Gedanken eines alten Übersetzers

Gedanken eines alten Übersetzers

(2021; aus dem Polnischen)

Literarischer Übersetzer bin ich nur neben meiner Haupttätigkeit als Philologe und Literaturwissenschaftler, aber wenn man von Übersetzungen anständig leben könnte, wie es Henryk Bereska konnte, wäre ich Übersetzer geworden und hätte mir die mühsamen Wege zu Hochschulstellen in West-Berlin und schließlich in Freiburg/Schweiz sparen können. Übersetzer wird man oft nicht nur aufgrund der erforderlichen Talente, sondern auch aufgrund bestimmter persönlicher Defizite – psychischer oder biografischer Art; mein Defizit ist meine Unfähigkeit, mich unter meinen eigenen Leuten vollständig zu Hause zu fühlen. Dieser Mangel verfolgt mich noch im Alter, zum Unverständnis meiner Angehörigen und Nächsten, denen er nicht anhaftet: Sie hatten und haben ihre Heimat, auch wenn sie sie freiwillig verlassen haben, und ich jammere, weil ich nirgends ganz zu Hause bin, auch nicht in meiner Geburtsstadt Berlin.

Die Lust am Übersetzen entdeckte ich in den Lateinstunden in den fünfziger Jahren, in dem eigenartigen Städtchen Erlangen bei Nürnberg, nach Berlin, Rudnerweide und Brake dem vierten Ort meiner Kindheit und Jugend. In neun Jahren Latein habe ich die Sprache nicht richtig gelernt, aber ich hatte den Ehrgeiz, lateinische Sätze in echtes, lebendiges und elegantes Deutsch zu übersetzen. Während meines Slawistikstudiums in Berlin (1961–1967), wohl noch vor meiner Promotion, wurde ich in eine Gruppe von Übersetzern russischer Formalisten-Texte einbezogen. Ich übersetzte damals Šklovskij und Jakobson, dessen futuristischer Stil der Literaturtheorie und -analyse am Beispiel der Gedichte von Majakovskij und Chlebnikow mir in meinem Deutsch gut gelang (trotz zahlreicher Fehler, die von Kollegen und Vorgesetzten in gerechter Korrekturwut verbessert wurden, einschließlich meiner Übertragung des russischen skaz).

Am Ende meines Studiums kannte ich zwar Adam Mickiewiczs frühe Dziady fast auswendig, wusste aber sehr wenig über die aktuelle polnische Literatur. In einem Anflug jugendlicher Kühnheit rief ich den Berliner Verleger Karl Henssel an und fragte, ob er etwas für mich zu übersetzen hätte. Herr Henssel schimpfte mich ordentlich aus, dass man so etwas nicht mache, dass man sich ganz anders an einen Verleger wenden müsse (bis heute habe ich nicht verstanden, wie), aber er habe etwas für mich und ich könne vorbeikommen. Es ging um Marek Nowakowski, auf den ihn der unvergessliche Ludwig Zimmerer, Übersetzer, Journalist und bayerischer Exilant im Warschau der Gomułka-Ära, aufmerksam gemacht hatte. Viel später erfuhr ich, dass der Verleger bereits eine Nowakowski-Übersetzung von einem anderen Übersetzer erhalten hatte, einem recht bekannten und mir sympathischen Menschen; er fand sie aber völlig misslungen. Auf jeden Fall wurde ich Übersetzerlehrling bei „Hensselchen», oder besser gesagt bei seinem Lektor, dem Dichter Joachim Uhlmann. Beide konnten kein Polnisch, aber meine Ausbildung bei Uhlmann verlief zur beiderseitigen Zufriedenheit. Daraus entstand eine Sammlung von Ganovengeschichten mit dem schönen Titel Die schrägen Fürsten, mit dem ich auf die in Berlin unter männlichen Prostituierten beliebte Bezeichnung für weibliche Prostituierte anspielte: schräge Fürstinnen. Joachim Uhlmann, als Dichter eine Art Enkel des Stefan-George-Kreises, erinnerte sich an diesen Ausdruck. Ich bin überzeugt, dass meine Übersetzung zwar voller Fehler ist, aber dennoch den Ton der Warschauer Ganoven von Marek Nowakowski trifft, die bei mir eher infantil sprechen und nicht im Stil von Landsern oder gar Großdeutschen Offizieren, wie bei anderen Übersetzern. Diesen Ton habe ich ein wenig meiner eigenen Knabensprache aus den mageren Flüchtlingsjahren (1945-1951) nachempfunden, die ich in Meyershof vor Brake an der Unterweser verbrachte. Zu Norwid und Gombrowicz kam ich fast zeitgleich in den siebziger Jahren, in der Konstanzer Phase meines Lebens (1967-1980). Es steckte darin so etwas wie eine Art Übersetzungsalpinismus – zwei verschiedene Gipfel, die man erklimmen musste. Ich begann Norwid zu übersetzen, weil ich ihn gründlich verstehen wollte, aber auch aus weniger idealistischen Gründen: Ich wollte mir ein eigenes Gebiet der Literaturwissenschaft aneignen. Ich übersetzte ihn so, wie ich zuvor Majakovskij, Chlebnikov und Iosif Brodskij übersetzt hatte, und später, für meine Vorlesungen an der Universität, Julian Przyboś und Tadeusz Różewicz. Daraus entstand die erste Übersetzung des gesamten Norwidschen Gedichtbuches Vade-mecum in eine Fremdsprache. Mit meinem „Alpinismus” als Übersetzer habe ich jedoch meine einzige ernsthafte deutschsprachige Konkurrentin auf dem Gebiet Norwids – die Schweizerin Jeannine Łuczak-Wild – vor den Kopf gestoßen, eine kluge, sehr talentierte und tief gläubige Person, die ich hier mit großem Respekt erwähnen möchte.

Für die letzten Jahre meines Lebens plane ich, Norwids Quidam zu übersetzen, und vielleicht auch weitere Werke von Juliusz Słowacki. nach den im Dezember 2020 erschienenen Übertragungen von Beatryks Cenci und Lilia Weneda. Ich möchte hinzufügen, dass ich bei der Arbeit an Norwid gelernt habe, den christlichen Hintergrund seiner Poesie nicht zu verbergen, sondern daraus ernsthafte Interpretationsideen zu schöpfen, ohne dabei meine private Weltanschauungsneutralität zu verraten.

Eine noch größere Herausforderung war für mich Witold Gombrowicz, dessen Roman Ferdydurke ich derzeit nach vierzig Jahren zum zweiten Mal komplett neu übersetze. Ich habe dieses Werk zuerst in der Übersetzung von Walter Tiel (Rudolf Richter; 1960) gelesen und war sehr beeindruckt. Ich dachte sofort, dass man einen besseren deutschen Stil finden könnte. Meine Vorliebe rührte unter anderem von der Ähnlichkeit einiger Handlungsstränge – ein erwachsener Mann kehrt in die Schule zurück – mit zwei meiner Lieblingslektüren her: Ernst Ecksteins (1845–1900) Gymnasialhumoreske Der Besuch im Karzer (1875; Neuauflagen noch im 21. Jahrhundert) und Heinrich Spoerls (1887–1955) Roman Die Feuerzangenbowle (1933). Bis heute verstehe ich nicht, wie es möglich ist, dass zumindest die Humoreske von Ernst Eckstein nicht in die Hände eines polnischen Übersetzers oder Feuilletonisten gelangt ist und dass Gombrowicz sie nicht kannte. Beide Autoren gehören sicherlich nicht zur Hochliteratur, aber sie schreiben hervorragend und haben eine Vorliebe für Sprachspiele. Ich weiß jetzt, dass Gombrowicz nicht nur mit den Größten, von Dante über Shakespeare, Goethe, Gogol und Nietzsche bis hin zu Thomas Mann, sondern auch mit den Kleineren, wie Edgar Wallace, Elżbieta Szemplińska, Henryk Worcell, Ilja Ehrenburg, in geistiger Verbindung stand; Sienkiewicz las er sicherlich mit viel größerem Vergnügen als die Prosa von Cyprian Norwid. In Gombrowicz sah ich zunächst den Humoristen, den Ballettmeister des Worts, der mit strenger Hand seine Tänzer bei ihren grotesken Bewegungen und Gesten dirigierte; sehr viel später entdeckte ich den Menschen, der in seiner Kindheit durch den Anblick von toten Soldaten des Ersten Weltkriegs traumatisiert wurde und sein ganzes Leben lang tragisch von den übermenschlichen Leiden des Jahrhunderts geprägt war, ganz zu schweigen von seinen starken erotischen Trieben. Ich habe Trans-Atlantyk undŚlub (Die Trauung) mit angehaltenem Atem übersetzt. In dem Roman Trans-Atlantik sah ich den Versuch, sich vor dem vollständigen Erleben des letzten Weltkriegs zu schützen. Das Drama Die Trauung lag mir besonders am Herzen; ich erkannte darin sogar eine geheime Metaphysik.

Die Übersetzung von Ferdydurke, die 1960 in Pfullingen erschien, wurde 1981 in München neu aufgelegt – immer noch unter dem Namen des Übersetzers Walter Tiel, aber nach einer gründlichen Überarbeitung des Textes durch Rolf und Hilde Fieguth. Zwanzig Jahre später, im August 2021 (dem Jahr meines 80. Geburtstags) habe ich dem Zürcher Verlag von Daniel Kampa meine völlig neue Übersetzung geschickt. Ich wäre nicht überrascht, wenn es auch diesmal ein kommerzieller Flop wäre. Ein kleiner Markterfolg gelang bisher nur einer gemeinsam mit Hilde Fieguth erstellten Übersetzung des französischen Bandes Une rose et un balai (Mit Rose und Besen, 2015). Der Autor Michel Simonet, ein in Fribourg bekannter und beliebter Straßenkehrer, Philosoph und Sänger, bietet darin ein Selbstporträt in Prosa und Versen. Seine Müllkarre ist immer mit einer langen Rose geschmückt.