Goethe-Reflexe in Mickiewiczs Gedichtzyklen

Rolf Fieguth und Alessandro Martini (Hrsg.), Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, Bern 2005, 53-78

Rolf Fieguth

Adam Mickiewiczs Gedichtzyklen “Balladen und Romanzen” (1822) und “Sonette” (1826) und ihre Goethe-Reflexe[1].

Der polnische Dichter Adam Mickiewicz (1798-1855) gehört zu den herausragenden Gestalten der europäischen Romantik[2]. Insbesondere ist er mit drei Werken in die Weltliteratur eingegangen: mit seinen “Sonetten” (“Sonety”, 1826), seinem romantischen Drama “Totenfeier III” (“Dziady” III, 1832) und mit seinem in vieler Hinsicht bereits post- und antiromantischen “Herrn Thaddäus, oder der letzte Einritt in Litauen” (“Pan Tadeusz…”, 1834)[3], einem der ganz wenigen gelungenen größeren Versepen der “Moderne”.

Zu besserem Verständnis seiner beiden hier zu präsentierenden Gedichtzyklen ist ein Blick in die Geschichte notwendig. Adam Mickiewicz wird 1798 als russischer Zwangsuntertan polnischer Nationalität in oder bei Nowogródek im heutigen Weißrussland geboren, traditionell Teil des Großherzogtums Litauen, das seit 1569 einen Staatenbund mit dem Königreich Polen gebildet hatte und 1795 von dem ohnedies zerstückelten Polen abgetrennt und dem Russischen Reich einverleibt worden war. Er wuchs also im Bewusstsein der russischen Fremdherrschaft auf. Als Student in Wilna, junger Lehrer in Kowno und zugleich strahlender Stern der jungen polnischen Romantik gehörte er einem konspirativen patriotischen Zirkel an. Dafür musste er vier Jahre (1824-1828) unter Aufsicht in Russland (u.a. Odessa, Moskau und Petersburg) leben, was seinen Ruhm eher förderte; hier entstanden die berühmten “Sonette”. Ab 1828 hielt er sich bis zu seinem Tod im westlichen Europa auf, darunter kurzfristig in Deutschland, in Italien und in der Schweiz, schließlich dauerhaft in Paris.

Mickiewiczs “Balladen und Romanzen” (1822) und sein Doppelzyklus “Sonette” (1826; enthaltend die ’Odessaer’ “Sonette” und die “Krimsonette”) werden hier als Exempel einer bestimmten Phase der romantischen Periode des europäischen Gedichtzyklus vorgeführt[4]. Die europäische Perspektive wird durch den Bezug auf Goethe eingebracht, wobei Goethes Bedeutung für den europaweiten poesiegeschichtlichen Prozess jener Zeit weder über- noch unterschätzt werden soll; diejenige Byrons ist keinesfalls geringer, kann hier aber nicht behandelt werden[5]. Von Goethes Gedichtgruppen und Zyklen werden die “Balladen und Romanzen”, die “Römischen Elegien”, die “Sonette” und der “West-östliche Divan” (in seiner ersten Fassung von 1819) in die Betrachtung der Mickiewiczschen Zyklen einbezogen. Dem “Divan” gilt unsere Aufmerksamkeit in besonderer Weise, weil Mickiewicz durch ein Goethe-Motto zu den “Krimsonetten” eine explizite Verbindung zu Goethes orientalisierendem Zyklus herstellt. Damit stehen die “Sonette” mit am Anfang einer beachtlichen Reihe von europäischen Dichterreaktionen auf den “Divan”, von denen nun einige skizziert werden sollen.

Kleiner Exkurs zur europäischen Wirkung des “West-östlichen Divan”: Puškin, Hugo, Heine, Gautier.

Die europäische Wirkung des “Divan” war im 19. Jahrhundert offensichtlich erheblich, wobei das allgemeine Interesse der Zeit für Hammers Übersetzung des “Diwans” von Hafis (Hafis 1812) und der damals insbesondere auch dank Byron in Mode gekommene Orientalismus eine wichtige Rolle spielte[6]. Die vielleicht frühesten Spuren einer außerdeutschen “Divan”-Wirkung sind bei zwei slavischen Dichtern anzusetzen, nämlich in Aleksandr Puškins kurzem Zyklus “Nachahmungen des Korans” (“Podražanija Koranu”, 1826), sowie in Adam Mickiewiczs gleichzeitig erschienenen “Sonetten”, denen der zweite Teil der vorliegenden Studie gewidmet ist. Puškins Zyklus besteht aus 9 Gedichten (tatsächlichen oder fiktiven poetischen Paraphrasen von Koranstellen), entspricht also im Umfang ungefähr einem der Bücher des “West-östlichen Divan”. An den “Nachahmungen” fällt besonders auf, dass alle tatsächlichen und fiktiven Koranparaphrasen hier zumindest vordergründig die Sichtweise und Perspektive muslimischen Glaubens annehmen[7]. Eine ähnliche Perspektive wird auf weite Strecken ja auch im “Divan” eingenommen, allerdings in einem nicht selten spielerischen und heiter-ironischen Geist, während Puškin in dieser Hinsicht einen spürbar höheren Ernsthaftigkeitseffekt anstrebt, der nur durch minimale Distanzierungsgesten relativiert wird. Anders als Goethe, der im “Divan” als europäischer Dichter die Welt des Hafis und anderer orientalischer Dichter, die alle vom Koran inspiriert sind, neu erschafft, paraphrasiert Puškin das heilige Buch der Muslime zumindest dem Anspruch nach direkt und muss daher allein schon aus poetischem Takt den Ernst wahren. Dass zwischen Puškins “Nachah­mun­gen des Korans” und Goethes Zyklus ein europäischer literarhistorischer Zusammenhang besteht, wird selten gesehen[8]. Bewusst oder unbewusst hat der russische Romantiker hier dem heiter-spielerischen Orientalismus des aus dem tiefen 18. Jahrhundert herkommenden alten Herrn aus Weimar die Ernsthaftigkeitshaltung der neuen Epoche entgegengesetzt.

Einen anderen Weg ist Victor Hugo gegangen, als er mit seinem komponierten Gedichtbuch “Les Orientales” (1829) Goethes abgeklärt heiterer poetischer Weltflucht in den Osten die lebensvoll heutige, aktuelle (auch deutlich byronisierende) Vision eines vom Westen bis zum Osten des Mittelmeers reichenden Orients gegenüberstellte (vgl. Millet 2002). In welchem Grad Hugo mit “Les Orientales” Goethes “Divan” bewusst ins Visier nahm, sollte einmal von französischen Komparatisten geklärt werden; man darf ausschlie­ßen, dass Hugo bei der Arbeit an “Les Orientales” von Goethes “Divan” keinerlei Kenntnis hatte.

Heines begeistertes Lob des Goetheschen “Divan” (in der Fassung von 1827) in De l’Allemagne (1835) wird zur französischen und weiteren europäischen “Divan”-Rezeption beigetragen haben. Er schreibt dort:

Le «Divan de l’Orient occidental» de Goëthe est moins connu ici que son «Faust». […] Il renferme les opinions et les sentiments de l’Orient exprimés en chants fleuris et en sentences pleines de pensées, et tout cela brûle et embaume comme un harem rempli d’odalisques ardentes, aux paupières peintes en noir, aux yeux de gazelle, aux bras blancs et aux mouvements arrondis […]. Goëthe a transporté dans cette poésie ces voluptés enivrantes, et ses vers sont si faciles, si heureux, si aériens, si veloutés, qu’on s’étonne qu’il ait pu assouplir à ce point la langue allemande. (Heine 1978, 140-141)

Ein noch späteres, aber beredtes Zeugnis ist Théophile Gautiers Eingangsgedicht zu seinem Gedichtbuch “Émaux et Camées” (1852), wo der “Divan” explizit zitiert wird:

Pendant les guerres de l’empire,

Goethe, au bruit des canons brutal,

Fit le Divan occidental,

Fraîche oasis où l’art respire.

Pour Nisami quittant Shakespeare,

Il se parfuma de çantal

Et sur un mètre oriental

Nota le chant qu’Hudhud soupire.

Comme Goethe sur son divan

A Weimar s’isolait des choses

Et d’Hafiz effeuillait les roses,

Sans prendre garde à l’ouragan

Qui fouettait mes vitres fermées,

Mois, j’ai fait Émaux et Camées

(Gautier 1927, 3)[9]

Es sei noch angemerkt, dass Barbey d’Aurevilly in einer zeitgenössischen Kritik sogar noch Baudelaires “Les Fleurs du Mal” (unter vielem anderen) mit Goethes “Divan” in Zusammenhang bringt[10]. Diese Andeutungen müssen vorerst genügen, um zu zeigen, dass Mickiewiczs Rezeption des “Divan” in einem weiteren europäischen Kontext zu sehen ist.

Mickiewiczs Verhältnis zu Goethe

Mickiewiczs Einstellung zu Goethe wird gelegentlich als kühl und reserviert dargestellt, und tatsächlich fehlen Enthusiasmusbekundun­gen, wie der junge Romantiker sie Schiller und Byron gegenüber formuliert hat. Goethe muss ihn aber schon frühzeitig mehr beeindruckt haben, als er in expliziten Kommentaren hat erkennen lassen. Mit großer Begeisterung las er Schiller und daneben viele andere Deutsche, darunter den ganzen Goethe[11]; diese Phase wurde schnell durch eine noch größere Byronbegeisterung und Sympathie für die englische Literatur überlagert, aber nicht verdrängt. Der junge Mickiewicz las Goethe mit allergrößter Anteilnahme als den Autor des “Werther”, jedoch wohl auch als den Dichter, der z.B. in seinen Balladen, vor allem aber im “Faust”, die Wirkungen der überirdischen Realität in der irdischen darstellte – ein Motiv, das bei Schiller eine weitaus geringere Rolle spielt. Bei seinem Jahre währenden Übergang von einer skeptisch-aufklärerischen Einstellung zu einem charisma­tischen Katholizismus muss ihm gerade dies einmal viel bedeutet haben. Der junge polnische Romantiker hat Goethe gewiss als besondere Verkörperung des deutschen Volksgeistes gesehen, als Dichter, der erstaunlicherweise das antike und nachantike europäische Erbe (und später auch die islamische Geistigkeit) mit dem Geist seines Volks in Einklang zu bringen wusste; Mickiewicz sah Goethe wohl auch als Vertreter einer Nation, die ihre Befreiung vom fremden Unterdrücker (Napoleon) bereits erfolgreich bewerkstelligt hatte und deren Dichter es sich daher leisten konnten, sich über die politischen Konflikte des Tages zu erheben und an einem weltliterarischen Universalismus zu arbeiten[12]; der Respekt, den der deutsche Dichter Goethe Napoleon entgegenbrachte, war für Mickiewicz zweifellos positiv bemerkenswert. Eine weitere Vertiefung seines Goethever­ständ­nis­ses erbrachten die Jahre in Russland (1824-1828), wie die “Krimsonette” (“Sonety krymskie”) erweisen. Hier wird Mickiewicz auch mit der berühmten Goethe-Freundin Maria Szymanowska bekannt (deren Tochter Celina er später heiraten wird), die ihm den späteren persönlichen Kontakt mit Goethe erleichtern sollte[13].

In nicht wenigen seiner Publikationen finden sich unauffällige und heimliche Goethespuren. Es beginnt mit dem Titel “Balladen und Romanzen” (“Ballady i romanse”), mit der die weitaus umfangreichste Abteilung der ersten Buchveröffentlichung seiner Gedichte (Mickiewicz 1822) überschrieben ist – als Titel anscheinend profilarm, aber eben gleichlautend mit Goethes ebenso generischem Titel “Balladen und Romanzen”[14]. Die “Sonette” (Moskau 1826) spielen gleich auf mehrere Goethesche Gedichtsammlungen an, darunter auch auf Goethes “Sonette”. Die “Totenfeier” III (“Dziady”, 1832), wohl die Spitzenleistung des europäischen Dramas der Romantik, ist u.a. deutlich als Replik auf Goethes “Faust” I gestaltet (an den schon “Totenfeier” II[15] und IV (1823) von weitem angeknüpft hatten). Noch das große moderne Versepos “Herr Thaddäus” (1834) war zunächst als Replik auf Goethes “Hermann und Dorothea” gedacht gewesen. Diese Goethespuren sind mit Sicherheit keine Demutsgesten; sie bezeugen vielmehr die ehrgeizige Teilnahme an der stillschweigenden internationalen Dichterkonkur­renz um die Goethenachfolge. Für unseren Zusammenhang ist von spezifischer Bedeutung, dass mehrere dieser Anspielungen und Anknüpfungen Zusammenhänge zwischen den Gedichtsammlungen oder Zyklen herstellen.

Zur zyklischen Struktur von Mickiewiczs “Balladen und Romanzen”[16]

Mickiewiczs vierzehn “Balladen und Romanzen” (1822) sind Auftakt der polnischen Romantik, der wohl fruchtbarsten und genialsten Epoche der polnischen Lite­ratur, und sie sind das Buchdebüt eines jungen Mannes, der wenig später ein großer Dichter werden sollte. Die poetischen Gefilde der “Balladen und Romanzen” sind in ei­ne romantische Atmosphäre getaucht, die vor allem durch das Mo­ment der Erinnerung geschaffen wird, wobei nicht wehmütige Entsagung, sondern ein Moment des Aufruhrs die Atmosphäre bestimmt. Die Erinnerung überdauert die Zeit (“Świ­teź” [Na­me eines Sees]), den Tod (“Das Ro­man­ti­sche” (“Romantyczność”), “Marylas Grabhü­gel” (“Kurhanek Maryli”), “Der Spiel­mann” (“Dudarz”), u.v.a.) und – sehr implizit – den Untergang des Vaterlandes.

Im Mittelpunkt stehen die kunstvoll naive und kunstvoll diffuse Ge­stalt des jungen Dichters, des “zyklischen Subjekts”, in dem sich der junge Autor selbst neu erfindet, und der poesiestiftende Mythos vom “Dichter der unglücklichen Liebe zu Maryla”[17], der seit dem Erscheinen des Bändchens (Mickiewicz 1822) die Rezeption dieser Dichtungen bestimmt hat. Der Dichter wird zu einer Art von Therapeut und Vermittler, der sich kraft seiner durch privates Liebesleiden erworbenen höheren Empfindsamkeit und kraft sei­nes poetischen Kunstvermögens zum Sprachrohr der wir­ren Er­in­ne­run­gen des Volkes macht, diese zur Poesie erhebt und im Medium der dem Volk zugewandten Kunstpoesie das Volk an sich selbst erinnert und zur Sprache bringt.

Ein kompositorisches Grundgerüst wird gebildet von der Anfangsgruppe [1] und [2][18], der Zentralgruppe [6] bis [9][19] und dem Schlussgedicht [14] “Der Spielmann”, die alle in Beziehungen zueinander stehen. In dieses Gerüst sind zwei Gruppen von Gedichten [3] – [6] und [10] – [13] eingefügt, die die erste bzw. die zweite Hälfte des Zyklus auf je besondere Weise prägen.

Das Schlussgedicht [14] “Der Spielmann”[20] bezieht sich insbeson­dere auf [1] “Schlüsselblume” zurück. Beide ent­halten verschiedene Signale für die Adressierung des Zyklus an die Geliebte Maryla (eine der Koseformen des Namens Maria)[21]. Der junge Dichter des Eingangs­gedichts (“Ich”) nimmt mit seinen Liedern die Tradition des alten Spielmanns aus dem Schlussgedicht auf; ähnlich steht es mit den in [2] und in [7] erwähnten “Fremden”: es sind wohl Wanderdichter wie der alte Spielmann; sie alle sammeln und verbreiten offenkundig “Volkslieder”.

Schlussgedicht und Eingangsgedicht sind ferner durch das Motiv der Blume und des Blumenkranzes verbunden[22], das auch sonst zyklusbildend wirkt.

Die beiden Romanzen [2] “Das Romantische” und [7] “Marylas Grabhügel” bilden den zyklischen Rahmen für vier Balla­den, die der ersten Zyklushälfte einen besonderen Akzent verleihen. Die Balladen [3] “Świteź”, [4] “Die Świteź-Nixe” und [5] “Das Fischlein” (“Rybka”) handeln von magischen Bewohnerinnen des Świteź-Sees, zwei auch von männlichem Liebesverrat. Alle drei “beweisen” je auf ihre Art das Vorhandensein der “über­sinnlichen Welt”, deren Existenz in der Romanze [2] “Das Romantische” lediglich sehnsüch­tig-gläubig behauptet worden war.

Die zweite Zyklushälfte wird gerahmt durch [9] “Das liebe ich” und [14] “Der Spielmann”, beides Teile des Maryla-Mythos. Die vier eingerahmten Balladen [10] – [13] knüpfen bizarr an diesen Mythos an. In heimlicher Gemeinsamkeit prangern sie die (hochmütige, abstoßende, unzuverlässige, ungetreue und mörderische) Frau an. Mehr oder weniger verklausuliert beschimpft hier der Dichter die angeblich spröde Geliebte, indem er ihr Verhalten mit dem Fehl­verhalten anderer Frauen auf groteske Weise vergleicht.

Eine Kontrastbeziehung ergibt sich aus einem Ver­gleich der poetischen Topographie beider Zyklushälften. Die erste Hälfte ist zum weit überwiegenden Teil auf Mic­kiewiczs “litauische” Heimatgefilde bezogen, und die Magie, die darüber liegt, beruht nicht zuletzt auf den ausschließlich weiblichen See- und Landgeistern, die darin auftreten. Die Balladen [10] bis [13] stehen dazu im Kon­trast — in ihnen kommen poetische Räume zentralpolnischen Charakters[23] zur Dar­stellung, und wenn Geister darin vorkommen, so sind sie männlich[24] ([11] “Frau Twardowski” (“Pani Twardowska”), [12] “Tukaj” [ein Personenname] und [13] “Lilien”. In einer geo­graphischen Symbolik sollen hier wohl die alten Reichshälften Li­tauen und Polen in ihrer Gegensätzlichkeit um­fasst werden.

Das mythische “Weltbild” des Gedichtzyk­lus lässt das Teil dem Gan­zen, aber auch dem anderen Teil desselben Ganzen ähnlich oder “gleich” werden. Situationen und Subjekte, die vom Standpunkt der Logik gar nicht mit einander identisch sein können, geraten auf diese Weise in das Verhältnis einer zyklischen Äqui­valenz oder poetischen Gleichsetzung.

Dies betrifft die nicht-identischen Situationen der Trauer um den/die verstorbene(n) oder ungetreue(n) Liebespartner(in) in vielen dieser Gedichte. In Modifikationen und Verschiebungen, wie sie im Traum möglich sind, wird hier immer wieder die gleiche oder sogar im poetischen Sinne “dieselbe” Geschichte erzählt. Analoges gilt für die Subjekte des Zyklus. Die Trä­ge­rinnen des Namens “Maryla” oder “Maria” sind offenkundig alle nicht miteinander identisch[25]. Die poetisch-zyklische Wahrheit setzt sich jedoch mit romantischer Ironie darüber hinweg. Alle gemeinsam projizieren sie eine diffuse Maryla-Figur in den “Balladen und Ro­manzen” – als überindividuelle dargestellte Gestalt und als immanente Adressatin dieser Gedichte.

Aus alogischen Gleichsetzungsbewegungen ist auch das zyklische Subjekt konstituiert. [8] “An die Freunde, denen die Ballade «Das liebe ich» geschickt wird” (“Do przyjaciół. Posyłając im balladę «To lu­bię»”) legt das Verfahren geradezu bloß: hier iden­tifiziert sich der reale Autor des Zyklus[26] mit dem fiktionali­sier­ten homodiegetischen Ich-Erzähler der folgenden Ballade [9] “Das liebe ich”[27]. Aber schon von Anfang an stehen die teils landfremden, teils einheimischen Dichter- und Sängerfiguren in ([1] “’Die Schlüsselblume”, [2] “Das Romantische” [7] “Marylas Grabhügel” und [14] “Der Spielmann” in einer besonderen poetisch-zyklischen Gleichset­zungs­relation zu­einander und zum übergeordneten zyklischen Sub­jekt). Im Schlussgedicht [14] “Der Spielmann” kommt es schließlich zu einer Expansion des singularischen poetischen Subjekts zu einer die Zeit- und Raumgrenzen überschreitenden Pluralität der an den Ur­sprün­gen dieser Ballade beteiligten Subjekte[28], eine Expansion, die für die Projektion des übergeordneten zyklischen Subjekts ent­schei­dende Bedeutung beansprucht. Denn auch das sich aus vielen ein­zelnen poetischen Subjekten speisende zyklische Subjekt über­schrei­tet die Grenzen des singularischen Individuums, ruft kraft seines poetischen Vermögens aus dem gemeinschaftlichen Volks­geist eine überindivi­duelle poetische Energie hervor, die über den Ein­zelnen und über den Einzeltext hinausgeht und an die Kom­po­sitions­form des Gedichtzyklus gebunden ist.

Schiller und Goethe in den “Balladen und Romanzen”[29]

Erwähnenswert ist die Aufnahme der Schiller-Ballade ([10] “Der Handschuh” (“Rękawiczka”)). Schiller (“Szyler”) bleibt Autor auch der polnischen Version der Ballade, wird aber als eine der “landfremden” Dichterfiguren in ein Netz zyklischer Bezie­hun­gen eingebunden. Schillers Ballade fördert übrigens zusammen mit der zentralpolnischen Rittergeschichte [13] “Lilien” aus der Zeit der Kriege der polnischen BolesΩaws mit dem Kiewer Russland (10. – 11. Jahrhundert) den Aspekt einer historischen Kulturwelt, welche der magischen “litauischen” Welt der ersten Zyklushälfte entgegengesetzt ist.

In diesen Gegensatz zwischen historischer und magischer Welt fließen nun auch einige Goethe-Anspielungen ein, die namentlich die drei Świteź-Gedichte betreffen. In [4] ”Świteź-Nymphe” findet sich eine klare Goetheanspielung in den Worten, den die schöne Undine an “ihren” Jäger richtet:

«Chłopcze mój piękny, chłopcze mój młody»«Mein schöner Knabe, mein junger Knabe»
Zanuci czule dziewica –Singt zärtlich die Jungfrau –
Do mnie tu, do mnie, tu będziem razemKomm zu mir, zu mir, hier wollen wir zusammen
Po wodnym pląsać krzysztaleIm Kristall des Wassers tanzen

Hier ist sogleich an die Beschwörungsworte aus Goethes “Erlkönig” zu denken: “Du liebes Kind, komm geh mit mir! /  Gar schöne Spiele spiel ich mit dir…”. Zugleich spielt die Ballade aber auch auf Goethes “Der Fischer” an, wo ebenfalls von der Verführung eines Sterblichen durch eine Undine erzählt wird; die Zeilen “Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll” sind in Mickiewiczs ”Świteź-Nixe” nahezu wörtlich übernommen: “Woda sie˛ burzy i wzdyma”[30]. Goethes “Untreuer Knabe” erzählt von magisch-geisterhafter Rache an einem untreuen Liebhaber, was ebenfalls zur Atmosphäre der Mickiewiczschen Świteź-Gedichte passt. Interessant ist dabei, dass diese und weitere Anspielungen nicht nur einzelne Goethe-Balladen, sondern von ferne sogar auch die Reihenfolge seiner “Balladen und Romanzen” in Goethe 1816 betreffen. Die drei Świteź-Gedichte [3] – [5] erinnern nicht nur in ihren Motiven und Tonfällen, sondern auch in ihrer Platzierung im Zyklus an Goethes 3. “Der untreue Knabe”, 4. “Erlkönig”, 5. “Der Fischer”. Ferner klingt Mickiewiczs Schlussge­dicht “Der Spielmann” von weitem an Goethes Anfangsgedicht “Der Sänger” an, Mickiewiczs Anfangsgedicht “Die Schlüsselblume” an Goethes zweitplatziertes “Veilchen”. Es liegt auf der Hand, dass Mickiewiczs Zyklus sich in mehrerer Hinsicht Goethes “Balladen und Romanzen” entgegenstellt – auch dies eine kreative Reaktion auf den deutschen Dichter. In erster Linie ist hier das bei Goethe mehrfach beschworene Liebesglück zu nennen, dem Mickiewicz gleichsam eine romantische Chronik der katastrophalen Liebesunfälle gegenüber­stellt, die alle die eine unglückliche Maryla-Liebe anvisieren. Ferner wird der Goetheschen Sammlung von Balladen und Romanzen eine ausgesprochen zyklische Kompositionsform gegenübergestellt. Die erwähnten Goethe-Anklänge entfalten trotz ihrer Unspezifik einen bestimmten Sinn. Zusammen mit den Anklängen an Schiller und an die polnische Empfindsamkeitspoesie verweisen sie auf die Herkunft des romantischen Volkstons aus dem Kunststil. Zwar kann der romantische Dichter aufgrund seines Liebesleids das eigene Individuum dem Ein­klang mit dem Geist des Volkes opfern – aber ihm eben auch seine poetische Kultur darbringen, um ihm eine Sprache zu verleihen. Das ist der poetolo­gische Sinn des Maryla-Mythos.

Zur zyklischen Struktur von Mickiewiczs “Sonetten”

Zwischen den “Balladen und Romanzen” (1823) und den “Sonetten” (1826) liegt in der poetischen Biographie Mickiewiczs ein erheblicher Entwicklungssprung. Aus dem noch ziemlich ado­les­zenten Verfas­ser der “Balladen und Romanzen” wird mit den “Sonetten” ein selbstbewusster Dichter der damaligen Weltliteratur, der es durch al­lerlei kühne Anspielungen mit Petrarca, Goethe, Byron und Puškin aufnimmt. Die “Sonette” sind in einem kohärenten Schaffensprozess entstanden und haben schließlich die Form eines komplex komponierten Doppelzyklus angenommen, bestehend aus den 22 sog. ’Odessaer’ “Sonetten” und den 18 “Krimsonetten” [31].

In den ‚Odessaer‘ Sonetten wird oberflächlich die diegetische Gestalt eines einfachen, unzyklisch linearen Ablaufs erzeugt: durch die Herausarbeitung und auffallende Positionierung der Themen Anfang, schwieriger Verlauf, kurzes Glück und böses Ende in der Liebe. Das erste Sonett I. “An Laura”(“Do Laury”) spricht vom Anfang einer Liebe, die quälenden Hindernisse auf dem Weg zum Vollzug der Liebe sind explizite oder implizite Themen der Sonette II, IV, V, VI; das Glück der Liebe ist Thema der Sonette X, XIII, XIV, XV; das ungute Ende einer Liebe wird vom zornigen Dichter in XX ausgesprochen. Dem Glück der Liebe ist zumindest in X. “Segnung aus Petrarca”(“Błogosławieństwo z Petrarki”) die Preisung der poetischen Inspiration zugeordnet, dem zornigen Abschied an die Geliebte korrespondiert in XXI. “Danaiden” (“Danaidy”) und in XXII. “Excuse”(“Ekskuza”) eine Herabsetzung der Liebeslyrik und schließlich sogar eine — interpretationsbedürftige und offensichtlich nicht endgültige — Absage an die Poesie überhaupt. Dieser “Ablauf” bleibt trotz aller Gegenbewegungen, die wir hier übergehen müssen, als Gestalt sichtbar; er signalisiert eine zunehmende Eintrübung der erotischen Stimmung, die mit der poetischen Darstellung des Abflauens der lyrischen Inspiration verbunden ist – eines der wichtigen Themen des ‚Odessaer‘ Zyklus.

Die Kreuzung zwischen der Gestalt des linearen Ablaufs einer Liebe vom enthusiastischen Anfang bis zum trüben Ende und der anti-linearen Multiplikation von Motiv und Thema des Anfangs, des schwierigen Ablaufs und problematischen Endes von Liebe entfaltet einen einfachen Sinn: der zyklische Dichter ist dazu “verdammt”, diese Abläufe wieder und wieder — zyklisch — zu erleben. Die Liebesaffären und die Liebesgedichte sind nämlich keineswegs an ein Ende gekommen, sondern es wird mehr oder weniger immer so weitergehen — wenn auch mit immer geringerer poetischer Inspiration, mit immer weniger “Herz”, wie der Dichter formuliert.

In ihrer poetologischen Dimension ist die “Diegese” des ‚Odessaer‘ Zyklus als Teilphase einer zirkulären oder oszillierenden Gesamtbewegung zu verstehen, deren übrige Phasen durch den Krimzyklus angedeutet werden.

Zwischen den beiden Teilzyklen besteht ein unverkennbarer Hiatus, ihr Zusammenhang ist nicht auf den ersten Blick evident. Bei genauerer Betrachtung erweist sich allerdings, dass die erotischen Motive der ’Odessaer’ Serie in den “Krimsonetten” als sekundäre Motive weitergeführt werden (dazu schon Furmanik 1927). Sie fungieren dort zunächst als genereller Rückverweis auf die Liebessonette. Der Vergleich des Meeres in Kr II. “Windstille auf See” (“Cisza Morska”) mit einer schlafenden, vom Liebesglück träumenden jungen Braut erinnert deutlich an Od XV. “Gutmor­gen”(“Dzieńdobry”), wo die nackt schlafende Geliebte beschrieben wird; in Kr III. “Seefahrt” (“Żegluga”) wird auf der Bildebene eine kühne erotische Vorstellung erzeugt (“ich falle dem Schiff an die Brust, / Meine Brust treibt es scheint’s zum Rasen”[32]), die in keinem Gedicht des ‚Odessaer‘ Zyklus gewagt wird. In diesen Bereich gehören die Harems-Motive in VI. – IX sowie die frappant erotischen “Liebkosungen der orientalischen Odaliske (pieszczoty wschodniej odaliski)” in XII. “Ałuszta bei Nacht” (“Ałuszta w nocy”), u.v.a.. Die Sonette des Liebeszyklus Od XV. “Gutmorgen” und Od XVI. “Gutnacht” (“Dobranoc”) finden im Krimzyklus ihre thematisch-kompositorischen Äquivalente insbesondere in Kr XI. “Ałuszta bei Tag” (“Ałuszta w dzień”) und Kr XII. “Ałuszta bei Nacht”.

Diese unzeitlichen Verbindungen beeinflussen natürlich auch die poetologische Dimension des Doppelzyklus: Wir können allgemein sagen, dass der Liebeszyklus einen langen und widerspruchsvollen Abschied von der erotischen Poesie und vom erotischen Thema darstellt, und dass dieser lange Abschied auf der sekundären Ebene des Krimzyklus bis in das Finalsonett hinein fortgesetzt wird.

Den konkretesten Zusammenhang zwischen den beiden Gliedzyklen stiften paradoxerweise ihre Finalgedichte. Beide sind ausgesprochen metapoetisch, beide verwenden das auffällige Motiv des “Bardon”: Od XXII. “Excuse” spricht von der Geste des Dichters, der dem Bardon die Saiten abreißt und das stumme Instrument der Poesie in den Lethe-Fluss wirft[33], in Kr XVIII steht dem die doppelsinnige Geste des Dichters gegenüber, der den Bardon aufhebt (“podniesie”), das heißt ihn wieder hervorholt, und ihn höher hält (in erhabenerem Ton “singt”), um dadurch die Leidenschaften “in den Abgrund des Vergessens” zu stürzen, aber unsterbliche Lieder zu schaffen (zu diesem Zusammenhang der beiden Finalgedichte s. u.a. Kleiner 1948, t.1.: 526, Anm. 2 und Weintraub 1954: 110). Kr XVIII. “Ajudah” vergleicht die Leidenschaften, die das Herz des Dichters aufrühren, mit den schäumenden Wellen des Meeres[34]:

XVIII. Ajudah

Gelehnt an den Ajudah-Fels seh ich gerne zu,

Wie schaumbekrönt die Wogen bald zu schwarzen Reihen

Geballt zerschellen, bald wie Silberschnee

Millionenfach in allen Farben kreisend herrlich gleißen.

Sie stoßen auf den Sand, sie teilen sich in Wellen,

Belagern wie ein Heer von Walen sie die Ufer,

Erobern gleich das Land sie im Triumph, und wieder flüchtend

Versprühn beim Rückzug sie viel Muscheln, Perlen und Korallen.

So steht es auch mit deinem Herzen, junger Dichter!

Die Leidenschaft regt oft ein fürchterliches Wetter auf,

Doch hebst du deinen Bardon an, so eilt sie, ohne dir zu schaden,

Sich in Vergessens Tiefe zu vergraben,

Und läßt auf ihrer Flucht zurück unsterbliche Gesänge,

Daraus Äonen dir den Schmuck der Stirne flechten werden.[35]

Die Muscheln, Perlen und Korallen, welche die Wogen der Leidenschaften zurücklassen, sind ein unübersehbarer Rückverweis auf die ‚Odessaer‘ Sonette. XVIII. “Ajudah” deutet sogar die zyklische Struktur des Ganzen an: die Muscheln, Korallen und Perlen, Sinnbilder der “unsterblichen Lieder”, liegen, vom Meer zurückgelassen, zufällig auf dem Sand, sind aber auch von der Bewegung der Wellen gleichgerichtet, und die “Lieder” verflechten sich zum ’Kranz’, der die Schläfe des Dichters schmückt. Das letzte Krimgedicht ist als heimliche Aufforderung zur erneuten Lektüre der Liebessonette zu lesen — als die Muscheln, Korallen und Perlen, welche die “vergessenen” Leidenschaften des Dichters hinterlassen haben.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Mickiewicz in Goethes “Divan” folgenden Vierzeiler lesen konnte:

Die Flut der Leidenschaft, sie stürmt vergebens

An’s unbezwungne feste Land. –

Sie wirft poetische Perlen an den Strand,

Und das ist schon Gewinn des Lebens.

(“Divan”, Buch der Sprüche, Goethe 1994, 67)

– und es liegt nahe, im letzten Krimsonett eine weitere heimliche kleine Erinnerung an den “Divan” zu vermuten. –

Zu den verbindenden Kontrasten zwischen den Gliedzyklen trägt die paradoxe Beziehung zwischen dem “Mirza” und “Petrarca” bei. Der Mirza tritt zuerst in den Sonetten Kr V “Anblick der Berge von den Kozłow-Steppen aus” (“Widok gór ze stepów Kozłowa”) und Kr IX “Haremsgräber” (“Mogiły haremu”) auf; diese markieren den zweiten Subzyklus in den “Krimsonetten”. Analog dazu fungiert Petrarca als Verfasser und “fremder” lyrischer Sprecher der ‚Odessaer‘ Sonette VII. “Aus Petrarca” (“Z Petrarki”) und X. “Segnung. Aus Petrarca”, welche den dortigen zweiten Subzyklus markieren. Der Mirza erscheint erstmals völlig unmotiviert in demselben Sonett Kr V, in dem sich der lyrische Sprecher “Pilger”[36] nennt. Rätselhaft ist das Verschwinden des Mirza in XVI. “Der Berg Kikineis. Der Mirza” (“Góra Kikineis. Mirza”), das sich wohl nicht banal-narrativ mit seinem tödlichen Absturz in schwindelerregendem Berggelände erklären lässt. Nach seinem Verschwinden tritt übrigens in XVII und XVIII auch kein “Pilger” mehr in Erscheinung. Darin liegt etwas Geheimnisvolles und Symbolisches, was man der poetologischen und mythopoetischen Bedeutung dieser Figur zuschreiben mag.

Der Mirza (V, IX, XIII, XV und XVI) indiziert jedesmal einen Anstieg des orientalisierenden Moments in der Poetik des Zyklus, er ist hier der personifizierte poetische Orientalismus. Sein rätselhaftes erstes Auftauchen deutet eine überraschende Spaltung des zyklischen Subjekts an, eine besondere Inspiration, eine Ekstase, ein Hinausgehen aus den engen Grenzen des individuellen Ich, als das Entstehen eines anderen Ich des Dichters. Als Chiffre für den Anderen des Dichters fungiert auch bereits der “Petrarca” der ’Odessaer’ Serie. Er steht symbolisch für die gesamte Tradition der europäischen Liebeslyrik, von der Antike bis zu Mickiewiczs Gegenwart, die hier das Gepräge einer Wirklichkeitsdichtung der trüben Gefühle annimmt; ihr wird die orientalisierende Tradition in den “Krimsonetten” gegenübergestellt, die den Charakter einer erhabenen Inspirationsdichtung erhält. Beide alter ego, Petrarca und der Mirza, üben eine wichtige Funktion bei der Konstruktion eines besonders labilen, dynamischen, nichtkontinuierlichen, in sich paradoxen zyklischen Subjekts aus. Das Parallel- und Kontrastverhältnis von Petrarca und Mirza greift in besonders effektvoller Weise das poetologische West-Ost-Motiv von Goethes “Divan” auf.

In den “Krimsonetten” geht das zyklische Subjekt ’in Dichters Lande’, wie das Goethesche Motto besagt, er reist in eine erhabene, orientalische Landschaft und begibt sich dabei auch in einen mythopoetischen Raum mit ‚anderen‘ dichterischen Visionen und Erleuchtungen — Eingebungen, deren Intensität noch heute zu frappie­ren vermag und die sich vor dem ausgesprochen “trüben” Hintergrund der ‚Odessaer‘ Sonette besonders strahlend ausnehmen — vgl. die ersten beiden Strophen von Kr XVI. “Góra Kikineis”:

XVI. Der Berg Kikineis

       Der Mirza

Schau in den Abgrund – der Himmel liegt da unten,

Er ist das Meer; – ein Berg von Vogel breitet in den Wellen,

Vom Blitz erschlagen, seine Flügel-Masten aus

In einem Kreis, der größer ist als Regenbogen,

Und hält mit einer Insel Schnees das blaue Wasserfeld bedeckt.

Die Insel, die im Abgrund schwimmt – ist eine Wolke!

Aus ihrer Brust fällt auf die halbe Welt die finstre Nacht;

Siehst du das feuerfarbne Band an ihrer Stirn?

Der a priori unzeitliche Kontrast zwischen den irdisch-petrarkistischen Liebessonetten und dem metaphysisch getönten Orientalismus der “Krimsonette” erhält jedoch durch die Anordnung der beiden Zyklen und durch mehrere andere Verfahren auch eine zeitlich-diegetische Nuance: der ‚Odessaer‘ Zyklus steht nicht nur in der Anfangsposition; er wird durch das Petrarca-Motto “Quand‘ era in parte altr‘uom da quel qu‘io sono” — “als ich teilweise ein anderer Mensch war als der, der ich bin” — auch als Teil einer “früheren” Phase im Leben des Dichters ausgezeichnet. Die “nächste” Phase seines Lebens ist nach dieser Logik dann die Welt des Krimzyklus. Aber gerade die Ordnung der Aufeinanderfolge der beiden Phasen wird untergründig beständig problematisiert — am wirksamsten durch den massiven Rückverweis des letzten Krimsonetts XVIII. “Ajudah” auf die Liebessonette . Dieses kann als Aufforderung zur erneuten Lektüre der Liebessonette interpretiert werden. Die erneute Lektüre der Liebessonette enthebt aber die Leidenschaften des Dichters dem Vergessen, lässt diese ganzen Geschichten wieder Wirklichkeit werden, wiederholt diese Geschichten. Es besteht also kein Verhältnis einer einsinnigen Aufeinanderfolge zwischen den beiden Zyklen, sondern ein Verhältnis des Auf und Ab, des Wieder und Wieder. Alles wiederholt sich beständig, das Oszillieren der Seele zwischen Fremde und Heimat, zwischen Gegenwart und Erinnerung, das Erleben und Erleiden der Liebe, das Verebben und das Ansteigen der poetischen Inspiration, das Erreichen metaphysischer Höhen und die Rückkehr in sehr menschliche Gefilde.

Goethe-Reflexe in Mickiewiczs “Sonetten”[37]

Wie schon gesagt, fällt an Mickiewiczs “Sonetten” zunächst die Gleichheit des Titels mit Goethes “Sonetten” auf, die 1815 erstmals erschienen waren; sie können als Nachhall der romantischen Sonettzyklus-Mode gelten (Helen Mustard 1945, 56). Vergleicht man die sehr symmetrische Komposition von Goethes “Sonetten” (vgl. dazu Mustard 1946, 63-65) mit derjenigen von Mickiewiczs Doppelzyklus, so fällt bei dem Romantiker eine erhebliche Verstärkung der kompositorischen Komplexität auf; diese ist aber sicher nicht allein auf eine tiefere Auseinandersetzung mit der allzu symmetrischen Komposition von Goethes “Sonetten” zurückzufüh­ren. Die besondere Kompositionsidee von Mickiewiczs Doppelzyklus kann dagegen eher mit dem Kontrast zwischen Goethes “Römischen Elegien” und dem “Divan” in Zusammenhang gebracht werden. Die “Römischen Elegien” lesen sich als poetische Schilderung geglückter Liebe, in der Tradition europäischer Liebeslyrik. Mickiewicz setzt ihnen in den ’Odessaer’ “Sonetten”, wie gesagt, eine Schilderung des Liebesverdrusses entgegen – unter Berufung auf dieselbe europäische Tradition. Die “Krimsonette” erhalten durch das ihnen vorangehende Goethe-Motto von Anfang an den Charakter einer Replik auf den orientalisierenden “Divan”. –

Explizitester “Divan”-Reflex in den “Krimsonetten” ist das deutsch zitierte Motto “Wer den Dichter will verstehen, / muss in Dichters Lande gehen. Göthe im Chuld Nameh”. Betrachten wir zunächst die verschiedenen Funktionen des mit dem Titel “Besserem Verständniß” überschriebenen Goetheschen Vierzeilers (“Wer das Dichten will verstehen / Muß in’s Land der Dichtung gehen; / Wer den Dichter will verstehen / Muß in Dichters Lande gehen”) bei Goethe selbst und des daraus bezogenen Mottos bei Mickiewicz. Mickiewicz hat offenbar den Goethe-Text als das Schlussgedicht des “Buchs des Paradieses” (Chuld Nameh) und damit des ganzen “Divan” verstanden; für diesen Irrtum hatte er allerdings gute Gründe[38]. Primärer Sinn ist bei Goethe der Verweis auf den Dichter Hafis, zu dessen “besserem Verständniß” der Leser in Hafis’ “Lande” gehen muss, die Goethe in seinem Prosa-Anhang so ausführlich beschreibt; es sei keineswegs bestritten, dass auf einer zweiten Ebene Goethe damit auch sich selbst meint. Bei Mickiewicz verhält es sich offensichtlich umgekehrt. Das den “Krimsonetten” vorangestellte Goethe-Mottosteht in einem Assozia­tionsverhältnis zu dem Petrarcamotto, das den gesamten “Sonetten” Mickiewiczs vorangestellt ist: “Quand‘ era in parte altr‘uom da quel qu‘io sono”. In beiden Fällen trifft der Dichter Mickiewicz mit den Worten eines fremden Dichters eine Aussage über sich selbst. Der polnische Litauer kommt auf der Krim in doppeltem Sinne “in Dichters Lande”, d.h. in ’eigene’ Lande: er erlebt eine metaphysische Reise nach innen, und er erinnert sich fortwährend an Litauen – und zwar heimlich auch politisch-historisch. Die private Erinnerung an die litauische Heimat wird völlig explizit in Kr XIV “Der Pilger”:

Zu meinen Füßen liegt das Land des Wohlstands und der Schönheit, / Zu meinen Häupten klarer Himmel, an meiner Seite eine schöne Frau; / Warum entflieht mein Herz von hier in weite / Fernen, und leider auch in weit entfernte Zeiten?

Litauen! reizender sangen mir deine rauschenden Wälder, / Als die Nachti­gallen von Bajdir, und die Jungfrauen von Salhira; / Und heiterer lief ich dahin auf deinen Mooren, / Als beim Anblick rubinroter Maulbeerbäume und goldener Ananasfrüchte[39].

Die kryptopatriotische und –politische Erinnerung sei durch einen Exkurs zu VI. “Bakczysaraj” verdeutlicht, das Gedicht auf den früheren Palast der Khane der Krim aus der Dynastie der Giraj:

VI. Bakczysaraj

Noch ist es groß, doch steht‘s verödet nun, das Giraj‘sche Gebiet!

Die prächtigen Gänge, einst von Bascha-Stirnen blankgefegt,

Die Sofas, mächtigen Throne, Liebeslauben

Werden vom Heuschreck nun behüpft und vom Gewürm bestrichen.

Durch bunte Fenster rankt die Winde sich hindurch,

Dringt auf die stummen Wände und Gewölbe vor,

Besetzt das Menschenwerk im Namen der Natur

Und schreibt Belsazar-Silben, schreibt das Wort «RUINE».

In Saales Mitte ein Gefäß aus Marmor steht geschnitten;

Das ist der Haremsbrunnen, unversehrt,

Der Perlentränen weint und durch die Ödnis ruft:

«Wo seid ihr hin, oh Liebe, Macht und Ruhm!?

Ihr solltet ewig währen, die Quelle sprudelt schnell,

Oh Schande! ihr seid dahin, doch immer lebt die Quelle».

Hinter der spätromantischen Lust am ori­en­talischen Stil in Verbindung mit dem Motiv der Ruine[40] und der Vergänglichkeit allen historischen Menschenwerks ist eine politische Anspielung versteckt. Die klagende Quelle erinnert sich an Liebe, Macht und Ruhm der gar nicht so lange vergangenen Zeit des Krim-Khanats[41] und hält es für eine Schande, daß sie allein dessen Tod überlebt hat. Das ist ein Hinweis auf die zu jener Zeit erst ein halbes Jahrhundert vergangene staatliche Selbständigkeit der Krim, die immerhin bis 1783 gedauert hatte. Die Selbstständigkeit von Mickiewiczs Land, des mit Polen verbundenen Großfürstentums Litauen, war nicht viel später beendet worden, 1795. Die Krimtataren und die Litauer sind “ge­gen­wärtig”, d.h. 1826, vom russisch-orthodoxen Imperium beherrscht und als Muslime bzw. Katholiken auch religiös fremdbestimmt. Insofern ist die von Russland unterworfene Krim “Dichters Land”, denn sie teilt das Schicksal des eigenen Landes. Mickiewiczs poetische Orientreise unterscheidet sich also von dem Eskapismus, den Goethe zu Beginn seines “Divan” explizit macht:

Nord und West und Süd zersplittern,

Throne bersten, Reiche zittern,

Flüchte du, im reinen Osten

Patriarchenluft zu kosten,

Unter Lieben, Trinken, Singen,

Soll dich Chisers Quell verjüngen.

(“Hegire”, Goethe 1994, 12)

Der wohl interessanteste Punkt eines Vergleichs zwischen Mickiewiczs Doppelzyklus und Goethes “Divan” ist die Konstitution des jeweiligen zyklischen Subjekts. Es ist in beiden Zyklen bemerkenswert plural organisiert.

Die Pluralisierung des zyklischen Subjekts erwächst in beiden Zyklen aus einer Verschränkung und Hybridisierung der Raum- und Zeitverhältnisse. Für den “Divan” muss hier die bloße Feststellung einer vielfältigen Überblendung europäischer und orientalischer, gegenwärtiger und vergangener Raum- und Zeitansichten genügen, für Mickiewiczs “Sonette” die Feststellung analoger Hybridisierungen: ein kaum expliziertes “russisches” hic et nunc (Od XIII)[42] wird beständig mit Fragmenten unterschiedlicher Zeit- und Raumverhält­nisse gemischt und gekreuzt, die sich auf die “litauische” Jugend und auf ferne literarische Reminiszenzen (explizit: Petrarca; implizit der gesamte Zeitraum europäische Liebeslyrik seit der Antike; in den “Krimsonetten” der ganze Bereich der orientalischen Poesie) beziehen können. Die Hybridisierung von Raum- und Zeitvorstellungen wirkt sich in beiden Zyklen auch auf die “hybridisierte” Dichtersprache aus. Goethe ist in dieser Hinsicht viel weiter gegangen als sein jüngerer Kollege: der Gesamttitel und die Buchtitel sind zweisprachig deutsch und persisch, eine Vielzahl orientalischer Wörter und Namen gibt den Gedichten ihr Kolorit, und vor allem bezeugt jeder Text des “Divans” das Bestreben nach Aneignung orientalischer Dichtungs- und Spruchformen. Mickiewiczs “Sonette” nehmen sich demgegenüber europäisch-formstreng aus, enthalten aber ein reichhaltiges, leben­diges ästhetisches Irritationspotential u.a. durch die Vermischung eines teils byronistisch, teil nahezu klassizistischen hohen Tons mit ostpolnischen Kolloquialismen und Regionalismen, in den “Krimso­net­ten” zusätzlich mit zahlreichen orientalischen Wörtern und Namen sowie orientalisch stilisierten Metaphern und Vergleichen. Es liegt auf der Hand, dass all dies sich auch auf die diegetische Komponente des Zyklus auswirken muss, die ihrerseits wiederum die Konstitution des zyklischen Subjekts mit beeinflusst.

Dass Goethe im “Divan” ein hochraffiniertes Spiel mit der Identität des zyklischen Subjekts spielt, geht aus der ganzen Anlage des “Divans” hervor, wie schon in dem Beitrag über den Prosa-Anhang zum “Divan” gezeigt wurde (in diesem Band); er dichtet sich förmlich in die plurale Identität mehrerer orientalischer Dichter hinein, ebenso proteisch ist er dort, wo er als Europäer oder Deutscher spricht – ganz zu schweigen vom dichterischen Sprechen der liebenden Person, dessen Subjekt zwischen Alt (Timur) und Verjüngt changiert und zugleich auch von der anderen Stimme der Mit-Dichterin Suleika besetzt ist. Diesem vielfältigen Goetheschen Rollen- und Maskenspiel setzt Mickiewicz quasi eine “einfache” Kontrastbeziehung entgegen: Petrarca und der Mirza sind die beiden hauptsächlichen alter ego des Dichters dieses Doppelzyklus. Eine heimliche Pointe ist dabei die, dass zwischen Petrarkismus und orientalischer Dichtungsweise keineswegs ausschließlich Gegensätze bestehen (Petrarca (1304-1374) und Hafis (1326-1390) leben im selben Jahrhundert). Jedenfalls “ersetzen” schließlich beide europäischen Dichter den überständigen Petrarkis­mus (von dem sich auch beide nicht völlig befreien können) durch den poetischen Orientalismus. Beide Dichter bringen durch die Einfüh­rung der alter ego eine erhebliche Autoreferentialität in ihre Zyklen ein; in beiden geht es in hohem Maß um das Thema der poetischen Inspiration, die durch die Begegnung mit dem Orient auf eine neue Stufe gehoben wird. Ohne den Vergleich mit dem “Divan” überanstrengen zu wollen kann man sagen, dass in beiden Fällen die verwirrliche Konstitution des zyklischen Subjekts mit der Annäherung an das “Höhere und Höchste” in engster Verbindung steht, die übrigens in beiden Zyklen im Heiteren ausklingt. Trotz unüberseh­barer Verschiedenheiten zwischen dem “Divan” und den Mickiewicz­schen “Sonetten” bestehen also einige wesentliche Beziehungen in den Tiefenstrukturen.

Ausblick und Erinnerung an Byron

Mickiewiczs “Balladen und Romanzen” sind als Anfängerarbeiten erkennbar; die Klaue des Löwen ist dort weniger in den einzelnen Texten sichtbar als vielmehr in den expansiven Energien der (in der Detailausführung zweifellos überladenen) Gesamtkomposition, in den zyklischen Kompositionsideen in Verbindung mit einer spezifisch romantischen Auffassung vom Dichter und seinem Beruf, von der Sprache und von Erinnerung und Seele des Volkes. Die vier Jahre später publizierten “Sonette” sind lyrische Weltliteratur. Die hoch bemerkenswerte Erfindung der Kompositionsform des Doppelzyklus wird nicht groß als solche demonstriert, sondern in schöner poetischer Willkür einfach gesetzt. Souverän überschreitet der Dichter hier die Grenzen zwischen Romantik, Klassik und Klassizismus, wie das ja nicht nur Goethe, sondern auch Byron zu halten pflegte, der Mickiewicz in der Schaffensphase an den “Sonetten” poetisch sicherlich am nächsten stand. Goethe hatte mit seinen “Sonetten” an die Romantik angeknüpft, romantischen Verschwommenheiten aber zugleich eine rigorose Symmetriekomposition entgegengesetzt, Mickiewicz ’antwortet’ darauf mit der beschriebenen ’einfachen’, aber zugleich “unendliche” Komplexität generierenden Kontrastkom­po­sition seines Doppelzyklus. Mickiewiczs “Sonette” unterscheiden sich dermaßen von seinen “Balladen und Romanzen”, dass sie uns an der Stichhaltigkeit eines einheitlichen Epochenbegriffs Romantik sogar für ein und dasselbe Individualoeuvre zweifeln lassen. Das Hineinspielen der Goethezyklen, die für Mickiewicz nicht über alle Maßen wichtig, aber doch auch nicht ohne Bedeutung gewesen sind, macht die Sache nicht übersichtlicher. Für die weitere historisch-vergleichende Zyklusforschung kann daraus gefolgert werden: wichtiger und aussichtsreicher als die Konstruktion einer Familie von Typen des spezifisch romantischen Gedichtzyklus ist es beim gegenwärtigen Stand der Forschung, den schöpferischen Dialog zwischen ganz verschiedenartigen Strömungen, Generationen, Indivi­duen und Nationalitäten, sowie die Möglichkeit ganz verschiedener Lö­sun­gen in kurzem Zeitabstand bzw. innerhalb desselben poesiegeschichtlichen Zeitraums zu ermitteln.

Ein nicht unwesentlicher Punkt für ein vertieftes Verständnis der literarhistorischen Situation des die Gattungsgrenzen prinzipiell überschreitenden Gedichtzyklus konnte hier nur angedeutet werden: die wirkungsgeschichtliche Nähe zum romantischen “Poem”. Byrons “Childe Harold’s Pilgrimage” (1812-1818), aber auch andere seiner romantischen Verserzählungen, haben sowohl den Autor des “Divan” als auch den Autor der “Krimsonette” sehr beeindruckt und färben später auch noch auf die Gedichtbücher Heines und Hugos ab[43].


[1] Der vorliegende Beitrag ergänzt die Analysen von Mickiewiczs Gedichtzyklen in Fieguth 1998 um eine komparatistische Perspektive. Titel umfangreicherer Mickiewiczscher Werke werden in deutscher Übersetzung angeführt (bei der ersten Nennung unter Angabe des Originaltitels); bei Gedichttiteln wird der polnische Titel einmal in der Fußnote mitgeteilt. Mickiewicz-Texte werden zitiert nach Mickiewicz 1955, Bd. I; Übersetzungen von Zitaten und Gedichten sind von mir – R.F. Jahreszahlen nach Werktiteln aller hier erwähnten Autoren beziehen sich grundsätzlich auf die Erstpublikation.

[2] Unter den Mickiewicz-Publikationen in westlichen Sprachen zum Jubiläumsjahr 1998 seien genannt Miązek 1998, Mazur-KębΩowska 2000, Coquin / Maslowski 2002; empfehlenswert bleibt als Einführung in Mickiewiczs Werk Weintraub 1954.

[3] Mickiewiczs “Balladen und Romanzen” und die “Sonette” sind auf deutsch nachzulesen in Mickiewicz 1919 sowie (auszusgsweise) in Mickiewicz 1955a und Mickiewicz 1994; die “Sonette” in der nach wie vor interessanten Übersetzung von Peter Cornelius in Mickiewicz 1869; eine französische Nachdichtung der “Sonette” legte Roger Legras vor (Mickiewicz 1992a). Die “Totenfeier” (“Dziady”) ist auf deutsch sowohl in Lipiners Nachdichtung Mickiewicz 1887 als auch in der deutschen Bearbeitung von Gerda Hagenau zu lesen (Hagenau 1999), auf französisch in Mickiewicz 1992b (Les aïeux). Für den “Pan Tadeusz” empfehlen sich nach wie vor die Übersetzungen von Lipiner (Mickiewicz 1882) und Buddensieg (Mickiewicz 1963); auf die französischen Versionen Mickiewicz 1992c und Mickiewicz 1998 sei verwiesen.

[4] Als europaweite erste Phase der Romantik können die 1820er Jahre gelten; die Periode von ca. 1800 bis ca. 1820 kennt in Frankreich und in den slavischen Ländern neben den dominierenden spätklassizistischen und sentimentalistischen Strömungen zahlreiche präromantische und romantiknahe Phänomene, die im Deutschland und England der Zeit bereits den Charakter einer ausgeprägten romantischen Schule angenommen haben. Mickiewiczs Zyklen müssten nach deutscher Sonderauffassung als spätromantisch gelten, was nicht a priori unsinnig ist.

[5] Zur deutschen Rezeption des “Divan” s. Mandelkow 1975-1984. Deutliche “Divan”-Spuren sind u.a. in Heines “Romanzero” anzutreffen; mit dem Titel bezieht Heine sich wohl auf denselben “romancero general”, den in “Les Orientales” auch schon Victor Hugo erwähnt.

[6] Der “Divan” selbst reagiert bereits auf Byrons Wirken; wohl nicht zufällig entspricht der Name Suleika der “Heldin” des “Divan” der Perserin “Zuleika” in Byrons Poem “The Bride of Abydos. A Turkish Tale” (1813).

[7] Die Stimme des Dichters wird in dieser zyklischen Dichtung auf kunstreiche Weise mit der Stimme Gottes (Allahs) in Verbindung gesetzt, der für den Propheten spricht; vgl. dazu Darvin / Tjupa 2001, 73-84. Henry von Heiselers schöne Übertragung der “Nachahmungen des Korans” ist abgedruckt in Puškin 1931.

[8] Danilevskij 1999, 62-71 gehört zu den wenigen, die überhaupt die beiden Werke in eine typologische Verbindung bringen; Darvin / Tjupa 2001, 73-84 erwähnen Goethes “Divan” gar nicht. Es darf aber wegen Puškins nachgewiesenen Goethe-Interesses ausgeschlossen werden, dass ihm diese leicht skandalöse Publikation – neue, und recht intensive Liebesgedichte des greisen Dichterfürsten aus Weimar – bei ihrem ersten Erscheinen 1819 vollkommen unbekannt geblieben wäre.

[9] “Préface” aus “Émaux et Camées” (1852). Die zitierten Zeilen bedeuten übrigens nicht zuletzt wohl auch eine implizite Distanzierung von dem allzeit bewegten und allzeit engagierten Victor Hugo.

[10] Jules-Amadée Barbey d’Aurevilly, Les poètes, Genève 1968, 1193, zitiert nach Sudan 1997, 268.

[11] Laut brieflicher Selbstauskunft kennt Mickiewicz außer dem “Reinecke Fuchs” Ende 1822 alle Werke Goethes (Brief vom 20.November / 2. Dezember 1822 an Franciszek Malewski).

[12] Ein nachgelassenes Fragment “Goethe i Bajron” (Mickiewicz 1955, t. 5, 246-254, laut Juliusz Kleiner vermutlich 1827 in Russland entstanden), stellt zwar Byron über Goethe, zeugt aber von großer Belesenheit in Goethe (und Byron).

[13] Bemerkenswert war Mickiewiczs mehrtägiger Weimaraufenthalt mit häufigen Kontakten zum Haus Goethe im Zusammenhang mit den Feiern zum 80. Geburtstag des deutschen Dichters. In dem – für seine Verhältnisse – anscheinend besonders gewinnenden Umgang mit Mickiewicz praktizierte der alte Herr offenbar sein Verständnis von Weltliteratur als persönlichem Umgang der Dichter miteinander. Sudolski 1995, 253-256 stellt Mickiewiczs Weimar-Aufenthalt und Besuche bei Goethe dar; vgl. auch die sehr inspirierende und gedankenreiche Darstelung bei Rothe 1990.

[14] Der Titel “Balladen und Romanzen” ist relativ unspezifisch und tritt in zahlreichen kollektiven oder individuellen Gedichtsammlungen der Zeit auf. Beispiele dafür sind Ausgaben wie die folgenden: Auswahl der besten Romanzen und Balladen der vorzüglichsten deutschen Dichter des 18ten und 19ten Jahrhunderts, ges. u. hrsg. von K. Schmidt,  Quedlinburg, 1810;  Der Minnesänger, oder Sammlung von Balladen und Romanzen der beßten Dichter Deutschlands : mit einen Titelkupfer, Pesth : Leyrer, 1811;  Balladen und Romanzen der deutschen Dichter, Stollberg und Schiller, Cöln 1814. Derartige Ausgaben fanden ihren Weg gewiss auch nach Wilna. Goethes “Balladen und Romanzen” waren im 7. Band (1800) der Ausgabe Göthe’s Neue Schriften, 7 Bde.,  Berlin: 1792-1800 enthalten; sie erschienen neuerlich unter diesem Titel in Goethe 1816. In späteren Ausgaben hat Goethe Titel (nur noch: “Balladen”) und Anordnung verändert.

[15] Dieses szenische Fragment lässt sich übrigens in eine Beziehung zu Goethes Romanze “Die erste Walpurgis-Nacht” bringen.

[16] Der Abschnitt knüpft an Fieguth 1998 und 2002a an.

[17] Mickiewiczs (nicht unerwiderte) Liebe zu Maryla Putkamerowa, geb. Wereszczakównawar landesweit bekannt und ist in Weißrussland wie in Polen bis heute lebendige Legende geblieben.

[18] [1] “Schlüsselblume” (“Pierwiosnek”)  und [2] “Das Romantische”.

[19] [6] “Vaterchens Heimkehr” (“Powrót taty”),  [7] “Marylas Grabhügel”, [8] “An die Freunde, die Ballade «Das liebe ich» übersendend” (“Do przyjaciół. Posyłając im balladę «To lu­bie»”)  und [9] “Das liebe ich” (“To lubię”).

[20] Ein alter Spielmann zieht mit dem Lied seines vor langer Zeit fern der Heimat am Liebesweh verstorbenen Freundes über die Dörfer am Niemen, um dessen Heimat und dessen Geliebte wieder zu finden. Das gelingt zwar nur halb, dafür wird nun aber das Lied in der Heimat seines Dichters zum Volkslied.

[21] Das Lied des alten Spielmanns war einer Maria gewidmet. Das “Blümchen” des Eingangsgedichts spricht die Widmung der Gedichte an die Freunde und an die “himmlische Marylka” offen aus (“Powiedz niebieska Marylko!”).

[22] Ausführlicher dazu in  Fieguth 1998.

[23] Mickiewiczs polnische Version von Schillers “Der Handschuh” kann auf den pol­nischen Könighof zu Krakau bezogen werden (Cysewski 1994, 175). Das eng mit dem Faust-Stoff verbundene Twardowski-Motiv der Ballade [11] “Frau Twardowski” verweist seinem folkloristischen Ursprung nach besonders deutlich auf Zentralpolen, [13] “Lilie” durch die Festle­gung auf die histori­sche Zeit der Kriege mit Kiev eben­falls.

[24] Der Teufel in “Frau Twardowski” und “Tukaj”, der  Geist des ermordeten Ritters in “Lilie”.

[25] Als direkt angespro­chene Personen treten sie in [1] “Schlüsselblume”, in [7] “Marylas Grabhügel” sowie in der Rahmenhandlung von [9] “Das liebe ich” in Er­schei­nung. Als dargestellte Personen figurieren sie in [7] “Marylas Grabhügel” (als verstorbenes Bauernmädchen), in der Binnenhandlung von [9] “Das liebe ich” (als hundertjähriges Gespenst Maryla) sowie in der vom Spielmann erzählten ’Maria’ ([14] “Der Spielmann”). Das er­löste Gespenst Maryla fungiert auch als Erzählerin in der Ballade [9] “Das liebe ich”.

[26] Der romantische Autor erzielt bewusst einen “dokumentarischen” Realitätseffekt durch Rekurs auf die eigene Biographie (Datierung “Kowno,  den 27 Dezember”).

[27] Explizit auf Volkslieder zurückgeführt werden aber auch einige der Ge­dichte, die ein poetisches Ich-Subjekt aufweisen, nämlich [7], [8], [14].

 [28]Der Ich-Erzähler der Ballade; der alte Spielmann mit seinen beiden Knaben; der im Elend verstorbene Hirtendichter; Tomasz Zan als explizit genannter Verfasser  einiger Zeilen der Ballade; Adam Mickiewicz.

[29] Nicht oft genug betont werden kann die Begrenztheit der Wirkung Goethes (und Schillers) auf Mickiewicz und die Vielfalt der sonstigen literarischen Verbindungen und Anspielungen. Keine geringe Rolle für Mickiewiczs Balladenschaffen spielt natürlich Bürger, vgl. dazu Kośny 2000.

[30] Kleiner 1948, 1, 293 ff. verweist hier außer auf Goethes ”Der Fischer” noch auf den Beginn von Schillers ”Wilhelm Tell” sowie auf ”Undine” von Fouqué und Wielands ”Die Bildsäule und die Salamandrin”.

[31] Im Original trägt der erste Gliedzyklus überhaupt keinen eigenen Titel; das Titelwort “Sonette” gilt für den Gesamtzyklus; erst der zweite Gliedzyklus erhält den eigenen Titel “Krimsonette”.

[32] “padam na piersi okrętu, / Zdaje się, że pierś moja do pędu go nagli”

[33] Od XXII. “Excuse”:

Ich trällerte von Liebeleien in der Jugend Menge; / Die einen lobten mich; die anderen flüsterten: / «Der Dichter da, der kann bloß lieben, leiden, klagen, / Was anderes fühlt er nicht, oder er kann‘s nicht singen. // «Er ist doch nun schon reif an Jahren, hat älteren Verstand, / Warum brennt ihm das Herz dann in so kindischer Flamme? / Haben die Götter ihm denn dazu seine Dichterstimme gegeben, / Daß er in jeder Duma von sich selbst nur immer singt?» // Hochsinnige Warnung! — mit erhabenen Geistern / Ergreif ich des Alkäos Bardon allsogleich, doch hab nach Ursins Weise / Ich kaum erst angehoben, da ist die ganze Gefolgschaft / Auch schon davongestoben samt ihren sehr erstaunten Ohren; / Da reiße ich die Saiten ab und schmeiß den stummen Bardon in die Lethe. / Wie der Hörer so der Dichter.

[34] Die Metaphorik der Wale, der triumphierenden Eroberungszüge und fluchtartigen Rückzüge muss hier unerörtert bleiben.

[35] “Trącą się o mieliznę, rozbiją na fale, / Jak wojsko wielorybów zalegając brzegi, / Zdobędą ląd w tryumfie i na powrót, zbiegi, / Miecą za sobą muszle, perły i korale. // Podobnie na twe serce, o poeto młody! / Namiętność często groźne wzburza niepogody, / Lecz gdy podniesiesz bardon, ona bez twej szkody // Ucieka w zapomnienia pogrążyć się toni / I nieśmiertelne pieśni za sobą uroni, / Z których wieki uplotą ozdobę twych skroni.

[36] “Pilger” nennen sich Petrarca im “Canzoniere” und Byrons Childe Harold.

[37] In Fieguth 2002a habe ich die Bedeutung der Goethe-Reflexe in den “Sonetten” entschieden unterschätzt. Im folgenden Abschnitt vertrete ich eine modifizierte Sicht der Dinge. Bisherige Untersuchungen zu diesem Thema, darunter die besonders gründliche von Horst Röhling (Röhling 1965 / 1998), konzentrierten sich auf die allerdings ziemlich unergiebige Suche nach gleichen Motiven nur in den “Krimsonetten” und im “Divan”; im vorliegenden Beitrag wird die Vergleichsbasis erweitert.

[38] Mickiewiczs Irrtum ist mehr als verzeihlich; in der Typographie von Goethe 1819 kann der Vierzeiler durchaus als letztes Gedicht von “Chuld Nameh” missverstanden werden: Auf gleicher Höhe wie die Gedicht-Überschrift Gute Nacht (p. 240) und in Kursivschrift gehalten wie alle anderen Gedicht-Titel (samt Strich darunter) stehen auf (unpaginierter) S. 241 die Worte “Besserem Verständniß”, worauf der Gedichttext in völlig gleicher Typographie wie alle anderen Gedichte des “Divan” folgt; “Besserem Verständniß” kann also durchaus als normaler Gedichttitel verstanden werden. Der Prosa-Anhang beginnt dann auf der nächsten Seite ohne Wiederholung des Titels “Besserem Verständniß” mit der Antiqua-Überschrift “Einleitung”. Mickiewicz war sicherlich der Meinung, dass der Prosa-Anhang titellos sei.

[39] “U stóp moich kraina dostatków i krasy, / Nad gΩową niebo jasne, obok piękne lice; / Dlaczegoż stąd ucieka serce w okolice / Dalekie, i niestety! jeszcze dalsze cazsy? // Litwo! piaΩy mi wdzięcznie´j twe szumiące lasy, / Niż sΩowiki Bajdaru, Salhiry dziewice; / I weselszy deptaΩem twoje trzęsawice, / Niż rubinowe morwy, zΩote ananasy”.

[40] Zu diesem Motiv s. das außerordentlich kenntnisreiche Buch von G. Kró­li­kie­wicz 1993: 44 ff., sowie D. Seweryn 1996: 21–39.

[41] Mickiewicz verweist in einer Anmerkung zu diesem Sonett ausdrücklich auf Bakczysaraj als die “einstige Hauptstadt der Girajs, der Krimkhane”. Den Verweis auf Puškins romantische Verserzählung “Der Brunnen von Bachčisaraj” (“Bachčisarajskij fontan”) verschiebt er hintergründig in den Kommentar zu Kr VIII. “Das Grab der Potocka”.

[42] Incipit “Pierwszy raz jam niewolnik… “ – Auch das deutsche Hier und Jetzt im “Divan” ist ja wenig ausgeprägt.

[43] Byrons “Childe Harold’s Pilgrimage”, als digressives Poem dem Gedichtzyklus nahe stehend, ist für Mickiewicz eine mindestens ebenso wichtige Inspirationsquelle gewesen wie Goethes “Divan”. Auf die generelle Bedeutung von Byrons “Childe Harold” für die Entwicklungs des europäischen Gedichtzyklus im 19. Jahrhunderts (s. auch Heinrich Heines und Victor Hugos Gedichtbüchern und Gedichtzyklen) hat Dimiter Daphinoff in einer Vorlesung hingewiesen; ihm sei an dieser Stelle gedankt.