literaturwissenschaftlichen Zyklus-Analyse. Ermittelt diese nämlich an einem konkreten Gedichtzyklus den gesuchten verborgenen Zusammenhang von Kompositionsidee und Sinngestalt, so erhebt sofort die Gefahr der Überinterpretation ihr hässliches Haupt, denn in der Darstellung der Analyse-Ergebnisse wird dieser konkrete Zusammenhang fast unweigerlich dominieren – was er im Zyklus selbst per definitionem nicht tut.
Falls die neue Sinngestalt im Wesentlichen auf einer in der Kompositionsidee verankerten gedanklichen Konzeption beruht, muss das Prinzip des widerspruchsfreien Argumentationsablaufs von den Prämissen über das Allgemeine hin zum Konkreten, oder umgekehrt vom Speziellen und Konkreten zum Allgemeinen, der Deduktion oder Induktion, ersetzt werden durch die durchaus widerspruchshaltige poetisch-assoziative Verbindung fragmentarischer gedanklicher Elemente.
Falls der neue Sinngehalt eine in der Kompositionsidee verankerte “Geschichte” oder “zyklische Diegese” ist, wird eine analoge Regel postuliert: bei der Darbietung der Geschichte muss das narrative Prinzip der Identität der Elemente der Geschichte (Identität des Raums, des Zeitablaufs, der Personen), der letztlich widerspruchsfreien Verbindung von Ursache und Wirkung und der Ordnung des Vorher und Nachher durch völlig andere Prinzipien ersetzt werden: durch den Grundsatz der suggestiven Andeutung, der paradoxen Assoziation der fragmentarischer Elemente angedeuteter Subjekte und Objekte sowie der anachronistischen Verknüpfung der Zeitmomente angedeuteter Kausalzusammenhänge, Abläufe und “Geschichten”.
Mit dieser Festlegung ist eine deutliche Abgrenzung des Gedichtzyklus gegenüber den Gattungen des narrativen Poems oder der Versnovelle, des philosophischen Poems oder des Verstraktats gegeben; allerdings gibt es Übergangserscheinungen, wenn narrative oder philosophische Poeme in ihrer Komposition besonders stark fragmentarisiert werden, die Fragmente den Status autonomer Texte annehmen und der Geschehensablauf oder die Sinngestalt ihre alles unterordnende Dominanz einbüßen.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Gedichtzyklus (wie aber auch das komponierte Gedichtbuch) in seiner “neuen” Sinngestalt neben anderem häufig auch poetologische und metapoetische Momente enthält: die Modellierung einer Dichterbiographie, eines Werdegangs der eigenen Poesie oder der Poesie überhaupt, und damit eines poetischen und näherhin manchmal sogar zyklusbezogenen Gattungsgedächtnisses.
Der folgende Punkt gilt als kommentierende Ergänzung zu den oben formulieren Regeln:
3. Formate von Gedichtzyklen. Abgrenzung von Gedichtbüchern.
Gedichtzyklen, welche die angeführten Regeln erfüllen, sind in beliebigem Format denkbar, vom Minimum der Dreiergruppe bis zum großen, durchzyklisierten Gedichtbuch mit mehreren hundert Gedichten. Eine prinzipielle Umfangsbeschränkung der Sekundärgattung des Gedichtzyklus lässt sich meiner Auffassung nach nicht halten. Auch verliert ein Zyklus nicht allein dadurch seinen Charakter als Zyklus, wenn er als eigenes Buch publiziert wird (Goethes “West-östlicher Divan”, Mickiewiczs “Sonette”, Baratynskijs “Sumerki”, Baudelaires “Les Fleurs du Mal”). Andererseits sind Gedichtbücher noch keine Gedichtzyklen, welche die poetische Produktion der ersten oder der letzten fünf oder zehn Jahre lediglich in einer nach Themen und Formen wohlgeordneten und wohlgegliederten Reihenfolge bringen; das gilt auch für ähnlich sorgfältig gegliederte “Gesamtausgaben des lyrischen Werks”. Von den in unserem Band behandelten Gedichtsammlungen betrifft dies beispielsweise die Gedichtbücher Victor Hugos, die “Rime nuove” Carduccis und die “Gedichte” C.F.Meyers. Es ist hier eine offene Frage, ob die Abfolge der in ihnen versammelten Gedichte zusätzlich noch die Verbindung einer umfassenden Kompositionsidee und einer neuen Sinngestalt ergeben und ob Anfang, Mitte und Schluss mit genügender Prägnanz miteinander verbunden sind. Es darf auch gefragt werden, ob die Verkettung mehrerer Zyklen in einem großen Buch (oder sogar in mehreren Bänden), wie sie besonders um 1900 Mode wurde, immer gleich in einem “Zyklus aus Zyklen” resultiert, oder ob es bei einer mehr oder weniger kunstreichen Aneinanderreihung von Gedichtzyklen bleibt. Aber ungeachtet der hier vorgenommenen Abgrenzungen des Gedichtzyklus von verwandten Kompositionsformen können sie alle zusammen in mehr oder weniger engen literarhistorischen Entwicklungszusammenhängen stehen.
2.4. Möglichkeiten und Probleme einer an literarhistorischer Empirie orientierten Typologie “des” Gedichtzyklus. Typologie und Kompositionsstile[5].
Die bisher skizzierte Theorie des Gedichtzyklus muss im Zusammenhang mit der Analyse von konkretem literarhistorischen Material auf dem Weg einer Typologie operationalisiert werden; der Sinn einer solchen Typologie ist es, Vergleichbarkeit zwischen den Exemplaren dieser “Sekundärgattung” herzustellen. Eine für die literarhistorische Arbeit sinnvolle und nützliche Typologie sollte vor allem darauf verzichten, alle irgend erdenklichen Fälle umfassen zu wollen; jede Einzelanalyse eines Gedichtzyklus und namentlich auch jede Einzelstudie zu einem Rezeptions- oder Entwicklungszusammenhang zwischen bestimmten Zyklen wird ihr Scherflein zu diesem Fragenkomplex beizutragen haben.
Weiterhin muss eine vernünftige Auswahl unter denjenigen Merkmalen “des” Gedichtzyklus getroffen werden, die für eine Typologie herangezogen werden sollen; die übrigen Merkmale und Besonderheiten sind dann für die Analyse des zyklischen Kompositionsstils fruchtbar zu machen. Eher bedeutsam für die Einschätzung des jeweiligen Kompositionsstils als für eine Typologie sind beispielsweise die unterschiedlichen Arten der Verbindung zwischen aufeinanderfolgenden Gedichten (Variation in engen Grenzen und fließende Übergänge mit gezieltem Einsatz weniger Kontraste oder Schaffung ausgeprägter Kontraste; eher formale, eher thematische oder eher quasi-narrative Verbindungen; Verbindungen über dominante bzw. nicht-dominante Elemente und Eigenschaften der Gedichte; Subzyklen eher als parataktische Serie oder hypotaktische Rahmenkomposition; zyklische Stränge eher thematisch oder eher quasi-narrativ angelegt).
Schließlich ist die Einsicht nützlich, dass allfällige Versuche, eine Typologie streng nach einem einzigen Satz von Prinzipien aufzubauen, früher oder später in einer Sackgasse enden müssen. So können zwischen formalen und thematischen Typen von Gedichtzyklen allenfalls vage Zusammenhänge angedeutet werden, auch wenn man davon ausgeht, dass im konkreten Fall jede formale Eigenschaft eines Gedichtzyklus semantisiert und thematisiert werden kann und umgekehrt jede thematische Einheit in ihrer poetischen Gestaltung zugleich auch als formales Kompositionsmittel eingesetzt werden kann.
Formale Typen des Gedichtzyklus
An den Anfang einer Typologie, die von formalen Merkmalen ausgeht, sollte vielleicht zweckmäßig die scheinbar banale Unterscheidung zwischen kleinen, mittleren und großen Gedichtzyklen gestellt werden. Der mittlere Typ (etwa 10 bis 20 vor allem kürzere Gedichte) ist wohl in allen neuzeitlichen Epochen zu erwarten; ein Sonderfall des mittleren Typs ist die Zyklisierung von weniger als zehn längeren Gedichten. Der Typus des kleinen Gedichtzyklus (meist drei bis fünf kurze Gedichte) ist für spät- und postromantische Phasen und für die nachsymbolistische Lyrik des 20. Jahrhunderts eher charakteristisch als für andere. Der kleine Gedichtzyklus wird fast immer, der mittlere häufig als Teil einer umfangreicheren Gedichtsammlung auftreten und auf unterschiedliche Weise mit den übrigen dort abgedruckten Gedichten verbunden sein[6]. Ein Sonderfall der Integration in eine umfangreichere Gedichtsammlung ist der “Zyklen-Zyklus” (Ronald Vroon 2000). Ob ein kleiner oder mittlerer Gedichtzyklus in impliziter bzw. verschleierter Form (z.B. unter der Überschrift “Verschiedene Gedichte”) oder mit expliziten Signalen (z.B. Vorwort, Titel, Motto, Nummerierung, Zwischentitel, deutlich metazyklische Gedichte im Anfangsbereich, Nachwort, Anmerkungen) in Erscheinung tritt, ist wohl eher eine Stilfrage als ein Typologieproblem.
Der Typus des großen Gedichtzyklus zerfällt häufig in “Abteilungen” oder “Bücher”, deren typologische Verwandtschaft mit Formen des kleinen und mittleren Gedichtzyklus offenkundig ist. Von Goethes “Divan” und von den zyklusnahen Gedichtbüchern Heinrich Heines und Victor Hugos führt über Giosuè Carducci, Walt Whitman und Emile Verhaeren eine Linie zum epochentypischen Großzyklus der Poesie um 1900.
Bei kleinen und mittleren Gedichtzyklen kann Einheitlichkeit der Gattung der Gliedgedichte (Epigramm-, Elegien-, Sonett-, Balladenzyklen etc.) vorkommen. Bei großen Gedichtzyklen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist dies eher unwahrscheinlich, allerdings kommen darin regelmäßig Abteilungen oder “Bücher” mit gattungsmäßig einheitlichen Gedichten vor.
Das Prinzip der gattungsmäßigen Verschiedenheit der Gliedgedichte kommt in allen Formaten vor. Die verschiedenen Gedichtgattungen einschließlich der dazugehörigen Strophenformen, metrischen Formate und rhythmischen Verfahren müssen in einem Gedichtzyklus nach einer nachvollziehbaren Kompositionsstrategie eingesetzt sein; die Verschiedenheit der Gattungen kann auch zum impliziten Thema eines Gedichtzyklus werden[7].
Typologisierungsmöglichkeiten ergeben sich ferner aus der Anlehnung bestimmter Gedichtzyklen an diverse genera proxima, als da sind: Poeme, Novellen, Legenden, Märchen, Romane, Epen; Dramen, Kantaten, Opern; musikalische Kompositions- und Zyklisierungsformen; verschiedene Typen von anonymen Gedicht- oder Volksliedersammlungen (Anthologia graeca; Des Knaben Wunderhorn), graphische Zyklen und Alben, Gemälde- und Skulpturenzyklen und –galerien, und vieles andere mehr. In diesem Bereich ist wohl die Unterscheidung zwischen “quasi-narrativen”, “quasi-dialogischen” und “quasi-musikalischen” Typen von Gedichtzyklen anzusiedeln. Gerade hier sind vielfältige Übergänge zu thematischen Typen gegeben.
Völlig andere Typologisierungsprinzipien können aus dem unterschiedlichen kompositorischen Einsatz der lyrischen Sprechersubjekte des Zyklus abgeleitet werden. Denkbar ist hier die – analog zur Erzähltheorie konzipierte – Unterscheidung zwischen einem “auktorialen” Typus (weitgehende Transparenz aller Sprechersubjekte der Einzelgedichte für das zyklische Subjekt) und einem “rollenorientierten” Typus (starke Autonomisierung der Sprechersubjekte gegenüber dem zyklischen Subjekt; alle Gedichte eines Zyklus sind einem einzigen fiktionalisierten “Rollen-Subjekt” (Orpheus, Anakreon, Hafis, Zarathustra, Kassandra, ein Melancholiker, ein Wahnsinniger, ein unglücklicher junger Bauer etc.) zugeordnet und mitunter auch entsprechend stilisiert.
Thematische Typen von Gedichtzyklen (in Anlehnung an Vorgaben von Philippe Sudan)[8]
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es thematisch orientierte Typen von Gedichtzyklen gibt, die im historisch sich wandelnden Gattungsbewusstsein eine beträchtliche Rolle spielen (Liebeszyklen, Reisezyklen). Andererseits sind mit einer thematisch orientierten Typologie Schwierigkeiten verbunden. Zum einen ist da das Problem der nichtobligatorischen formalen Affinitäten eines bestimmten thematischen Typus (der Typus des Liebeszyklus ist traditionell mit den formalen Typen des Elegien- und des Sonettzyklus verbunden); möglicherweise lassen sich diese formalen Affinitäten dem Bereich des Kompositionsstils zuschlagen. Zum anderen hat eine thematische Typologie mit der Schwierigkeit zu tun, einen Zusammenhang mit den oben postulierten, an eine prägnante Kompositionsidee gebundenen neuen Sinngestalten herzustellen. Die neuen Sinngestalten sind in allen irgendwie anspruchsvollen Gedichtzyklen sozusagen zwiebelförmig, fächerartig oder verschachtelt gebaut und können daher mitunter heterogenste Themen auf das Paradoxeste verbinden. Auf diese Weise werden Affinitäten zwischen unterschiedlichen thematischen Typen hergestellt (z.B. Liebeszyklus und poetologischer Zyklus), die nicht allein als Stilphänomene verbucht werden können, aber in einer überschaubaren Typologie auch keine angemessene Systemstelle finden.
In dieser Lage richtet sich der am 19. und frühen 20. Jahrhundert interessierte Typologe vielleicht am zweckmäßigsten am zyklischen Subjekt als der bedeutendsten Komponente vieler Gedichtzyklen aus und unterscheidet nach eher subjektnahen und eher subjektfernen Themen – im Wissen um die grundsätzliche identitäre Inkonsistenz des zyklischen Subjekts und im Bewusstsein dessen, dass in anspruchsvoller zyklischer Lyrik subjektnahe Themen immer eine poetische Objektivierung und subjektferne Themen immer auch eine spezifische Subjektivierung erfahren. Jedes einzelne subjektnahe oder subjektferne Thema, das einen Zyklustyp begründet, steht im Verhältnis mehr oder weniger spezifischer Affinität zum weiten Bereich der lyrischen Gattungsformen und darüber hinaus auch zu einem oder mehreren der oben aufgezählten formalen Zyklustypen, denn jedes tonangebende Thema wirkt sich in einer Semantisierung der formalen Kompositionsmittel aus; formale Verfahren begünstigen umgekehrt auch bestimmte Themen. Dies im Einzelnen auszuführen ist Aufgabe von Einzelinterpretationen.
Die großen subjektnahen Themen sind wie im lyrischen Einzelgedicht die Freundschaft, die Liebe, der Tod und die Trauer, die Melancholie, die Freude, der Enthusiasmus und weitere quasi-autobiographische Emotionen, der metaphysische Bereich mit Meditation und Gebet, Traumvisionen und ekstatischen Gesichten, das Naturerlebnis, das Erlebnis der verrinnenden Zeit, die Poesie selbst (oder stellvertretend für sie eine der anderen Künste) und die damit verbundenen Inspirationserlebnisse, und vieles andere mehr. Jedes dieser Themen kann in einem Gedichtzyklus tonangebend werden und die Etablierung eines entsprechenden Zyklustyps (Liebeszyklus, Trauerzyklus, etc.) rechtfertigen; es ist freilich damit zu rechnen, dass “alle” übrigen subjektnahen Themen im konkreten Fall ebenfalls eine bedeutsame Rolle spielen, und dass der ganze daraus resultierende Themenkomplex in einer dynamischen, auch zeitlich bestimmten zyklischen Gesamtstruktur aufgeht. Ein überwiegend poetologischer Zyklus kommt wahrscheinlich eher selten vor; dagegen ist anzunehmen, dass das poetologische Thema mehr oder weniger heimlich und verborgen in den meisten Zyklen mitschwingt, gleichgültig ob die Thematik eher subjektnah oder subjektfern ist.
A priori subjektferne Themen sind Zyklen zu magisch-naturwissenschaftlichen Themen wie Pflanzen, Bäumen und Tieren, oder zur leblosen Materie wie Steinen und Mineralien, zu philosophischen oder quasi-philosophischen Themen wie der Freiheit, der Pflicht, der Zeit, zu umstrittenen politischen und weltanschaulichen Problemen und Optionen, zur National- oder Menschheitsgeschichte, aber auch zur Kultur-, Kunst- und sogar Literaturgeschichte. Als besonderer Typus ist in diesem Bereich der Porträt-Zyklus hervorzuheben, der Personen (Künstler, Könige, anonyme Charaktere), Natur- oder Kunstgegenstände (Steine, Mineralien, Bäume; Preziosen, Kunstwerke, Denkmäler, Gärten), Landschaften, Tageszeiten, Jahreszeiten, Lebensalter, usw. skizziert. Freilich ist, wie schon gesagt, zu erwarten, dass diese Themen untereinander und mit subjektnahen Themen vermischt werden und eine erhebliche poetische Subjektivierung erfahren.
Ein Zyklustyp, der nahezu ebenso verbreitet ist wie der subjektnahe Liebeszyklus, ist der Reisezyklus, der subjektnahe und subjektferne Themen auf das Zwangloseste vereinen kann. Philippe Sudan erwähnt spezielle Typen der “Italienreise”, der “Griechenlandreise”, der “Afrikareise” usw., ferner das Thema der Reise in die nahe Umgebung, zum Beispiel aufs Land (im Gegensatz zur Stadt), und schließlich die imaginären Reisen, “Höllenreisen”, “Orpheuszyklen” usw. Der Reisezyklus lässt sich auch ideal mit den allermeisten anderen thematischen und formalen Zyklustypen vermischen; Reisemotive üben in zahlreichen Gedichtbüchern und Gedichtsammlungen eine zyklisierende Wirkung aus.
Diese Paraphrase von Philippe Sudans Vorschlag einer thematischen Zyklustypologie gibt Anlass zu der Bemerkung, dass sicherlich nicht alle von ihm ins Auge gefassten Typen gleichermaßen den Regeln des Gedichtzyklus angepasst sind, sondern auch Gedichtbücher umfassen, die im strengen Sinn keine Zyklen sind. Dieser Nebeneffekt einer thematischen Typologie mag von einem abstrakt theoretischen und rein klassifikatorischen Standpunkt aus störend sein; vom Standpunkt einer historischen Betrachtungsweise ist er höchst nützlich und sehr willkommen.
Damit schließen wir unseren Überblick über Probleme einer praxisnahen Typologisierung ab und gehen nunmehr über zu einigen Fragen der literarhistorischen Betrachtung des Gedichtzyklus über.
Probleme der Entwicklungskohärenz.
Obwohl sich der Gedichtzyklus als “Sekundärgattung” in manchem von den hergebrachten Primärgattungen unterscheidet (vor allem durch die obligatorische Nicht-Dominanz einiger seiner wesentlichen Charakteristika und Spezifika), können im Verlauf der “gattungsgeschichtlichen” Evolution ähnliche “Mechanismen” und Effekte angesetzt werden wie bei der Evolution einer primären Gattung. Beim Gedichtzyklus stellt sich dabei das Problem der Entwicklungskohärenz deutlicher als bei anderen Gattungsgeschichten. Es ist nicht immer deutlich, ob ein Autor die Kompositionsform des Gedichtzyklus anfänglich quasi neu erfindet, um erst nachträglich allmählich die Traditionen dieser Kompositionsform im Interesse seiner eigenen poetisch-kompositorischen Arbeit zu ergründen, oder ob er von Anfang an im kreativen Bewusstsein dieser Tradition seine eigenen Gedichtzyklen erarbeitet. Dieses Problem besteht in den Primärgattungen sicherlich ebenfalls, es wird dort nur nicht so sichtbar. Der Literarhistoriker muss sich jedenfalls im Klaren darüber sein, dass er die Entwicklungskohärenz seines Gegenstandes in einem gewissen Umfang notwendigerweise selbst konstruiert – natürlich nicht völlig willkürlich, sondern gestützt auf seine literarhistorische Erfahrung.
Idealtypische Entwicklungsabläufe zwischen Kontinuitäten und paradoxen Sprüngen
Zu solcher Konstruktion gehört die Modellierung bestimmter idealtypischer Entwicklungsabläufe. Am Anfang eines gedachten Entwicklungsverlaufs, z.B. im Rahmen des Individualoeuvres eines Autors mehrerer Gedichtzyklen und verwandter Formen, steht vielleicht ein verhältnismäßig kleines Zyklusformat; dieses kann im Lauf der Zeit zu größeren Strukturen anwachsen, danach wieder in kleinere Formate zerfallen und schließlich nur noch ein mehr oder weniger prägnantes Zyklisierungsprinzip umfangreicherer “Sammelausgaben” von Gedichten übrig lassen, denen dann erneut genuin zyklischen Kompositionen folgen, usw. Die Elemente und Phasen dieser schematisierten Evolutionsfigur können bei verschiedenen Dichtern übrigens offenbar in jeder beliebigen anderen Reihenfolge und in fast beliebiger Wiederholung auftreten: einem sehr großen Zyklus können in einem Individualoeuvre umfangreichere nichtzyklische Gruppierungsweisen neben kürzeren, konzentrierteren Gedichtzyklen folgen, diesen wiederum große, nicht-zyklische Gruppierungs- und Kompositionsformen, etc.
Es kann im Übrigen auch geschehen, dass das zyklische Prinzip eine Zeitlang mehr und mehr auch die Komposition von großen Gedichtbüchern tangiert und diesen ein deutlicheres zyklisches Gepräge verleiht; sie werden dadurch sicher nicht alle zu vollgültigen Zyklen, treten aber in einen engen Zusammenhang mit der Entwicklung des Gedichtzyklus. Eine derartige Entwicklung ist bei den Sammelausgaben der Lyrik Goethes anzusetzen; sie schreibt sich dann fort in den deutlich stärker zyklisierten großen Gedichtbüchern Heinrich Heines, Victor Hugos, Giosuè Carduccis, Jan Nerudas, Jaroslav Vrchlicky´s, Emile Verhaerens und schließlich in den Großzyklen vieler europäischer Dichter um 1900.
Bei all diesen Evolutionsbewegungen begegnen einander ständig Entwicklungskontinuitäten und paradoxe Entwicklungssprünge. Der Literarhistoriker kann den Kontinuitätsaspekt durch die bekannten Maßnahmen fördern: er kann sein Gebiet in Teilbereiche zerlegen, wie z.B. die Darstellung der Evolution europäischer Sonettsequenzen im 19. Jahrhundert einschließlich des spezifischen Anteils von Sonetten an Gedichtzyklen, die auch andere Gedichtformen enthalten[9]. Analog kann er auch mit Epigrammen und Epigrammsammlungen verfahren. Besonders aussichtsreich ist ferner die Verfolgung der Evolution bestimmter thematischer Zyklustypen, allen voran des Reisezyklus; auch hier lässt sich Kohärenz unschwer herstellen[10].
Wichtig und relevant ist aber auch der Aspekt des paradoxen Entwicklungssprungs, wie er in der Studie über Mickiewiczs Rezeption von Goethes “West-östlichem Divan” (in diesem Band) aufgezeigt wurde. Ein Goethe-Bezug ganz besonderer Art lässt sich für den russischen Symbolisten Vjačeslav Ivanov ansetzen: die großzyklische Form, die er seinem ersten Gedichtbuch “Leitsterne” (Kormčie zvezdy) verleiht und mit der er u.a. die Idee der Überschreitung der engen Grenzen des Lyrischen und der Vereinigung der Künste gestaltet, ist sichtlich von Goethes “Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des west-östlichen Divan” inspiriert – und übrigens höchstwahrscheinlich auch vom “Divan” selbst. Diese Sprunghaftigkeit und Paradoxie der Rezeptionsbeziehungen und Entwicklungszusammenhänge ist vielleicht besonders charakteristisch für die Evolution des Gedichtzyklus und der zyklisierten Lyrik im 19. und frühen 20. Jahrhundert[11].
Fazit
Der vorliegende theoretisch-methodische Epilog hat bewusst das Paradox in Kauf genommen, dass er zum einen eine verschärfte Theorie des Gedichtzyklus skizziert und zum anderen eine Einbeziehung von mit dem Gedichtzyklus lediglich verwandten Kompositionsformen in die literarhistorische und komparatistische Poesieforschung postuliert[12]. Wenn es richtig ist, dass der anspruchsvolle Gedichtzyklus im Prinzip als spezifische Negation und Deformation immanent normativer Kontinuitäts- und Symmetrieideen in Erscheinung tritt, so ist schwerlich vorhersagbar, zu welchen Ergebnissen solche Negation und Deformation führen kann. Im Grunde ist unser Forschungsprojekt an den Punkt gelangt, wo eine literarhistorisch orientierte Typologie des Gedichtbuchs dringend erforderlich wird. Erst wenn eine solche Typologie, abgestützt auf breites europäisches Material, vorliegt, kann die Frage des Gedichtzyklus und der mit ihm verwandten Formen noch weiter eingegrenzt und damit präzisiert werden.
[1] Erheblich umgearbeitete Fassung des Vortrags an der Zyklus-Konferenz in Peredelkino (November 2001). Ich stütze mich in einigen Punkten auf die Diskussionen in der Freiburger Gruppe “Probleme des europäischen Gedichtzyklus” (Philippe Sudan, Alessandro Martini, Andrej Dobricyn, Katerina Krivanek, Joe Monaco, Rolf Fieguth); auch habe ich meinen russischen Kollegen Igor’ Fomenko, Valerij Tjupa, Michail Darvin, Samson Brojtman, Natan Tamarčenko und anderen für anregende Diskussionen bei verschiedenen Gelegenheit zu danken.
[2] Zu Ingardens Werkbegriff s. u.a. Ingarden 1996. In gleicher Weise kann m.E. ein Gedichtzyklus nicht als “Text” oder als “Makrotext” bezeichnet werden, wie Cappello 1998 dies in seinem ansonsten sehr anregenden Buch tut.
[3] Die einschränkende Formulierung “im Prinzip” rechnet mit der Möglichkeit, dass der die neue Sinngestalt der Gedichtgruppe entdeckende Leser oder Interpret sie nachträglich in einem oder sogar mehreren Gedichten des Zyklus bereits angedeutet findet.
[4] In dem ursprünglichen Vorwort zu seinem Zyklus “Urbi et Orbi” (1903) übertreibt der russische Dichter Valerij Brjusov erheblich, wenn er statuiert: “Ein Gedichtbuch darf keine Zufallssammlung verschiedenartiger Gedichte, sondern muss eben ein Buch sein, ein geschlossenes Ganzes, das von einem einzigen Gedanken zusammengefasst wird. Wie ein Roman, wie ein Traktat, entfaltet ein Gedichtbuch seinen Inhalt folgerichtig von der ersten bis zur letzten Seite. Ein Gedicht, das man aus seinem Gesamtzusammenhang herausreißt, verliert genau so viel wie eine einzelne Seite, die man aus einem zusammenhängenden Gedankengang herauslöst.” (nach Brjusov 1971, 604 f.). Sein Gedichtbuch ist auch keineswegs so gebaut, auch wenn Blok ihm dies in seiner Rezension (1904) generös bescheinigt (Blok 1962, 540 f.).
[5] Diese Überlegungen zur Typologisierung von Gedichtzyklen gehen auf zahlreiche Diskussionen in unserer Forschungsgruppe zurück; besonders hervorzuheben ist der Anteil von Philippe Sudan.
[6] Besonders beliebt in den postromantischen Phasen der Poesiegeschichte ist der in einer größeren Gedichtsammlung aufscheinende, durch Titel und Nummerierung deutlich herausgehobene mittlere Gedichtzyklus, dem anschließend einige motiv- und formähnliche Gedichte folgen, welche zu den weiteren Gedichten der Sammlung überleiten.
[7] Das lässt sich inbesondere an Goethes “Divan” (1819) und an Vjačeslav Ivanovs “Leitsternen” (Kormčie zvezdy; 1903) zeigen.
[8] Der nachfolgende Abschnitt profitiert in besonderem Maß von Philippe Sudans unveröffentlichtem Diskussionspapier zu den thematischen Zyklustypen (Sudan 1999).
[9] Vorstudien liegen in beträchtlicher Zahl vor. In unserer noch nicht sehr perfekten Bibliographie zum Gedichtzyklus kommen wir auf nicht weniger als 75 Studien zu Sonettzyklen und –sequenzen verschiedenster Literaturen und Epochen.
[10] In diesen Bereich gehört ferner Igor Fomenkos 2001 Darstellung der russischen und ukrainischen Rezeptionen von Mickiewiczs Krim-Sonetten, die sich auf den besonders produktiven thematischen Typ des Reisezyklus konzentrieren konnte; Fomenko verwies dabei auf Siegfried Ulbrechts Forschungsprojekt zum Reisezyklus, das ebenfalls den Vorteil einer Sicherheit gewährenden festen thematischen Basis aufweist.
[11] Vgl. hierzu Darvins 2001, 241 Klage über das Fehlen einer Theorie der auktorialen Werkausgabe (сборник художественных произведений).
[12] Einen anderen Weg ist Henseler 2002 mit seinem Konzept der “großen beweglichen Texte” gegangen, mit welchem er die Gegensätze zwischen Gedichtzyklus, Poem und anderen Arten der Gruppierung kürzerer Gedichttexte zu überwinden trachtet.