Norwids Quidam. Nachwort des Übersetzers

Nachwort des Übersetzers

Übersetzen ist gewiss eine der intensivsten und genussreichsten Formen des Erfassens und Lesens von Cyprian Norwids (1821-1883) hochkomplexer Dichtung „Quidam“. Es ist wie mit einer selten geöffneten Schatulle, die man aus dem Fach eines ehrwürdigen Schranks nimmt, um ihren Inhalt gegen das Licht zu halten: ein rätselhaft gestaltetes großes Schmuckstück mit dunkel schimmernden Edelsteinen, deren Farbenglanz sich mit einer Verzögerung immer deutlicher und stärker enthüllt. Schon der Titel „Quidam“ und die Gattungsbezeichnung „przypowieść“ demonstrieren das Prinzip der dynamisch wachsenden Bedeutung, das dieses Werk vom Einzelwort bis zur Gesamtkomposition charakterisiert: das lateinische Wort „quidam“, in der Alltagssprache des 19. Jahrhunderts Synonym für „irgendeiner“, „Allerweltstyp“, wird in dieser Dichtung zugleich auch zu einem Eigennamen erhoben und mit idealmenschlichen sowie sakralen Bedeutungen angereichert; die polnische Gattungsbezeichnung „przypowieść”, die üblicherweise „Gleichnis, Parabel” bedeutet, erhält in Norwids Vorwort durch die Konfrontation mit „powieść” (Roman), die neosemantische Bedeutung „Para-Roman“.
Zahlreiche Geheimnisse, düstere und helle, liegen in der Weltstadt Rom anfangs der 130er Jahre, zur Zeit des Kaisers Hadrian, und ziehen den „Sohn Alexanders“, einen jungen Träumer, Denker und Dichter aus dem fernen Epirus magisch in ihren Bann. Eines der bald gelüfteten Geheimnisse ist Roms Fragilität angesichts des nach kurzer Zeit in Palästina ausbrechenden jüdischen Bar-Kochba-Aufstandes (132-135). Wir erleben mit den Augen und Sinnen des jungen Mannes die Stadt als ein ewiges und zugleich künftigem Zerfall hingegebenes Rom – in ihrer noch intakten, noch ständig erweiterten monumentalen Architektur, aber mehr noch in ihren Geräuschen, Gerüchen, Interieurs und halb ländlichen Randbezirken, und vor allem im wechselnden Licht des Himmels über ihr. Allenthalben ist die konkrete, jahrelange Romerfahrung des polnischen Dichters und bildenden Künstlers Cyprian Norwid zu spüren.
In diesem „Para-Roman“ hat, anders als im einem eigentlichen Roman oder einer Novelle, nicht die Handlung die eindeutige Oberhand; ungewöhnlich großen Raum nimmt der eigenartige Erzähl- und Reflexionsstrang aus Gedankenströmen, Beobachtungen und oft witzigen und satirischen Kommentaren ein. Hier klingen die Stimmen der jugendlichen antiken Hauptfigur „Sohn Alexanders“ und des gut doppelt so alten, siebzehn Jahrhunderte überbrückenden neuzeitlich-modernen Autors (auktorialen Erzählers) harmonisch zusammen – und nicht selten lässt sich darin auch die römische vox populi, der Ton der umlaufenden Gerüchte, vernehmen. Der moderne ältere Dichter korrigiert sein antikes junges alter ego nicht oft, vielmehr setzt er eher dessen Gedanken aus seiner neuzeitlichen Erfahrung fort. Es stellt sich zuweilen der Verdacht ein, der Erzähler erzähle seiner Figur nach deren vorzeitigem Tod aus seiner empathischen Perspektive die ganze Geschichte neu. Jedenfalls gewinnt in den Partien des Erzählens und Kommentierens nach und nach ein Denken poetische Gestalt, das zwischen griechischen Philosophieansätzen, antik-jüdischen sowie antik-christlichen Ideen und positiven und negativen Emotionen schwebt – Emotionen aus Beobachtungs- und Erkenntniserlebnissen und der Begegnungen mit Personen.
Auf dieser Erzähl- und Reflexionsströmung schwimmen, seltsam gegeneinander versetzt, Bruchstücke mehrerer Handlungen einher, von denen nicht alle in den Bewusstseinshorizont der Hauptfigur eintreten. Im Vordergrund stehen zunächst die Begegnungen des jungen Neuankömmlings aus Epirus mit einer geistigen griechischsprachigen Immigrantenelite samt ihren römischen Trabanten. Sie sind in ihrem Erscheinungsbild, in Gesten und Redeweisen auffallend konkret und auch mit Elementen von Humor und Satire charakterisiert; dies lässt Norwids Talente als Schauspielautor erkennen . Es sind fast alles Personen, die analog zur ganzen Weltstadt Anzeichen eines „menschlichen Ruins“ an sich tragen und damit dem Menschen der neuzeitlichen Moderne nahe sind – und sie sind mehr Träger eigener Geschichten als Elemente „der“ Handlung dieses „Para-Romans“. Ihnen allen steht in Sohn Alexanders Wahrnehmung ein Mensch gegenüber – der von diesem Kreis weit entfernte christliche römische Gärtner Quidam oder Guido. Seine todesmutige öffentliche Absage an die antiken Götter anlässlich eines Schauprozesses, sein ‚Kampf gegen den Thron mit dem Mittel seines Todes‘ beeindruckt den jungen Mann zutiefst. Er bekennt sich vor aller Augen von ferne zu ihm durch eine mutige Brotspende und verehrt ihn fortan in seinen Gedanken als einen idealen Menschen.
Dieses Erlebnis stürmt fast zeitgleich mit anderen auf ihn ein: die Begegnung mit dem griechischen Philosophen Artemidor und mit dem greisen jüdischen Magus Jason; die spontane Freundschaft mit dessen jungem Adlatus Barchob; namentlich aber die erotische Anziehungskraft von Artemidors Hetäre, der „Poetesse“ Sophie, an die er zumindest das Manuskript seines intimen „Merkbuchs“ verliert. Ihm entgeht, dass der alte Magus Jason das konspirative Hirn des jüdischen Bar-Kochba-Aufstandes ist und seinen neuen Freund Barchob als Heerführer nach Palästina schicken wird.
Klar und deutlich ist dagegen seine Wahrnehmung einer bald eintretenden scharfen Wende in der öffentlichen Atmosphäre Roms: Militarisierung und offene Repression nehmen zu infolge des jüdischen Aufstandes in Palästina. In dieser Atmosphäre stirbt Sohn Alexanders einen sowohl zufälligen als auch bedeutungsvollen Tod, und bedeutungsträchtig sind in den folgenden Kapiteln der Tod von Magus Jason und das Ende der Poetesse Sophie. Der Philosoph Artemidor wird nach Gallien verbannt.
Die Bedeutung dieser Todeskapitel führt auf die in dem Para-Roman angelegte hochkomplexe Parabel, hinter der sich eine heute nicht mehr allgemeingültige Auffassung des Christentums auftut – der Mythos vom Heilsplan Gottes, dem eine bis in die Moderne und in die Zukunft wirkende diskrete Geschichtsmacht im Leben des Einzelnen und der Gesellschaften zugeschrieben wird. Aus diesem Mythos bezieht Norwid unter Vermeidung platter Glaubenspropaganda die große Dynamik seiner parabolischen Bedeutungsbildungen, die primär die hadrianische Antike und sekundär die Moderne des 19. Jahrhunderts umfassen und hier nur knapp und unvollständig angedeutet werden können:
Sohn Alexanders wird in rätselhaft zufälliger Weise auf einem römischen Fleischmarkt durch den bewaffneten Begleiter eines halb terroristischen, halb karnevalesken Aufzuges mit einem goldenen Stier ermordet und ist im Moment seines Sterbens am Sinn seines bisherigen Lebens hoffnungslos verzweifelt. An seiner Leiche deutet ein christlicher Quidam – wahrscheinlich identisch mit dem Gärtner Quidam der früheren Gesänge – in einer paulinischen Predigt diesen Tod zu einem Martyrium in Sinn seiner Religion um – und wird dafür sofort von römischen Ordnungshütern festgenommen. Sohn Alexanders wird hier in seiner Eigenschaft als ‚Mensch, der ein Priester ist, unbewusst und unreif“ dargestellt, und sein Tod wird nachträglich als christliche ‚Waffe im Kampf mit dem Thron‘ gedeutet.
Der Magus und Aufstandsplaner Jason stirbt nach einer heimlichen Feier anlässlich der militärischen Erfolge im jüdischen Bar-Kochba-Krieg unter den Händen römischer Liktoren – mit einer Vision des auf Golgatha gekreuzigten Christus. Sophie stirbt im Beisein Artemidors am Gift ihrer Rivalin Elektra im ekstatischen Wissen um den Wert ihrer griechischen Geisteswelt – und Artemidor, der dem kaiserlichen Verbannungsedikt gegen Juden, Christen und Philosophen unterliegt, ist ihretwegen erstmals zu altruistischem Handeln fähig. Aus all diesen Todeskapiteln geht (noch) kein Sieg, aber doch eine starke untergründige Präsenz des Christentums und der „israelischen, griechischen und römischen Zivilisation“ im hadrianischen Rom hervor. Insbesondere gilt dies für die Darstellung des Ablebens des jungen Epirers Sohn Alexanders: das Projekt eines jungen Idealmenschen, der in der Entfaltung vom Denker in griechischen Philosophiekonzeptionen zum Träger frühchristlicher Werte begriffen ist, kommt hier an seinen Höhepunkt und sein brüskes Ende.
Mit großer Raffinesse bringt der Dichter bei seiner Schilderung antiker Personen und Verhältnisse aber auch eine eindrückliche indirekte Sekundärdarstellung der Moderne des 19. Jahrhunderts zustande, ohne die Antike zur bloßen Kulisse zu reduzieren. Das hadrianische Rom bleibt poetisch mit sich identisch, auch wenn die wörtlich im Text erwähnten „neuen Roms“ nicht nur Byzanz, sondern auch die modernen Weltstädte London und Paris und die Monarchensitze Petersburg und Berlin evozieren. Der jüdische Bar-Kochba-Aufstand führt jeden Leser der Mitte des 19. Jahrhunderts assoziativ auf die Revolutionen und Insurrektionen seiner Gegenwart – nicht nur auf die polnischen Aufstände von 1830/31 und 1863, sondern auch auf die europaweiten Revolutionen um 1848.
Die indirekten Modernebezüge der einzelnen Figuren werden durch Stichworte und Andeutungen im Erzählmonolog, aber auch durch literarische Anspielungen hergestellt. Fast jede der dargestellten antiken Figuren ist unter dem Einfluss des erwähnten Heilsplan-Mythos bewusst oder unbewusst ihrer antiken Lebensmodelle unsicher geworden und schon von daher dem „modernen“ Menschen verwandt. Jede verlockt zu losen und ganz punktuellen Assoziationen mit Typen der modernen Gesellschaft, verweigert sich aber ernsthafterer allegorischer Identifikation – und gerade in diesem Widerspruch liegt ein eigenartiger Reiz.
Dazu kommen literarische Anspielungen auf Figuren der seinerzeitigen Gegenwartsliteratur, die namentlich für an Polnischem interessierte LeserInnen überraschend sein können. Der das hadrianische Rom erkundende antike Sohn Alexanders ist, unter vielem anderen, erkennbar ein Gegenentwurf zu Mickiewiczs in das Petersburg von Zar Nikolaus I verschlagenem Konrad aus dem versepischen Anhang zum Dritten Teil der Ahnenfeier : Konrad ist auf der Suche nach metaphysischer Unterstützung für seine national orientierte Hoffnung auf die Vernichtung der Hauptstadt des wichtigsten, russischen Zwingherren über Polen; die Figur „Sohn Alexanders“, prä- und supranational, sucht in der antiken Weltstadt Rom nach der metaphysischen Wahrheit in der Menschheits-Zivilisation. Die antike Poetesse Sophie von Knidos lässt vage und fast unerlaubt an moderne polnisch-internationale Salondamen denken, an Delphine Potocka, die Muse Frédéric Chopins und Zygmunt Krasińskis, oder an Maria Kalergis , Norwids unerreichtes Liebesideal. Der antike Modephilosoph Artemidor erinnert irgendwie an Modedenker des 19. Jahrhunderts von Hegel bis Auguste Comte, der Magus Jason irgendwie an jüdische oder jüdischstämmige Persönlichkeiten der Neuzeit, von Dow Ber Meisels (1798-1870) bis Armand Lévy (1827-1891). Zugleich scheinen sie in unauffälligen Details minimale Anspielungen auf neuzeitliche Dichter zu enthalten – Artemidor auf die Person Zygmunt Krasińskis, Jason zumindest auf die Figur des Juden Jankiel in Adam Mickiewiczs Versepos Pan Tadeusz. Zugleich aber setzt sich jeder Versuch einer seriöseren Inbezugsetzung dem Vorwurf der puren Spekulation aus.
In der Stiftung dieses Dilemmas liegt eine spezifisch Norwidsche Methode, die am transparentesten in seiner Darstellung von Kaiser Hadrian (vor allem Gesang XIX) zur Geltung kommt. Der Imperator wird uns nicht sine ira et studio als der Jahrzehnte wirkende Friedensherrscher vorgeführt, der aus der Geschichte bekannt ist, sondern – polemisch, aber nicht antihistorisch – in seiner persönlichen Zerfallsperiode. In legerer Kleidung erscheint er in einer Laube seines monumentalen Schloss- und Gartenkomplexes „Villa Hadriana“, als kränklicher, getriebener, nervöser Mensch, dessen homosexuelle Neigung angedeutet wird. In pausenlosem Monolog redet er seine teilweise aus der Geschichte bekannten marottenhaften Urteile, Thesen und Allmachtsphantasien an seinen verschüchterten Zuhörer Artemidor hin. Für die LeserInnen wichtig sind hier die Sakrilegien, die Hadrian gegen Juden- und Christentum formuliert und die ihn dem Anti-Christen der neutestamentlichen Offenbarung annähern.
Der Sitz dieses Potentaten in der Antike wird dadurch bestätigt, dass nicht Artemidor, sondern der moderne auktoriale Erzähler höchstpersönlich in einer wütenden Tirade dem antiken Imperator widerspricht, indem er ihm die Überlegenheit der christlichen Neuzeit in Kunst und Technik gegenüber der Antike vorhält: nicht nur ist der christliche Raffael besser als der heidnische Phidias, sondern auch die Dampfmaschine ist stärker als Herkules. Aber gerade in dieser Tirade wird ganz explizit die Verbindung der Figur des Hadrian und des gesamten Werks zur Neuzeit und zur Moderne hergestellt. Dazu kommt, dass der römische Imperator zweimal im Haupttext mit dem russischen Tabuwort „Zar“ tituliert wird und sonst konsequent mit dem anachronistisch neuzeitlichen „cesarz“ – Kaiser, einmal sogar mit der Formel „cesarz-jegomość“ (Kaiserliche Majestät). Das ist der Titel, der im geteilten und besetzten Polen zwischen 1795 und 1917/18 sowohl für den russischen, wie für den österreichischen kaiserlichen Oberherrn offiziell gebräuchlich war – und natürlich ebenfalls für Napoleon I und Napoleon III. Es liegt also durchaus nahe, das Porträt des antiken Imperators Hadrian mit seinem Interesse an architektonischen Stilkopien, an monumentalen Gebäude- und Fernstraßenprojekten und an der Sicherung seines Vielvölkerreiches zumindest indirekt auf die bauwütigen Potentaten von Norwids eisenbahnbewegter Gegenwart zu beziehen – darunter auf alle drei monarchischen Oberherren Polens: den Zaren Nikolaus I, den Kaiser Franz Joseph I und den König Friedrich Wilhelm IV. In besonderer Weise gilt dies für den polizeistaatlichen Terror der hadrianischen Zeit, der in ähnlicher Art in Norwids Gegenwart üblich war – im okkupierten Polen schlimmer als in anderen Gegenden Europas. –
All diese Gegenwartsbeziehungen sind in der Versdichtung Quidam markiert und angelegt, aber bewusst im Hintergrund belassen worden. Einer polnischen Leserschaft sollte gerade ein geistiger Ausweg aus eben dieser Gegenwart gewiesen werden, aus ihrer intellektuell versklavenden nationalen Kalamität der Okkupation und Kolonisierung, und es sollte ein für die gesamte christliche Zivilisation aus „israelischen, griechischen, römischen“ Elementen erweiterter Bewusstseinshorizont aufgetan werden; das alles schließt europäische Leserinnen und Leser durchaus mit ein. Das Finale des Werks – das gleichzeitige Begräbnis der Griechin Sophie und des Juden Jason vor den Augen der zwei unseriösen römischen Trabanten des Artemidor-Kreises, Lucius Pomponius Pulcher und Florus Longinus – deutet in diese Richtung. –
Die Übersetzung dieses Versepos ist von der Freude an seiner besseren Erfassung getragen; sie nimmt sich Freiheiten und ist gewiss nicht fehlerlos. Die gebundene Rede des polnischen Originals – unregelmäßig gereimte Elfsilbler – wird in ungereimte, lose gebundene Rede (meist Fünfheber jambischen, trochäischen oder anderen Zuschnitts) überführt. Sie ist dem Gegenwartsdeutschen angenähert und legt in dieser zweisprachigen Ausgabe auch den LeserInnen des Originals den Blick auf Norwids große Kunst der Nuancierungen, Paradoxien und Pointen frei. Der polnische Text basiert im Wesentlichen auf der Erstausgabe von 1863 , der Kommentar zum deutschen Text hat manches Detail der neuesten kritischen Edition des Originals zu verdanken.

Rolf Fieguth