Hermann Wiebe, Fünf Jahre Flüchtlingsleben

H. Wiebe. Leeste b. Bremen d. 2. Feb. 1950

Aus den ersten 5 Jahren unseres Flüchtlingslebens

24. Januar 1945-1950

Das Weihnachtsfest 1944 hatten wir zu Hause in Liessau noch einigermassen ruhig u. nach alter Weise feiern können, trotzdem die Russen schon im Herbst 1944 in Ostpreußen eingedrungen u. unsere dortigen Verwandten zu uns in den Kreis Gr. Werder Bez. Danzig gekommen waren. Dauernd wurden wir beruhigt u. glaubten leider dem törichten Geschwätz von allerlei neuen Waffen, die dem Kriegsbild demnächst eine grundlegende Wendung geben würden. Aber am 23. Jan. 45 wurden wir dann doch beauftragt, uns zur Flucht fertig zu machen. Meine alte 74jährige Schwester Agathe mit ihrem Mann Joh. Fieguth aus Berlin-Gr. Lichterfelde, die seit dem Sommer 1943 bei mir in Liessau Schutz vor den Bombenangriffen gefunden hatten, entschlossen sich leider auch erst am 23. Jan. abends, ihre Heimreise nach Berlin anzutreten. Ich brachte die beiden Alten bei Sonnenuntergang mit meinem Wagen bis zur Weichselbrücke u. verabschiedete mich dort von meinen Geschwistern, wobei Agathe noch sagte: „Wer weiß ob wir uns noch einmal wiedersehen werden!“ Der Zweifel war nur zu berechtigt; wir haben uns nicht wieder gesehen u. auch nichts mehr von ihnen gehört. Sie sind seit dem 23. Jan. 45 restlos verschwunden. Wir nehmen an, daß sie in dem Wirrwarr, der damals schon überall u. auch im Eisenbahnverkehr herrschte, bei einem Zugunglück ums Leben gekommen sind. Sie mögen in Frieden ruhen, wenn auch irgendwo im Massengrab.

Inzwischen waren wir mit dem Packen u. aufladen fertig geworden u. Nachts 12 Uhr kam dann auch der Befehl sofort abzurücken u. unter Benutzung der, zwischen Liessau u. Dirschau eben eingerichteten Notfähre, über die Weichsel zu gehen. Schweren Herzens verliessen wir dann etwa um 2 Uhr morgens mit 5 zweispännigen u. einem gummibereiften u. mit Notdach versehenen 4 spännigen Arbeitswagen u. unserm mit 2 Pferden bespannten Kutschwagen unsere liebe Heimat. Die jungen Pferde (1 zweijähriges u. 4 einjährige Fohlen), sämtliches Rindvieh (ca. 50 Stück), sämtliche Schweine (ca. 20 Stück) u. das Geflügel (ca. 80 Stück) mußten zurückgelassen werden u. wurden der Obhut des Melkermeisters Pillnick u. der Einquartierung überlassen. Viele Bauern hatten bei ihrem Abzug vom Hof alle lebenden Tiere, die sie nicht mitnehmen konnten, frei laufen lassen. Vielleicht war das noch am menschlichsten, denn auf Leute, wie meinen Pillnick, war durchaus kein Verlaß, wie sich sehr bald herausstellte, u. die Einquartierung wechselte fast jeden Tag u. war daher, auch beim besten Willen, ebenfalls nicht zuverlässig.

Das Übersetzen mit den 2 Fähren ging sehr langsam vor sich u. so war unser Liessauer Treck (etwa 40 Wagen) erst bei Sonnenuntergang an der Westseite der Weichsel angelangt u. setzte sich dann in Richtung auf die Danziger Niederung in Bewegung. Meine beiden Töchter Christel u. Lena waren unsere Begleiter, von denen Lena, die ja schon seit einigen Jahren mein Gehilfe in der Aussenwirtschaft gewesen war, die Aufsicht über unsere 6 Arbeitswagen hatte, auf denen neben meinen Arbeiterfamilien auch noch die poln. Saisonarbeiter u. mehrere Frauen aus Liessau mit ihren Kindern (die Männer waren entweder im Kriege oder, mit Ausnahme der Alten u. Rentner, zum Volkssturm einberufen). Der Troß kam nur sehr langsam vorwärts u. wir drei (meine Frau, ich u. Christel) drückten uns bei Regier Czattkau auf die Seite u. fanden bei Regier auch freundliche u. herzliche Aufnahme, während Lena bei dem Treck blieb, der in Güttland übernachtete. Schon bei dieser ersten Übernachtung mußte Lena ihre ganze Energie aufbieten, um es durchzusetzen, daß unsere Pferde zur Nacht unter Dach kamen. Der Bauer, der unsere Pferde aufnehmen sollte, weigerte sich, seine Pferde etwas näher zusammenrücken zu lassen, da mußte denn Gewalt angewendet werden. Es war nicht das letzte mal auf unserm langen Leidensweg! Doch haben wir in Güttland daneben auch viel Liebe u. Hilfsbereitschaft bei andern Bauern erfahren. Am 25. Jan. setzte sich dann der Treck, nicht allzu früh, wieder in Bewegung u. kam bis Herrengrebin, als ein wildgewordener S.A. Mann in voller Kriegsbemalung per Rad angerast kam u. befahl, sofort umzudrehen, denn wir wären ganz unnötiger Weise u. auf eigene Faust von Hause weggegangen. Unser Treckführer, Nachbar Ernst Penner, war nach Praust vorausgefahren, um uns Quartier zu besorgen. Wir waren also führerlos u. beratschlagten auf der Chaussee, am Herrengrebiner Ausweg, was wir nun tun sollten. Der wilde S.A. Mann war natürlich längst weiter gerast, um auch andern Trecks die frohe Mär zu überbringen. Denn wir hörten es garnicht ungern, daß wir wieder nach Hause könnten, aber für diese hereinbrechende Nacht nahmen wir das Angebot des an die Chaussee gekommenen Ortsbauernführers von Grebin an u. Lena rückte mit unsern Wagen ab nach Herrengrebin u. die andern Teile des Trecks verteilten sich auf die nähere Umgebung. Wir drei im Kutschwagen machten aber schleunigst kehrt u. waren Abends 9 Uhr wieder auf unserm Hof in Liessau. Aber wie sah es da aus! Alle Räume u. Behälter, die, entgegen meiner Anordnung, verschlossen waren, fanden wir aufgebrochen vor. Das ganze Geschirr war in allen Zimmern u. der Küche verstreut, ebenso die zurückgelassenen Fleisch u. Conservenvorräte u. der ganze Inhalt meines schön gefüllten Bücherschrankes. Und um den Familientisch im Wohnzimmer saßen etwa 10 Offiziere unserer Einquartierung u. liessen sich eine gute Bowle aus unsern Römern schmecken. In der Küche u. um das Haus herum sah es aus, wie im schlimmsten Saustall. Die Toiletten waren unbeschreiblich; immerzu benutzt, aber niemals gespült, weil Niemand Wasser in das Hochbassin gepumpt hatte. Die Wagen alle „requiriert“, da die aus Ostpreußen nachdrängenden Flüchtlinge, die bisher mit Schlitten gefahren waren, auf diese Weise nicht weiter kamen. Da habe ich, trotzdem es ein verhältnismässig kleiner Verlust war, recht um meinen schönen alten vis-a vis Wagen getrauert, in dem ich mit meiner Familie 35 Jahre lang so manche schöne Fahrt unternommen. Als ich den Wagen 1909 von Koletzki Marienburg kaufte u. schweren Herzens die verlangten 932 M. (Barzahl.) ausgab, da sagte mir Koletzki: „Herr Wiebe, der Wagen ist wol etwas teurer, wie bei andern Fabrikanten, aber Sie werden Ihre Freude an dem Wagen haben!“ Und so war es auch. Der Wagen war in 35 Jahren einmal auflackiert u. hatte einmal neue Reifen bekommen. Das war die ganze Reparatur an dem Wagen, der viel benutzt, u. bei der großen Familie natürlich auch immer sehr besetzt war. Im Kuhstall sah es noch verhältnismässig sauber aus. Der Melker, der auch schon einmal geflohen war, war ein paar Stunden vor mir auf den Hof zurückgekehrt u. hatte wenigstens das Vieh gefüttert u. die Kühe gemolken, soweit sie nicht schon von den massenhaft im Stall lagernden Flüchtlingen ausgemolken waren. In der Küche schaffte Christel allmählig Ordnung u. kochte u. kochte Kaffee für die immer wieder neu eintreffenden Flüchtlinge, die großenteils gleich wieder weiterzogen, wenn sie sich etwas aufgewärmt hatten. Nachdem uns das schon von der Einquartierung beschlagnahmte Schlafzimmer eingeräumt, u. meine Frau, wenn auch sehr primitiv, zur Ruhe gegangen war, ging ich zu meinem Nachbarn Janßon hinüber, um etwas über die augenblickliche Lage zu erfahren. J. war, wie auch Nachbar Bachmann, noch nicht 60 Jahre alt u. volkssturmpflichtig u. hatte Befehl, einstweilen in Liessau zu bleiben. Er sah die Lage durchaus nicht als rosig an u. wunderte sich, daß wir überhaupt zurückgekehrt wären. Er wußte auch nichts davon, daß die ganzen Trecks nach Hause zurückkehren sollten. Ein Zeichen mehr, wie verworren die Lage schon war. Jedenfalls brachten wir die kurze Nacht schon recht unruhig zu u. morgens früh riet mir Janßon, doch wieder abzufahren u. den Treck nicht zurückkommen zu lassen. Wir fuhren also am 26. Jan. zum zweitenmal ab, da meine liebe Frau doch sehr in Angst war. Es ging also zum zweitenmal ab nach langem Warten über die Fähre u. nach Dirschau, wo uns Christel, die als Studienrätin schon seit einiger Zeit an der Dirschauer Schule unterrichtet hatte u. daher mit dem Schulleiter gut bekannt war, Nachtquartier in dessen Vorzimmer besorgt hatte. Auch diese Nacht war recht unruhig, die Pferde schlecht untergebracht u. sobald es morgens am 17. Jan. hell wurde, brachen wir gern auf u. fuhren zunächst bis Güttland, wo Lena es 2 Tage vorher so schlecht angetroffen hatte. Wir aber hatten durch Christels Vermittlung mehr Glück u. wurden bei den Eltern einer von Christels Schülerinnen herzlich aufgenommen u. mit Frühstück bewirtet. Dann machten wir uns wieder auf den Weg nach Herrengrebin, um unsern Treck zu suchen. In Herrengrebin angekommen, erfuhren wir, daß unsere Wagen nach einer Übernachtung in Prausterfelde, die ungefähr so verlaufen war, wie die erste Nacht in Güttland, u. nach einer sehr mühsamen Fahrt bergauf auf vereisten Straßen, glücklich auf der Domaine Goschin angekommen waren u. dort gutes Quartier u. reichlich Raum in den vorhandenen Ställen gefunden hätten. Da wir unsern Treck also gut untergebracht wußten, mit Lena auch telef. von Herrengrebin aus sprechen konnten, so nahmen wir das Angebot des Besitzers der Mühle Herrengrebin an u. blieben vorläufig dort u. fühlten uns auch wohl, soweit man sich als Flüchtling in ungewohnter Behausung u. Umgebung wohlfühlen kann. Aber nach 10 Tagen verhältnismässiger Ruhe, die wir besonders schätzten, weil in dieser Zeit böse Schneestürme tobten u. mancher Flüchtling u. besonders kleine Kinder der Flüchtlinge ihr Grab im Schnee fanden, mußten wir unsere Zelte wieder abbrechen. Die auf Danzig zurückgehenden Truppen brauchten Quartiere u. so mußten wir räumen. Meine Frau u. Christel wollten nach Zoppot zu Liesbeth u. brachte ich sie etwa am 7. oder 8. Februar nach Praust zur Bahn, fuhr selbst aber nach Goschin zu meinen Leuten u. wurde von dem Administrator Koepke u. seiner Familie aufs herzlichste aufgenommen. Da außer uns noch Nachbar Janßon mit Frau u. 3 Töchtern u. unser Liessauer Bürgermeister Warkentin mit Frau u. 2 kleinen Kindern bei Koepke untergekommen waren, so war der Raum natürlich etwas eng. Aber bei gutem Willen, und den zeigte Familie Koepke in vorbildlicher Weise, läßt sich allerlei einrichten. Goschin ist ein Brennereigut, das 8000 Ctr. Kartoffeln eingemietet hatte u. nicht verbrennen konnte, wegen Mangel an Kohlen, u. das 80 Milchkühe im Stall stehen hatte, das wenigstens die notwendigste Milch jederzeit bereitstellen konnte, und das nicht zuletzt außerordentlich guten Stallraum zur Verfügung stellen konnte. So fühlten wir uns dort gut aufgehoben, besonders, da auch wieder eine Verbindung zur Heimat angeknüpft wurde, indem auf Wunsch der Kreisverwaltung des Gr. Werders, besonders die in der Nähe von Dirschau beheimateten Bauern angeregt wurden, möglichst viel von ihren Vorräten über die Weichsel herüberzuholen. Das war in unserm Fall besonders die Verladung der eingemieteten Mohrrüben, die auch unter großen Anstrengungen Lenas u. Christels mit 15 Kleinbahnwagen gelang u. dann stehen blieb u. den Russen in die Hände fiel. Die Wagen fuhren gewöhnlich Montag von Goschin nach Liessau u. kamen Sonnabend zurück u. brachten Futter u. Brotgetreide mit. Das ging so einige Wochen ganz schön u. wir hofften immer noch, daß die Russen die Weichsel nicht überschreiten würden. Das taten sie auch vorläufig nicht, wenigstens nicht auf deutschem Gebiet. Aber in Polen waren sie doch über die Weichsel gegangen u. rückten nun allmählig auf der westlichen Seite der Weichsel nach Danzig u. Stettin vor. Zum Geburtstag meiner Frau, 13.Feb., war ich von Goschin nach Zoppot gefahren und kehrte wieder nach Goschin zurück, aber Anfang März siedelte ich vollständig nach Zoppot über u. feierte dort auch am 5. März meinen 76. Geburtstag in kleinstem Kreise. Am 6. März war ich zum letztenmal in Liessau. Lena u. Christel waren soeben mit ihrem Großreinemachen fertig. Das ganze Haus blitzblank gescheuert, der Hof, der zeitweise schon als Dungstätte gedient hatte, gesäubert, Möbel noch ziemlich vollständig da, ebenso der Rindviehbestand u. Schweinebestand u. Hühnerbestand, auch an den Vorräten auf den Speichern fehlte kaum etwas. Die 1000 Ctr. eingemietete Saatkartoffeln waren, der frühen Jahreszeit wegen, noch nicht angerührt, dagegen standen 15 Wag. Mohrrüben auf dem Kleinbahnhof zum Abtransport bereit u. ich fuhr am 6. März wieder zurück nach Zoppot, immer noch in der stillen Hoffnung, daß dieser Kelch an mir vorübergehen möge. Aber am 8. März war Lena u. Christel plötzlich da u. erzählten, daß sie am 7. März Befehl bekommen hätten, sofort Liessau zu verlassen u. daß angeordnet wäre, daß die ganzen Rindviehbestände über die Brücke nach Dirschau u. Danzig zum abschlachten getrieben würden. Wie weit das geschehen ist, entzieht sich meiner Kenntnis, aber Dirschauer Bekannte erzählten, daß sich ungeheure Rindermassen in u. um Dirschau befunden hätten, als am 8. März die Dirschauer Eisenbahnbrücke erneut gesprengt wurde, diesesmal von den Deutschen, 1939 von den Polen. 1939 wurde auch die Fuhrwerksbrücke bei Dirschau gesprengt u. nicht wieder aufgebaut. Alle diese Sprengungen waren sinnlos u. haben den Gegner kaum aufgehalten; wir aber hatten unsere liebe Heimat nun endgiltig verloren.

Die nächsten 3 Wochen, bis zu unserer Flucht auf ein Schiff am 24. März, waren eine fast ununterbrochene Flucht. Mitte März schossen die Russen zum erstenmal in die Stadt Zoppot, wobei noch wenig Schaden angerichtet wurde. Aber ein Geschoß war in das Nachbarhaus von Liesbeths Wohnung Schäferstr. 25 gegangen u. hatte in Liesbeths Wohnung eine große Anzahl Fensterscheiben zertrümmert. Unsere Kinder hielten es für besser, wenn wir Alten sofort unseren Wohnsitz nach Langfuhr zu Christel verlegten. Der Bahnbetrieb war schon in Unordnung, aber nicht vollständig eingestellt, aber die Bahnstrecke war offenbar das Hauptziel der feindlichen Artillerien, deswegen nahmen wir einen Handwagen, beluden ihn mit unseren wichtigsten Sachen, soviel wir schleppen konnten u. schlichen uns auf Nebenwegen nach Langfuhr.

Unsere Tochter Edith (Krankenschwester) war zu einem Wöchnerinkursus in Bromberg gewesen, hatte, wie es dort brenzlich wurde, einen Transport der Wöchnerinnen nach Berlin gebracht u. war dann zu Liesbeth nach Zoppot gekommen. Sie half mir u. Lena beim Umzug nach Langfuhr, während Liesbeth die Mutter trotz Bombengefahr per Bahn nach Langfuhr brachte u. kamen wir auch alle heil in Christels Wohnung in Langfuhr am Johannisberg an. Die Wohnung war durch den Berg etwas gegen Beschuß geschützt u. zudem etwa ½ klm. von der Hauptstrasse entfernt, die damals schon u. später noch mehr, das Ziel der Artillerie u. Flieger war. Aber hatten wir in Zoppot schon einigemale in dem Luftschutzkeller übernachten müssen, so wurde das hier fast zur täglichen oder vielmehr nächtlichen Einrichtung. Dieser Keller war übrigens alles andere als bombensicher und wenn in das Haus oder seine nähere Umgebung eine Bombe eingeschlagen hätte, wären wir alle elendiglich darin umgekommen. Aber der Himmel hatte uns bis dahin behütet und wir sind auch später, trotz mancher Lebensgefahr, in der wir uns oft auf unserer weiteren Flucht befanden, ohne Körperverletzung davongekommen. Unseres Bleibens war aber auch in Langfuhr nicht lange. Die Beschießungen durch Artillerie u. Flieger wurden immer heftiger u. wenn sie auch zumeist der Stadt Danzig galten, so war doch abzusehen, daß Danzig von einem Tag zum andern kapitulieren würde u. wir dann mit in die Hände der Russen fallen würden. Meine Nachbarn, bis auf Habrecht, der in Liessau geblieben war, u. sich beim Einzug der Russen erschossen hatte, waren inzwischen alle nach Langfuhr oder Zoppot gekommen, unter Zurücklassung aller Habe auf der Danziger Höhe u. Jeder versuchte nun, auf ein Schiff zu kommen, das ihn, ganz gleich, ob nach Westdeutschland oder Dänemark, nur aus dem Machtbereich der Russen herausbrachte. Auch wir hatten schon von Langfuhr aus versucht, Schiffsplätze zu bekommen, aber vergeblich. Nun beschlossen wir, nach Neufahrwasser zu unserm Neffen Gustav Penner, der dort als Zollbeamter wohnte, zu gehen u. von dort aus zu versuchen, auf ein Schiff zu kommen. Am 22. März führten wir dieses Vorhaben aus. Meine Frau, Lena u. ich fuhren per Bahn nach Neufahrwasser u. Christel mit Edith brachten auf einem Handwagen unser letztes bisschen Hab u. Gut dorthin. Aber auch hier war zunächst nichts zu erreichen. Gustav Penners hatten uns zwar herzlich aufgenommen, aber Schiffskarten konnten sie uns auch keine besorgen u. die nächsten 2 Nächte brachten wir wieder mit den zahlreichen andern Verwandten von Penner, die dort ebenfalls nach einer Überfahrtmöglichkeit suchten, im Luftschutzkeller zu. Am 24. März, nachdem schon wiederholt von feindlicher Artillerie nach Neufahrwasser hineingeschossen war, faßte ich mir ein Herz, bewaffnete mich mit dem letzten Stück Speck, das wir noch von Haus für Notfälle mitgenommen hatten, u. ging erneut in ein Schiffsbüro, das mich wieder, wie am Tag vorher, abwies. Als ich aber mein Stück Speck hervorzog u. damit winkte, war plötzlich Raum für uns, auf einem Nachmittags abgehenden Schiff; sogar soviel Raum, daß uns freigestellt wurde, soviel Gepäck mitzunehmen, wie wir wollten. Da haben wir dann schleunigst unser bisschen Handgepäck zusammengerafft u. eilten nach der Anlegestelle, wo uns auf einem kleinen 400 Personen fassenden Frachtdampfer Platz zugesichert wurde. Zunächst mußten wir aber, glücklicherweise bei schönstem Frühlingswetter, an einer Lagerschuppenwand viele Stunden auf unsere Einschiffung warten. Zuerst wurden einige Fuhren abgelegte Soldatenmontierungen in einer fast ½ m. dicken Schicht in das Schiff gebracht; das war unsere Pritsche, auf der wir garnicht einmal so schlecht lagen, besonders, nachdem wir erst einmal die harten Gegenstände, wie Stahlhelm, Patronentaschen, Koppel etc. zur Seite geschoben hatten. Mit Sonnenuntergang war unsere Einschiffung beendet u. das Schiff setzte sich in Bewegung. Aber kaum waren wir aus dem Hafen heraus, da stellten sich auch feindliche Flieger ein u. das Fliegerabwehrgeschütz, das auf Kommandodeck des Schiffes stand, begann seine Abwehr. Das wiederholte sich auf unserer 5 tägigen Seefahrt noch mehreremal. Ob die feindlichen Flieger wirklich Bomben auf uns abgeworfen haben, weiß ich nicht, auch nicht, ob unterwegs feindliche U Boote einen Angriff auf unser Schiff gemacht haben, oder ob wir über Minen hinweg gefahren sind. Verdächtig genug scheuerte es einigemale unter unserm Schiffsboden, aber wir kamen am Abend des 28. März 45 unbeschädigt in Warnemünde an u. wurden sofort in die Bahn verladen, wohin wußte Niemand. Die 4 Tage Seefahrt verliefen bei schönstem Frühlingswetter u. spiegelglatter See, so daß Niemand seekrank wurde, oder sonst verloren ging. Es war sogar bei unserer Ankunft in Warnemünde noch eine Person mehr an Bord, wie bei der Abreise aus Neufahrwasser; ein Säugling, dem ein mitreisender Tierarzt an Stelle der fehlenden Hebamme, auf die Welt geholfen hatte. Bei dem schönen Wetter war die Stimmung an Bord im allgemeinen gut. Die Verpflegung mußte allerdings in der Hauptsache Jeder aus seiner Tasche bestreiten, wobei von der Schiffsleitung gelegentlich etwas Brot u. regelmäßig warmer Kaffee, auch mal ein Teller Suppe beigesteuert wurde. Eine große Unbequemlichkeit war für meine Frau der Zugang zu unserm Schiffslogis, das wir glücklicher weise ganz in der Nähe des Ausganges hatten, mit einer einfachen Leiter, u. für die Allgemeinheit der Mangel an Aborten (2 Stück für 400 Personen). Das gab denn ein ständiges anstehen vor den stillen Örtern, wobei manch saftiger Witz, mit Anstand, mit in Kauf genommen wurde. Meine Frau habe ich im stillen bewundert. Sie, die sonst so wasserscheue u. Treppen ängstlich meidende alte Frau, nahm die ganze Reise u. das Klettern, Leiter auf u. ab, mit solcher Gelassenheit hin, daß man sich ein Beispiel daran nehmen konnte.

Nun saßen wir also im Zuge, der uns angeblich über die Elbe u. in die Lüneburger Heide bringen sollte, womit ich auch sehr einverstanden war. Aber als wir am nächsten Morgen aufwachten, waren wir immer noch in Warnemünde. Der Zug hatte nur viel rangiert, u. es war auch davon die Rede, daß es noch eine Weile dauern würde, bevor der Zug weiterfuhr. Da bekamen es Frau u. Töchter Edith u. Lena (Liesbeth u. Christel waren von Berufswegen in Langfuhr geblieben) mit der Sehnsucht nach Krakow a. See, wo Else mit ihrer Schulklasse von Danzig aus schon im Januar hingekommen war. Ich mußte mich schließlich fügen, telefonierte also von Warnemünde aus nach Krakow u. meldete uns bei Else an, u. am späten Abend trafen wir dann auch per Bahn in Krakow ein u. wurden von Else empfangen. Aber mit dem Quartier war es in Krakow natürlich inzwischen auch schlecht geworden. Nachdem wir einige Tage in der Schule zugebracht hatten u. Else mehrere Tage vergeblich nach einer Wohnung für uns gesucht hatte, bekamen wir beide Alte eine Schlafstelle mit guten Betten bei einem alten Fräulein u. unsere Töchter Schlafstelle bei zwei Arbeiterfrauen, deren Männer noch im Krieg waren. Dort konnten sie auch für sich u. uns kochen, was bei dem alten Fräulein nicht gestattet wurde. Die Schlafstellen hielten wir auch etwa 14 Tage bei, aber gekocht mußte bald auf dem einen Ende der kleinen Stadt, bald auf dem andern Ende, bald im Keller u. bald irgendwo unterm Dach werden. Das waren natürlich unhaltbare Zustände u. so machte ich mich eines Tages mit meinem Enkel Peter Wiebe, der aus der Erziehungsanstalt in Plön (Holstein) schon Anfang April zu uns gestoßen war, auf den Weg, um zu versuchen, in der Umgebung von Krakow bessere Unterkunft zu finden. Und wir hatten Glück; etwa 1 Km. außerhalb Krakow, ganz nahe an Wald u. See, hatte sich ein ehemaliger activer Offizier, Major Herwarth v. Bittenfeld, mit den Resten seines Vermögens in der Inflationszeit 1920-24 in einem ehemaligen Waldwärterhäuschen eine Pension für Sommergäste eingerichtet, die z. Z. leer stand. Herr v. Herwarth u. seine Frau geb. v. d. Lanken nahmen uns nach einigem Zögern sehr freundlich auf u. stellten uns 4 Räume u. Kochgelegenheit zur Verfügung, so daß wir mit 6 Personen (Liesbeth war inzwischen auch aus Dänemark eingetroffen) sofort dort einziehen konnten. Wir haben uns dort sehr wohlgefühlt u. war zwischen uns u. den Gastgebern bald ein richtiges Vertrauensverhältnis hergestellt. Aber auch diese Freude sollte von kurzer Dauer sein. Die Russen kamen immer näher u. am 1. Mai gab uns unser Gastgeber 2 Pferde u. einen kleinen Leiterwagen, den wir mit unsern Sachen beluden u. in der Richtung auf Schwerin losfuhren. Bevor aber die Fahrt begann, hatte ich im Walde die aus der Heimat mitgenommenen 9000 Mark u. meine goldene Uhr 2 m. tief vergraben. Desgl. hatten meine Töchter meinen besten Anzug sowie einige von ihren Kleidungsstücken in einer Kiste an einer andern Stelle im Wald vergraben. Ich kann es gleich vorwegnehmen, die ganzen vergrabenen Sachen wurden von uns Ende August wieder unbeschädigt vorgefunden; nur die leichten Damenstoffe u. das Einfutter meines Jaquets hatten etwas gelitten.

Unsere Fahrt ging am ersten Tage flott vorwärts, aber dann gerieten wir in den Flüchtlingsstrom u. kamen sehr langsam vorwärts. Die Nächte verbrachten wir immer etwas abseits von der Straße auf freiem Felde in unserm mit einer Plane überspannten Wagen. Das war für 6 Personen etwas eng u. ungewohnt u. folgedessen auch nicht sehr erholsam. Die dritte Nacht verbrachten in der Nähe von Crivitz i. M., umgeben von hunderten von Panzern, die, in 3 Reihen aufgefahren, auf der Straße in tiefer Dunkelheit übernachteten. Wir waren mit Mühe nach einer Seite von der Straße heruntergekommen, wo wir 10 m. von der Panzerschlange entfernt übernachteten. Wie fest wir geschlafen haben müssen beweist, daß wir nichts davon gehört haben, wie die Panzer beim Morgengrauen abrückten; aber als wir aufwachten, war die Straße leer. Wir kamen dann am 4. Mai, unserm 4ten Fluchttage, durch Crivitz u. noch etwa 10 klm. darüber hinaus. Dann war es wieder Abend u. wir übernachteten gemeinsam mit einer großen Zahl Flüchtlingswagen kurz vor einem Walde auf einer Wiese. Dort fanden uns am nächsten Morgen die Russen in Verbindung mit vielen von ihnen befreiten K.Z.Leuten, die an ihren gestreiften Kleidern erkenntlich waren. Namentlich diese Letzteren hatten sich beritten gemacht u. jagten von einem Flüchtlingswagen zum andern u. schrieen nur immer Ur, Ur, Ur! Darauf, auf die Taschenuhren u. etwaige Schmucksachen, beschränkte sich zunächst die Plünderung. Wir aber wurden dann von den Russen aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Wir beschlossen also, zunächst über Crivitz nach Krakow zurückzukehren, kamen aber nur bis Crivitz. Dort machten wir auf einem Grundstück in der Nähe der Kirche Rast, um etwas zu essen u. auch die Pferde zu füttern. Von den Hausbewohnern wurden wir einigermassen freundlich aufgenommen. Der beladene Wagen lockte aber bald Plünderer an, u. bevor wir gegessen hatten, waren wir schon die wertvollsten Stücke, wie Uhren, Ringe, Schmuck, Lederhandtaschen u.s.w. los, auch wurde uns bald ein Pferd weggenommen, so daß eine Weiterfahrt unmöglich wurde. Es drang auch bald das Gerücht zu uns, daß die Russen außerhalb der Stadt viel schlimmer im plündern waren, wie in der Stadt. Deshalb gaben wir die Weiterfahrt auf u. baten die Leute, bei denen wir Aufnahme gefunden hatten, ein kinderloses altes Arbeiter Ehepaar, bei ihnen bleiben zu dürfen. Das wurde uns zunächst auch freundlich gewährt u. wir 6 Personen bekamen ein mittleres Zimmer mit 1 Bett u. 1 Sofa, die für uns beide Alte als Schlafstätte dienten; die 4 jungen Leute schliefen auf dem Fußboden, notwendig mit einigen Decken zugedeckt. Jeder hatte möglichst alles angezogen, was er mitgenommen hatte. Das schützte uns so einigermassen vor weiteren Plünderungen, denen die Einheimischen noch über eine Woche ausgesetzt waren. Dann wurden den Russen die weiteren Plünderungen verboten, was natürlich, besonders außerhalb der Stadt, lange nicht immer befolgt wurde, aber die Gier nach den Frauen hörte noch lange nicht auf u. da wurde von den Russen selbst angeordnet, daß die jungen Frauen, die sich bedroht fühlten, sich zur Nacht in einen großen Saal begeben sollten, wo sie von entlassenen K.Z.Häftlingen (aber politischen) beschützt werden sollten. Diese Häftlinge, die ja soeben von den Russen befreit waren, genossen bei den Russen ziemliches Ansehen u. wo sie sich gegen eindringende Russen nicht durchsetzen konnten, da genügte meistens ein gemeinschaftlich von allen Frauen unter Leitung der K.Z.Leute ausgestoßener gellender Hilferuf, der die russ. Patrouilie anlockte, welche die eingedrungenen Wüstlinge hinauswarfen. Aber Schändungen liessen sich damals in der ersten Zeit doch lange nicht immer verhindern. Auch meine Familie wurde betroffen. Einen besondern Übelstand brachte die gemeinsame Übernachtung der Frauen mit sich; es fanden sich Kleiderläuse, die nachher in die Wohnungen verschleppt wurden. Ich bin die Läuse erst in Flötz endgiltig losgeworden. Allmählig wagten sich die Deutschen auch wieder auf die Straßen. Peter war der Erste, der das Terrain sondierte u. manches aufhob u. nach Hause brachte, was die Russen weggeworfen hatten, er hat in den ersten Wochen erheblich zur Ernährung der Familie beigetragen. Dann begann auch ich, auf die Nachbardörfer Barnien u. Zappel zu gehen u. konnte manchmal 4-6 Lit Milch u. einige Eier u. nachher Obst mitbringen. Liesbeth hatte sich eine Arbeitsstelle in der russischen Offiziersküche besorgt, wo sie, neben etwas Baarlohn, freie gute Verpflegung hatte u. auch, wenn sie sich mit der russ. Köchin gut stand, viel Brotrinden u. Knochen, an denen noch etwas Fleisch dran geblieben war, mitnehmen konnte. Das gab dann ein lukullisches Mahl für uns. Edith arbeitete in einer Gärtnerei u. Peter hatte sich auch bald eine Arbeitsstelle mit Beköstigung versorgt u. Lena ist monatelang zu Feldarbeiten mit vielen andern Frauen von einem der umliegenden großen Güter mit L.K.W. abgeholt [?]. Das begann immer sehr früh, da die Russen nicht nur 1 Std, sondern 2 Std die Uhr in der Sommerzeit vorgestellt hatten. Im August ließ sich diese Zeit nicht mehr aufrecht erhalten, da es stockdunkel war, wenn sich die Frauen auf dem Markt versammelten. Und so waren wir ohne Hunger durch den Sommer 1945 hindurchgekommen. Kartoffeln u. Schwarzbrot waren unsere Hauptnahrungsmittel gewesen, wobei der Schwerpunkt noch bei den Kartoffeln lag, die aber sowohl in Me[c]klenburg, wie späterhin in Sachsen von vorzüglicher Qualität waren. Der Brotaufstrich bestand meistens aus allerhand Zubehör, das Lena recht geschickt zusammengemixt hatte, der aber ganz sicher mit Fett nichts zu tun hatte und die Mahnungen klingen mir noch immer in den Ohren: „Vater, nimm nicht zuviel Brotaufstrich, nimm nicht zu viel Salz, nimm nicht zu viel Stiefelwichse u.s.w.!“ Unsere Wohnung hatten wir sehr bald aus der Wohnung der alten Rentner in ein dem Tischlermeister Hayden gehöriges Nachbarhaus verlegt, wo wir 2 Treppen hoch, ein kleines Giebelstübchen bekamen, das zwar nach Südwesten lag, aber nie Sonne bekam, weil der riesige Kastanienbaum davor kein Licht durchlies. Im August war ich dann mit Peter u. seinem Arbeitskameraden nach Krakow a. See gewandert, um nachzusehen, ob unsere vergrabenen Sachen noch dort waren. Die Reise sollte eigentlich mit der Bahn vorgenommen werden, die damals schon auf einigen Strecken, aber leider ganz unregelmäßig, verkehrte. Und gerade an dem Tag, als Peter u. sein Kamerad Urlaub bekommen hatten für diese Reise, fiel der Zug nach Krakow aus. Aber wir liessen uns nicht abschrecken u. marschierten mit genügend Brot im Rucksack los gen Krakow u. haben die 50 klm. in 1 ½ Tagen geschafft, was ich mir in Liessau sicher nicht zugetraut hätte. Am ersten Tag bekamen wir in einem Dorf sehr gutes Mittagessen (Erbsen mit Speck) u. Abends ein Nachtlager im Heu. Am 2. Tage waren wir einige Kilometer mit einem L.K.W. mitgefahren u. kamen am Nachmittag so früh in Krakow an, daß wir gleich an die Schatzgräberei gehen konnten. Das, von mir vergrabene Geld, u. die goldene Uhr fanden wir sofort u. ganz unbeschädigt, aber die von meinen Töchtern vergrabene Kiste mit Kleidern konnten wir nicht finden. Ich ging dann noch zu dem etwa 200 m. entfernten Häuschen der Familie v. Herwarth u. fand dasselbe fast ganz ausgeplündert vor. In dieser Zeit wohnten gerade Danziger Landsleute darin, die ich aber nicht kannte. Herr v. Herwarth hatte mir die 4 Stellen bezeichnet, wo er seine Wertsachen vergraben hatte. Davon war eine Stelle aufgegraben u. ausgeplündert. Ob an den andern 3 Stellen nachgegraben war, konnte ich nicht feststellen, ohne die Aufmerksamkeit der derzeitigen, mir unbekannten Hausbewohner zu erregen. Ich ging dann mit meinem geretteten Schatz u. meinen Begleitern in einen Nachbarhof, wo wir im Stroh der Scheune übernachten konnten. Dann trennten wir uns am nächsten Morgen. Meine beiden Begleiter gingen wieder zurück nach Crivitz u. ich machte mich auf den Weg nach Güstrow, wo ich im April schon einmal von Krakow aus gewesen war u. meine dort wohnende Tochter Margarete mit Frau u. Frl. Bänfer besucht hatte. Die letzteren Beiden waren auch jetzt noch dort, aber Grete war mit ihrem gemeinsamen ganzen Gepäck im April abgefahren, nach Westen, um den Russen zu entgehen. Dieselbe Absicht hatten die beiden Damen Bänfer auch gehabt; sie verluden auch gemeinsam ihre Sachen in den letzten Zug, der vor Ankunft der Russen von Güstrow abging, aber nachdem Grete u. die ganzen Sachen eingeladen waren, fuhr der Zug plötzlich los u. ließ die Damen Bänfer auf dem Bahnsteig stehen. Nun fand ich also nur die letzteren Beiden in der mir bekannten Wohnung vor. Sie haben sich dann auch noch einige Monate in Güstrow durchgehungert und sind dann doch noch nach dem Westen in die englische Zone u. zu Grete gekommen u. zwar nach Stade, wo sie alle drei auch heute noch wohnen u. Frl. Bänfer als Studienrätin bei der dortigen Oberschule angestellt ist. Ich setzte dann am Nachmittag meine Reise mit der Bahn fort, um über Schwerin nach Crivitz zurückzugelangen. In Schwerin habe ich dann noch das Frl. von der Lanken, Schwester von Frau v. Herwarth besucht, um dort vielleicht etwas von der Familie v. Herwarth zu erfahren. Man konnte mir dort auch keine Auskunft über v. Herwarth geben, hielt mich aber über Nacht dort. (Schlafraum im Flur auf einem Sessel) u. am nächsten Tage marschierte ich die 20 klm nach Crivitz, teilweise von einem Pferdefuhrwerk mitgenommen u. Nachmittags war ich wieder in Crivitz, fast zugleich mit Peter u. seinem Kameraden u. einigermaßen befriedigt von meiner Reise. Das war so ziemlich die erste größere Reise, die ich in der russ. Zone, teils zu Fuß, teils mit der Bahn u. mit Gelegenheitsfuhrwerken, mit Übernachten in Heu u. Streu, auch mal auf einem Sessel mit meinen 76 Jahren zurücklegte u. war eine gute Vorübung für kommende Reisen gewesen.

Anfangs September war ich dann noch einmal mit Lena per Bahn nach Krakow gefahren, um die von ihr vergrabene Kleiderkiste zu suchen, u. wir hatten tatsächlich auch diesesmal Glück u. fanden die Kiste, sonst unbeschädigt, aber vom Regen etwas mitgenommen. Diesesmal hatten wir das Glück, eine von den Arbeiterfrauen zu finden, die meinen Töchtern einige Wochen im April Schlafstelle gegeben hatten. Dort schliefen wir in Daunenbetten, wie schon lange nicht. Welche Wohltat für einen alten Mann, aber auch für Lena, die schon monatelang in unserm sehr kleinen Zimmerchen bei Hayden auf dem Fußboden ihr Nachtquartier gehabt, während meine Frau in einem Bette u. ich auf einem langen Sofa nächtigten. Neben dem kleinen Zimmer befand sich übrigens ein großer Trockenboden, den wir für unsere Mahlzeiten u. Mutter für ihre Handarbeiten benutzen konnten. Dieser Raum hatte zwar nur Dachfenster, durch die man nicht auf die Strasse sehen konnte. Dafür konnte man aber die Kirchturmuhr sehen, die auch meistens im Gange war. Und das war auch ein Vorteil in dieser Zeit, wo die Russen fast alle Taschenuhren geklaut hatten. Zwischen meiner ersten u. zweiten Reise nach Krakow waren ganz unverhofft unsere Kinder Hans u. Lotte Penner zu uns gekommen, die sich bisher im Erzgebirge aufgehalten hatten u. jetzt im Begriff standen, nach Flötz Krs. Zerbst überzusiedeln, wo Christel (Ernsten’s Frau) mit ihren 4 Kindern seit Jan. schon bei dem Bauern Rode, einem Studienfreund von unserm Sohn Ernst, Aufnahme gefunden hatte. Rode wollte auch die Familie Penner und eventuell auch uns aufnehmen u. da wir in Crivitz doch recht schlecht untergebracht waren, auch keine Besserung in unsern Wohnverhältnissen absehen konnten, so waren wir den Vorschlägen Penners, auch nach Flötz zu gehen, sehr zugänglich. Aber zuerst mußte doch eine amtliche Erklärung der Gemeinde Flötz resp. des Herrn Rode über die Zuzugsgenehmigung nach Flötz beschafft werden. Hans Penner war inzwischen nach einwöchentlichem Aufenthalt in Crivitz wieder ins Erzgebirge zurückgefahren, um seine Tochter u. die Sachen abzuholen u. nach Flötz zu bringen. Lotte blieb noch einige Tage länger in Crivitz, da Edith inzwischen schwer an Typhus erkrankt war. Ich wollte mit Lotte zusammen nach Flötz fahren, um die Einreiseerlaubnis nach Flötz für uns zu besorgen. Da die Krankheit bei Edith aber tagelang keine entscheidende Wendung nahm, die Zeit auch drängte, so fuhr ich schweren Herzens trotzdem mit Lotte mit, zunächst an einem Abend bis Schwerin, dann in der Nacht in einem Güterwagen nach Berlin. Diese letztere Strecke wurde als besonders unsicher geschildert, aber in dieser Nacht kamen wir ohne Raubüberfall davon. In Berlin war langer Aufenthalt, die Stadt, besonders in ihrem Zentrum furchtbar zerstört, von Verkehrsmitteln fast nichts im Gange u. wir also darauf angewiesen, zu Fuß vom Lehrter Bahnhof zum Potsdamer Bahnhof zu gehen u. dort zu versuchen, nach Wannsee zu kommen, von wo erst die Fernzüge abfuhren. Als wir nun gegen 12 Uhr mittags auf der Fahrt nach Wannsee in die Nähe von Niklassee (kurz vor Wannsee) kamen, sagte ich zu Lotte, halb im Scherz, hier in Niklassee war Kurt sein letztes Kommando, ob ich mal aussteige u. Nachfrage nach ihm halte? In Wannsee sind sowieso 4 Std. Aufenthalt bis zur Abfahrt unseres Zuges nach Flötz. Lotte meinte lachend, das wäre wol ganz unmöglich, von Kurt etwas zu erfahren; sie wolle aber gerne die 4 Std. in Wannsee auf mich warten. Ich steige also in Niklassee bei schönstem Sonnenschein aus u. wie ich den Bahnhof verlassen will, sehe ich in etwa 50 m. Entfernung einen Mann in blauer Monteurkleidung, in Unterhaltung mit einem andern Mann stehen. Ich denke so bei mir, Karl hatte doch immer was mit Monteuren zu tun, ob dieser Monteur vielleicht etwas von meinem Sohn weiß. Ich gehe also kurz entschlossen zu dem blau bekleideten Mann, stelle mich vor u. erzähle ihm, daß ich meinen Sohn, den Kurt Wiebe suche, der hier zuletzt in der Marinesiedlung Dienst getan hätte. „Mann, sagte mein neuer Freund, da haben Sie aber Glück gehabt! Ja, der Kurt wohnt hier u. fährt mit einem Lastkraftwagen für die Stadt; er wird z.Z. wol auf Tour sein, aber seine Wirtschafterin arbeitet hier als Plätterin bei den Amerikanern. Sie können dort ohne Eintrittskarte nicht hin, wegen der Absperrung, aber ich gehe dort sowieso vorbei u. werde ihr Nachricht von Ihnen geben, bitte, warten Sie hier, bis sie in Kurzem hier vorbei kommt, um zum Mittag nach Hause zu gehen!“. Und nach etwa einer halben Stunde stand meine neue Freundin plötzlich vor mir, begrüßte mich aufs herzlichste u. lud mich zum Mittagessen ein. Da habe ich denn nach Vertilgung einer tüchtigen Portion Bratkartoffeln noch ein Stündchen mit Frl. Vally verplaudert, in der sie mir von Kurt u. auch von sich erzählte u. daß sie sudetendeutscher Flüchtling sei u. von ihrem tschechischen Vater nur den Namen, sonst alles von ihrer deutschen Mutter geerbt habe. Da ich Kurt diesesmal noch nicht zu Gesicht bekam, so bestellte ich einen Gruß an ihn u. ich würde in einigen Tagen auf meiner Rückreise nach Crivitz wieder herankommen. In Wannsee angekommen, konnte ich meiner auf dem Bahnhof wartenden Tochter Lotte triumphierend meinen Erfolg melden. Wir fuhren also um 4 Uhr weiter, u. zwar zunächst bis Belzig, da war zunächst Schluß der Reise, aber nach einiger Wartezeit kam ein leerer Güterzug vorbei, der zwar auch nicht bis Güterglück fuhr, aber bis zu dem Stellwerk, kurz vor Güterglück, und der nahm uns dann bis zu diesem Stellwerk mit, wo wir unter Ängsten vor den umherschwärmenden Russen die Nacht mit einigen Reisegefährten in einem verschlossenen Stellwerkraum wenig angenehm verbrachten. Der 5 klm. lange Fußweg bis nach Flötz im Morgengrauen wurde mir nach der strapaziösen Reise doch recht schwer. Aber in Flötz bei Rode angekommen, harrte unser eine neue angenehme Überraschung. Als wir die Tür zu Christels Wohnung öffneten, stand Ernst plötzlich vor uns, aus russischer Kriegsgefangenschaft, zwar etwas abgemagert, aber sonst gesund zurückgekehrt. Und so hatte ich denn innerhalb 24 Stunden 2 Söhne wiedergefunden. Von unsrem dritten Sohn, der sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft befinden sollte, waren von seiner Frau Christa, die in Rahme b. Oeynhausen Unterkunft gefunden hatte, auch, wenn auch sehr ungewisse, Nachrichten gekommen. Da meine Tochter Christel mit ihrer Schwester Liesbeth zusammen nach Dänemark geflüchtet, u. dort zurückgeblieben war, als Liesbeth schon im April aus Dänemark zu uns nach Krakow a. See kam, sich aber auch schon bei meinen Kindern in Flötz hören lassen, so war doch schon eine Hoffnung vorhanden, daß meine Kinder alle den Zusammenbruch überlebt hätten. Nur von meiner Schwiegertochter Ruth, der Frau meines ältesten Sohnes Kurt u. ihren beiden jüngeren Söhnen Ulrich u. Frank fehlte einstweilen noch jede Nachricht. Sie war auf ihrer Flucht mit ihrem Treck bis Pommern gekommen u. dort, wie so viele Landsleute, sitzen geblieben. Über ihr ferneres Schicksal fehlte zunächst noch jede Nachricht. Ich erhielt dann von Rode, der zwar verwundeter Soldat, aber augenblicklich aus dem Krankenhause des benachbarten Barby beurlaubt war, die Erlaubnis zum Zuzug nach Flötz, wo ich neben meinen Kindern u. Enkeln auch die Schwiegereltern Kerber unseres Sohnes Ernst vorfand. Mit Ernst, der schon am nächsten Tage nach Berlin fuhr, um sich in der Centrale seiner früheren Dienststelle zur Verfügung zu stellen, verabredete ich eine Zusammenkunft bei Kurt an einem der nächsten Tage. Das klappte auch alles sehr gut u. ich konnte Kurt nun auch persönlich begrüßen, aber von seiner Frau u. seinen 2 jüngeren Söhnen wußte er auch nichts. Wir verabredeten nun aber, daß ich am nächsten Tage mit dem Abendzuge nach Schwerin u. Crivitz fahren u. unsere Zelte dort abbauen sollte. Für den auf den 18 September festgesetzten Umzug hatte sich Ernst zur Verfügung gestellt u. wollte dann nach Crivitz kommen. In Berlin wollten wir dann bei Kurt Station machen, daß Mutter u. Lena auch ein Wiedersehen mit Kurt möglich gemacht wurde. Der Plan war soweit ganz gut, bekam aber schon am nächsten Abend einen Riß, da ich mit dem total überfüllten Zuge nicht mitkam. Was nun? Nach Nikolassee zu Kurt konnte ich an dem Abend nicht mehr, da die Vorortbahnen schon nicht mehr verkehrten. Der Bahnvorsteher verwies mich an ein Asyl in der Nähe, aber ich konnte das Asyl in der Dunkelheit (Straßenlaternen brannten nicht) nicht finden u. irrte in den Straßen umher, bis ich einen Leidensgefährten fand, der auch zu einem Asyl hinstrebte u. besser bekannt war, wie ich. Wir gingen nun noch etwa ½ Std. u. als wir dann vor einem großen, vierstöckigen vollkommen unbeleuchteten Gebäude standen, sagte er: „Das ist das Asyl“ und verschwand. Ich tappte nun im dunkeln in dem großen Gebäude umher, bis ich in etwa 2 oder 3 Treppen Höhe hinter einer unverschlossenen Tür einen großen Saal fand, in dem wol an 100 Männer nächtigten. Ich suchte mir eine Stelle aus, auf der noch kein Mensch lag. Glücklicherweise war der Platz in der Nähe eines Fensters ohne Scheiben, sonst hätte ich es bei dem Gestank, der in dem Raum herrschte, nicht ausgehalten. Neben mir lag ein Landser, mit dem ich ein paar Worte wechselte u. der angeblich auch nach Schwerin wollte. In der Nacht mußte ich einmal aufstehen, um eine Toilette auszusuchen u. ließ meinen Rucksack mit meinem Proviant liegen. Als ich nach stundenlangem Umherirren in dem großen stockdunkeln Gebäude endlich meinen Schlafraum wiederfand, war mein Schlafkamerad verschwunden u. mein Rucksack auch. Das hatte mich alles doch stark mitgenommen u. ich dachte so, wenn dir hier etwas passiert, so weiß keiner meiner Angehörigen, wo der 76jährige Vater geblieben ist. Aber endlich graute der Morgen und ich machte mich erneut auf den Weg zu meinem Sohn Kurt, da mein Reiseproviant ja weg war u. ich wieder bis zum Abend warten mußte auf einen Zug nach Schwerin. Nachdem mich Frl. Vally frisch verproviantiert hatte (Kurt war auf Tour mit seinem L.K.W.), ging ich Abends so früh zum Bahnhof, daß mir ein Mitkommen selbstverständlich erschien. Aber Andere waren mit derselben Absicht auch recht früh zum Bahnhof gegangen u. so war es auch jetzt nur unter lebensgefährlichem Gedränge möglich, in den Zug zu kommen. Und als dann der Zug so recht schön langsam durch die dunkle Nacht trödelte, waren auch bald Räuber aufgestiegen u. plünderten das Reisepublikum gründlich aus. Ich hatte Uhr u. Geld schon vorsichtshalber aus Weste u. Jacke weggenommen u. in meinen Unterkleidern versteckt u. ist mir nichts fortgekommen, aber wer seine Uhr in der Westentasche u. seine Brieftasche in der Jacke, wie gewöhnlich trug, wurde sie auch los u. besonders begehrt waren die Reisekoffer. So kam ich denn nach mancherlei Aufregungen u. Strapazen, aber doch wohlbehalten wieder in Crivitz an u. konnte meiner Frau, die noch immer wegen Edith in großer Sorge war, doch auch viel freudige Nachricht mitbringen.

Am 16. September 45 kam dann Ernst zu mir u. half sehr beim packen u. am 18. September verliessen wir mit Ausnahme von Edith, die immer noch im Krankenhause war u. von Liesbeth, die eben dabei war, sich in Crivitz einen Handarbeitsbetrieb einzurichten u. gleichzeitig sich um Edith kümmern wollte, die wenig gastliche Stadt Crivitz. Unserm Hauswirt Hayden u. seiner Frau konnten wir nur alles gute wünschen u. daß sie nicht auch noch einmal in die Lage von Flüchtlingen kämen. Zum Transport nach Schwerin hatten wir uns ein Pferdefuhrwerk von Peters letztem Arbeitgeber angenommen u. in Schwerin packten wir uns u. die Sachen in einen Güterwagen, mußten in Berlin unter mancherlei Schwierigkeiten noch einmal umladen, übernachteten bei Kurt u. waren dann am 20. September wohlbehalten in Güterglück. Derweil Ernst u. Lena nach Flötz gingen, um ein Fuhrwerk zu holen, blieben meine Frau u. ich auf dem Bahnhof Güterglück bei dem Gepäck, u. beim schönen Abendsonnenschein waren wir alle wohlbehalten in Flötz, wo Schwiegertochter Christel u. ihre Eltern uns unser neues Heim, ein kleines Nebengrundstück von Rode, möglichst wohnlich gemacht hatten. Wir waren nun ein ganzes Familienkonsortium in Flötz, Ernst mit Frau u. 4 Kindern, seine Schwiegereltern, seine Eltern mit Lena u. Peter u. seine Schwester Lotte mit ihrem Mann u. Tochter Marlene. Ausser uns 4 Alten, Lotte u. den kleinen Kindern ging alles bei Rode zur Arbeit, dem seine polnischen Saisonarbeiter sofort nach dem Eintreffen der amerikanischen Soldaten unter Mitnahme von mehreren Pferden u. Wagen u. sonst noch brauchbaren Sachen davongelaufen waren. Die Amerikaner hatten sich nicht lange in Flötz aufgehalten, sondern nach einigen Wochen den Russen Platz gemacht u. diese hatten Rode, der Reserveoffizier war, einige Tage vor unserm Eintreffen in Flötz verhaftet u. nach Rußland verschleppt. Die Leitung der Wirtschaft lag also bei dem alten 70 jährigen Rode, der derselben, besonders unter diesen schwierigen Umständen, durchaus nicht mehr gewachsen war. Er hätte es ja leichter haben können, wenn er meinem Ernst die Leitung übertragen hätte, der durch seine 15 jährige Tätigkeit als Wirtschaftsberater in Ost u. Westpreußen doch hinlänglich Erfahrung besaß. Aber dazu war der alte Herr viel zu mißtrauisch, was von vorneherein eine gewisse Schärfe in das Verhältnis zu der Familie Rode brachte, das im Laufe der Zeit auch durchaus nicht besser wurde. Aus dem Nebenhaus der Rodes, wo wir mit Penners zusammen wohnten u. gemeinsamen Haushalt führten, mußten wir nach 4 Wochen schon wieder heraus u. mit einem früheren Melker tauschen, der unter den Russen Bürgermeister geworden war u. dieses Grundstück, das Rode vor vielen Jahren einmal zugekauft hatte, wieder von dem Hauptgrundstück abtrennen u. für sich behalten wollte. In den 2 ½ Jahren, die ich in Flötz gewohnt habe, hat er auch das ca. 30 pr. Morgen große Grundstück bewirtschaftet. Wir aber mußten in eine Arbeiterwohnung der Bauern Baumgarth mit Penners ziehen u. haben dort auch bis zu unserm Wegzug in die engl. Zone gewohnt. Im November 45 brach Typhus in Flötz aus u. ein bisheriges geräumiges Arbeiterhaus wurde Seuchenlazarett. Die Schwiegereltern von Ernst u. seine Tochter Erika mußten dieses Lazarett auch beziehen u. der Schwiegervater Heinrich Kerber starb dort auch im November 1945 u. ist auf dem ev. Friedhof in Flötz begraben. Wir andern aber mußten nun neben den landwirtschaftlichen Arbeitern auf dem Rode’schen Hof für Brennmaterial u. Kartoffeln sorgen, denn der Winter stand vor der Thür. 30 Ctr. Kartoffeln bekamen wir auch sofort von Baumgarth für 3 M. pr. Ctr., aber Brennmaterial war für Geld u. gute Worte nicht zu bekommen u. so folgten wir der Empfehlung des Gemeindevorstehers, in den nahegelegenen Wald zu gehen u. uns Brennungzu holen. Aber in den Bauernwäldern ringsum protestierten die Eigentümer allmählig gegen dieses, durchaus nicht feine Verfahren u. der Förster im Staatswald erwischte meine Kinder doch einmal bei solchen „Requisitionen“ u. drohte Tochter u. Schwiegertochter furchtbare Strafen an, aber schließlich ließ er uns gegen Bezahlung, die wir ja auch immer angeboten hatten, das geklaute Holz; nur mußten sich Tochter u. Schwiegertochter verpflichten, im nächsten Frühling 14 Tage Waldarbeit in den Kulturen gegen Bezahlung zu leisten. Schließlich gab uns der Förster im nächsten Sommer nach geleisteter Waldarbeit, soviel Zapfholz, daß wir für den nächsten Winter einigermassen versorgt waren. Ehre seinem Andenken!

Im Laufe des Winters 45/46 bekamen wir dann allmählig Fühlung mit unsern, in die engl. Zone gezogenen Kindern Grete, Else u. Schwiegertochter Christa u. mit Christel in Dänemark. Ganz besonders wichtig war aber für uns, daß wir Anschluß an unsere amerikanischen Verwandten bekamen u. von Ende des Jahres 1946 an bis heute kräftig von Amerika unterstützt wurden. Ich hatte in meinem ersten Schreiben nach Amerika Anfang 1946 die sämtlichen Adressen meiner Kinder angegeben u. alle wurden unterstützt. Und nicht nur ich u. meine Kinder, sondern auch die Kinder meiner Geschwister, soweit ihre Adressen in Amerika bekannt waren, erhielten viel Hilfe an Kleidung u. Nahrungsmitteln u. nicht zuletzt auch guten Zuspruch von dort. Möge ihnen der Himmel vergelten, was sie an uns getan!

Edith war inzwischen in Crivitz gesund geworden u. kam noch vor Weihnachten nach Roßlau b. Dessau als Krankenschwester u. Liesbeth als Lehrerin nach Meinsdorf b. Roßlau, so daß wir diese Beiden ganz in der Nähe hatten. Liesbeth u. Kurt konnten sogar schon an der ersten Weihnachtsfeier in Flötz teilnehmen. Edith war dienstlich behindert. Von Christa erfuhren wir daß ihr Mann – Hans Hermann – in amerik. Kriegsgefangenschaft in Frankreich an der Kanalküste wäre u. es ihm verhältnismässig gut ginge. Else u. Grete hatten sich in Kiel getroffen u. waren dann nach Stade gegangen u. schlugen sich dort recht u. schlecht durch, bis Else 1946 eine Stelle als Studienrätin in Hannover bekam u. zu Grete wieder ihre Freundin Frl. Bänfer mit Mutter hinkam. So waren wir mit allen Kindern in Verbindung, nur von Schwiegertochter Ruth u. ihren Jungens bekamen wir nur ganz vage Nachricht, daß sie in Lichtenau u. Umgebung gesehen worden sei.

Im Oktober 45, nachdem wir uns in Flötz etwas eingerichtet hatten, machte ich mich eines Tages auf den Weg nach Delitzsch u. Dresden. In Delitzsch wurde ich von dem Generaldirektor Aumüller als langjähriger Vermehrer von Zuckerrübensamen für die Delitzscher Rübensamenzucht recht freundlich aufgenommen, konnte auch noch einen Rest von etwa 500 M. für gelieferten Rübensamen u. einen Gutschein auf etwa 1 Ctr. Prämienzucker, ebenfalls für abgelieferten Rübensamen entgegen nehmen u. dann war die Hilfsbereitschaft des Herrn Aumüller so ziemlich erschöpft. Ein Versuch, durch seine Vermittlung eine Anstellung für mich in der Zuckerfabrik Delitzsch oder Gommern für die beginnende Campagne zu bekommen, war ergebnislos. Wer sollte auch einen 76 jährigen alten Mann in seinem Betrieb einstellen?! Nach Übernachtung in Delitzsch fuhr ich am nächsten Tage über Leipzig nach Dresden, um bei dem Rechtsanwalt Unger in Dresden Loschwitz, zu dem wir im Herbst 1944 3 Kisten mit Kleidern, Wäsche etc. vorsorgend hingeschickt hatten, nach diesen Sachen Nachforschungen anzustellen. Trotzdem Dresden grausam zerstört war, fand ich den Vorort Loschwitz u. das Haus des Herrn Unger ziemlich unbeschädigt vor. Auch unsere 3 Kisten, die in einem offenen Gartenhause unter altem Gerümpel verstaut waren, seien bisher noch unbeschädigt, wie mir Herr U. sagte, während sein Haus u. die Nachbarhäuser von den Russen ausgeplündert wären. Da die Bahnverbindung damals noch sehr schlecht u. die wenigen Züge, die verkehrten, furchtbar überfüllt waren, Herr Unger die Kisten an ihrem gegenwärtigen Standort auch am sichersten aufgehoben glaubte, so habe ich das Gartenhaus garnicht betreten, um die ringsum einquartierten Russen nicht aufmerksam zu machen u. fuhr also am nächsten Tage, ohne unsere Sachen, aber doch erfreut darüber, daß sie überhaupt noch da wären, wieder nach Hause. Ich kann es gleich vorwegnehmen. Wir haben sämtliche 3 Kisten ein Jahr später, also im Herbst 1946, vollkommen unbeschädigt bekommen, nachdem sie rund 2 Jahre in dem unverschlossenen Raum unter altem Gartengerümpel gestanden hatten. Welche Freude noch für meine Frau, als die, jetzt so besonders wertvollen Sachen wie Wäsche, Betten, Kleidungsstücke u. etwas Tafelsilber, ausgepackt wurden. Von meinen Kleidungsstücken nenne ich als besonders wertvoll: mein Bisampelz, mein Cutaway Anzug u. mein schwarzer Gehrock. Die Fahrten auf der Bahn waren direct fürchterlich. Fast immer so eng eingepfercht, daß man mitunter nicht die Hände hoch heben konnte u. die Strecke von Dresden nach Leipzig mußte ich auf dem Kohlentender, auf Steinkohlen hockend oder liegend, zurücklegen. Nichts genaues [sic!] für einen alten Mann. Aber ich kam gut nach Hause. Ernst löste dann den von Delitzsch erhaltenen Zuckergutschein gegen einen Lieferschein der Provi[n]zialverwaltung in Halle ein, u. nachdem wir den ersten Zucker wirklich in Händen hatten, besorgte ich auf einer zweiten Reise nach Delitzsch u. Halle auch für meinen Sohn Kurt u. Schwiegersohn Hans Penner, die ebenfalls für Delitzsch Rübensamen angebaut u. teilweise abgeliefert hatten, die Zuckerscheine. Diese zweite Reise, die eine Übernachtung in Halle erforderte, wäre bald so kritisch verlaufen wie mein vorhin geschildertes Abenteuer im Asyl in Berlin. Ich war in Halle in der Dunkelheit herumgelaufen u. fand, auch für Geld u. gute Worte, kein Nachtquartier. An der letzten Stelle, wo ich wieder abgewiesen wurde, sagte ich ganz verzweifelt zu dem Stubenmädel, das mich eben abgewiesen hatte: „Ich geh hier nicht mehr weg, u. wenn ich hier, auf der Treppe sitzend, die Nacht zubringen muß“. Da sagte das Mädel, warum gehen Sie denn nicht über die Straße zum evang. Hospiz, dort kommen Sie sicher noch unter. Und so war es auch. Ich kam in einem größeren Zimmer unter, das sogar geheizt war, bekam einen Strohsack u. eine Decke u. Abends u. morgens heißen Kaffee; da wohnte ich schon fast wie ein Herr in dem wenig besuchten Hospiz. Im Januar/Feb. 1946 war meine Frau auf Zureden der Kinder u. besonders Edith’s in das Krankenhaus nach Rosslau gegangen, da sie ihr Herzasthma doch wieder sehr peinigte u. kam Mitte Februar etwas erfrischt zurück. Im März zogen dann die drei Penners nach Alfeld a.d.Leine, wo sie den Rest ihres Treck’s gefunden hatten. Es kostete sie noch fast ein Jahr heftiger Kämpfe mit ihrem früheren Beamten Rexin u. ihren früheren Arbeiterfamilien, die sich die Pennerschen Sachen einschl. Pferde u. Wagen, so schön eingeteilt hatten, bevor Penners wieder einigermassen in den Besitz ihres Eigentums kamen. Erst Hans-Hermann, der im Feb. 47 aus amerik. Kriegsgefangenschaft heimkehrte u. von Lotte zur Hilfe gerufen wurde, konnte die Leutchen unter Drohung mit dem Staatsanwalt bewegen, wenigstens den größeren Teil des Raubes herauszugeben. Im Frühjahr 1946 hatte uns Herr Baumgarth etwa 250 qm. Gartenland, nahe dem Dorfe Flötz, zur Nutzung für den Sommer 1946 überlassen. Das war eine große Hilfe und wir konnten uns aus den Erträgen unsere Ernährung, dank Lena’s Kochkunst, allmählig etwas reichhaltiger gestalten wie bisher. Pellkartoffeln zum Mittag u. Abendbrot, teilweise auch noch recht heiß mit Salz zum Frühstück und zum Frühstück eine kleine Brotration, damit mußte Haus gehalten werden. Man glaubt garnicht, welche Unmassen Kartoffeln man verdrücken kann, wenn fast jedes Fett fehlt. Aber Kartoffeln haben wir wenigstens immer genügend gehabt u. in Mecklenburg u. Flötz auch immer gut schmeckende, was man hier in Leeste nicht sagen kann. Da unsere Hoffnung, bald in die Heimat zurückkehren zu können, immer wieder enttäuscht wurde, hatten wir auf vieles Bitten von Rode sen. 2 kümmerliche Ferkel bekommen, die wir uns im Lauf des Jahres 1946 auffüttern wollten, um auch mal wieder ein bischen Fett u. ein Stückchen Fleisch geniessen zu können. Und die Schweinchen gediehen wieder Erwarten gut. Mutter u. ich, wir hatten die Besorgung der Tiere (es waren auch noch Küken u. Kaninchen angeschafft worden) übernommen, wobei Mutter das klein schneiden u. kochen des Futters in einem Umfang zufiel, daß es selbst ihr manchmal zuviel wurde. Ernst hatte inzwischen den Landarbeiterdienst bei Rode aufgegeben u. sich im Vorsommer 1946 wieder um Beschäftigung in seinem akademischen Beruf bemüht. Allmählig kam er auch darin vorwärts, aber die Unmöglichkeit, in Halberstadt, wo seine Fa (Gemüse An u. Verkauf) ihren Sitz hatte, eine Wohnung zu bekommen, zwang ihn einstweilen, noch seinen Wohnort in Flötz beizubehalten. Im Sommer 1946 war dann auch Schwiegertochter Ruth aus Lichtenau bei ihrem Mann in Begleitung ihrer Söhne Ulrich u. Frank eingetroffen. Sie war 1945, von Polen u. Russen in Pommern vollkommen ausgeplündert, mit ihren Söhnen in die Heimat u. auf ihren Hof zurückgekehrt, hatte dort auch zuerst Unterkunft gefunden u. hoffte auch noch immer auf den Abzug der Polen. Aber das Gegenteil geschah. Sie mußte ihren Hof verlassen u. im Dorf Gr. Lichtenau in eine Saisonarbeiterwohnung ziehen. Dort hat sie den Winter 45/46 zugebracht u. mit Hilfe der Jungens sich mit ihrer Hände Arbeit ernährt. Ruth erzählte bei ihrem ersten Besuch in Flötz im Sommer 1946, daß sie nicht schlecht gelebt hätten u. daß sie auch Penners Neuteich, die auch dort geblieben waren, noch ab u. zu habe unterstützen können. Im Sommer ging dann Liesbeth aus Meinsdorf über die Zonengrenze nach Hannover zu ihrer Schwester Else, die dort eine Studienrätin Stelle bekommen hatte. Ihre Bemühungen, auch in Hannover angestellt zu werden, schlugen fehl, aber sie bekam die Stelle, hier in Leeste. Mutter u. ich fütterten also 1946 in Flötz unsere Haustiere u. ich besorgte außerdem den Garten, machte die notwendigen Zimmerarbeiten für die Unterkunft der Tiere u. zerkleinerte das, von den Kindern herangeschaffte Brennholz. Wir hatten also Beide nicht über Langeweile zu klagen. Auch war meine Frau in diesem, ihrem letzten Sommer, noch recht rege u. am 13. Feb. 1947 konnten wir noch, zusammen mit Ernstens Familie u. Hans-Hermann, der eben aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, Mutters 75. Geburtstag feiern. Sie war so freudig angeregt, daß sie Abends, als unsere Gäste uns verlassen hatten, sagte: „Das war ein schöner Geburtstag!“ Inzwischen hatten wir in der Neujahrszeit 46/47 unsere beiden Schweinchen geschlachtet u. unsere Lebenshaltung besserte sich. Peter hatte uns am 1. Sept. 46 verlassen u. war zu seinen Eltern nach Wannsee, Isoldestr. 8 gegangen, wohin Kurt u. Ruth ihren Wohnsitz verlegt hatten. Peter trat dort bei Siemens Berlin als Feinmechanikerlehrling ein. Wie ich schon vorher erwähnte, hatten wir aus unserm Gärtchen 46, auch 47 eine recht gute Ernte, wenn auf dem sehr leichten Boden auch nicht alles gedieh. Besonders gut waren in beiden Jahren die Tomaten u. Kürbisernte. Von Letzteren hatten nur 46 Langfinger 2 große Exemplare geklaut, aber sonst ist uns kaum etwas gestohlen worden. Der Winter 46/47 war sehr kalt u. da die Dachstube, in der Mutter u. ich schliefen, nicht heizbar war, so tauten dort wochenlang die nach Norden gelegenen Fenster nicht ab. Notwendig erwärmt wurde der Schlafraum, in dem neben uns auch noch Lena schlief, aus der daneben liegenden Wohnküche, die zwar auch keinen Ofen hatte, aber vom Herd aus erwärmt wurde. Das Feuer durfte natürlich nicht ausgehen. Und in dieser harten Winterzeit starb meine liebe Frau am 26.Feb. 1947. Sie war am Tage vorher recht munter gewesen u. erst gegen 11 Uhr zu Bett gegangen. Morgens gegen ½ 6 wachte Lena auf u. sah die Mutter auf der Kiste neben meinem Bett sitzen. Die Atemnot muß sie aus dem Bett getrieben haben, gesprochen hat sie nicht mehr. Lena weckte mich gegen 6 Uhr u. ich setzte mich neben meine Frau, um sie zu stützen, derweil Lena zur Schwiegertochter Christel auf dem Rode’schen Hof lief, damit dieselbe den Arzt oder die Krankenschwester aus Walternienburg hole, welche der Mutter schon einigemale mit einer Spritze geholfen hatte. Aber wie Lena von ihrem Gang zurückkam, verschied Mutter in meinen Armen ganz ohne Kampf. Die Krankenschwester war nicht mehr nötig. Am 3. März haben wir die liebe Verstorbene auf dem ev. Friedhof in Flötz zur letzten Ruhe bestattet. Der ev. Geistliche Pastor Schulze hat in der Kirche, wo Mutter aufgebahrt war, die Trauerrede gehalten. Der Todesfall wurde von mir auf dem Standesamt zu Walternienburg angemeldet. Bei der Trauerfeier fehlte von unsern Kindern nur unser ältester Sohn Kurt. Christel, die vor Kurzem aus Dänemark in die engl. Zone heimgekehrt war, konnte zu ihrem tiefen Schmerz die liebe Mutter nur noch im Sarge wiedersehen. Ein hübscher kleiner Marmorstein mit Inschrift u. eine Sandsteinumrandung schmücken u. kennzeichnen ihre Ruhestätte, die auch hoffentlich einmal die Meine wird. Der Begräbnistag war ein strahlend schöner Wintertag mit leichtem Frost, aber der ganze Februar u. fast der ganze Januar zeichneten sich durch häufige Schneestürme u. Kälte bis -20° aus. Dem harten Winter folgte ein heißer u. sehr trockener Sommer. Es war uns nicht gelungen, für die 2 um Neujahr geschlachteten Schweine wieder junge Schweine einzustellen. Es wäre auch bei dem trockenen Sommer kein Futter für sie zu erlangen gewesen. Die geringe Ernte wurde rigoros von den Russen eingetrieben u. da auch die Kartoffelernte schlecht war, u. keine Kartoffeln, wie bisher, von den Bauern abgegeben wurden, drohte uns zum erstenmal ernstlich der Hunger. Da blieb uns nichts anderes übrig, als mit den andern Notleidenden um die Wette Kartoffeln auf den abgeernteten Kartoffelfeldern zu stoppeln. Dabei halfen mir Lena u. Frl. Anneliese Ediger, unser früheres Liessauer Wirtschaftsfräulein, die Anfang Jan. 47 zu uns gekommen war, kräftig. Der Erfolg unserer Arbeit war ungewöhnlich gut u. wir hatten nach Beendigung der Kartoffelkratzerei mehr Kartoffeln, als wir uns sonst zum Winter eingekauft hatten. Und, trotzdem die Kartoffeln bei dem heißen Wetter oft welk in den Keller gebracht waren u. trotzdem doch viele Sorten von etwa 20 Kartoffelfeldern zusammengekommen waren, so hielten sich die Kartoffeln gut u. schmeckten auch gut. Im Herbst des Jahres 1947 hatte Ernst endlich eine passende Wohnung in Halberstadt bekommen u. zog mit seiner Familie u. Schwiegermutter dorthin u. so fing sich an, der Haushalt in Flötz aufzulösen. Im Lauf des Jahres 1947 war Hans Hermann, der nach seiner Rückkehr aus amerik. Gefangenschaft zunächst längere Zeit als Tiefbauarbeiter sein Brot verdient hatte, wieder in seinem Beruf als Steueranwalt tätig u. hatte auch die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft in Herford erhalten, aber noch nicht aufgenommen, wegen Mangel an Büroraum. Grete führte wieder mit Frl. Bänfer, die eine Studienrätinstelle in Stade erhalten hatte, gemeinsamen Haushalt. Liesbeth hatte sich in Leeste eingelebt u. war die Einzige in der engl. Zone, die mir u. Lena, wenn auch unter einigen Schwierigkeiten, eine Unterkunft bieten konnte. Christel wohnte in Alfeld u. ernährte sich bald als Krankenpflegerin in einem Seuchenlazarett, bald als Obstpflückerin oder Fabrikarbeiterin u.s.w. Zu einer Stellung als Studienrätin konnte sie immer noch nicht kommen. So ging der milde Winter 1947/48 vorüber u. im Februar trugen Lena u. ich uns auch ernstlich mit dem Gedanken, dem Wunsch meiner Kinder folgend, in die engl. Zone überzusiedeln. Am 5. März 48 haben wir noch im kleinsten Kreise meinen 79. Geburtstag gefeiert. Dann wurden alle Bauten im Schweine-Hühner u. Kaninchenstall abgebrochen u. das Holz zu Kisten verarbeitet u. Mitte März schickte uns Ernst aus Halberstadt einen L.K.W., der Lena, Frl. Anneliese Ediger u. deren Schwester mit unsern Sachen nach Halberstadt brachte. Ich selbst folgte einen Tag später mit der Bahn über Barby. So manchen Sonnenuntergang in dem heißen Sommer 47 hatte ich von dem hochgelegenen Friedhof in Flötz beobachtet u. dabei meine Gedanken in dankbarer Erinnerung zurückgehen lassen in die 54 Jahre unseres Ehestandes. Ein Plätzchen neben dem Grabe meiner Frau hat mir die Friedhofsverwaltung in Flötz entgegenkommender Weise reserviert. Werde ich es jemals beziehen können?! Oder werden die Grenzen ein unüberwindliches Hindernis sein? Zunächst habe ich mich dann etwa 2 Wochen bei Ernst u. Familie aufgehalten, bis sich Gelegenheit bieten würde, die Grenze heimlich zu überschreiten. Und eines Tages, Ende März war es dann soweit. Die Leitung der Fa., bei der Ernst arbeitete, hatte an der Grenze zu tun u. nahm mich u. Ernst mit. In einem Dorf vor der Grenze wurde das Auto zurückgelassen u. wir marschierten bei schönem Sonnenschein auf die Grenze los, einmal von einem deutschen Ostzonenpolizisten, wol mehr der Form halber, zurückgeschickt, aber nach kurzer Wartezeit wieder in Richtung auf die Grenze weiter marschierend u. kamen auch unbehelligt über die Grenze. Ernst brachte mich dann noch ein Stück auf den Weg zur nächsten Bahnstation auf der engl. Seite, übergab mir dann meinen recht schweren Rucksack u. ich zog allein weiter, um mich mit der Bahn über Kreiensen nach Alfeld zu Penners zu begeben. Bis Kreiensen ging die Bahnfahrt auch ganz gut, aber dort sollte ich umsteigen u. das war an dem Abend wegen Überfüllung des Zuges nicht möglich. Ich hatte also noch wieder einmal Gelegenheit, eine Asylnacht auf dem Bahnhof in Kreiensen zuzubringen. Die Warteräume waren so überfüllt, daß nur ein kleiner Teil der Reisenden auf einem Stuhl oder gar an einem Tisch sitzen konnte u. nachdem ich mein Abendbrot „aus der Tasche“ verzehrt hatte, zog ich mich auf meinen Rucksack zurück, dessen Umfang mir in diesem Fall gut zustatten kam. Da ich einen Platz bekommen hatte, welcher der Ausgangstür gegenüber lag, so strebten nicht allzu viel Menschen über meine Beine hinweg, dem Ausgang zu, auch war gute Beleuchtung u. so war es doch ein erhebliches Stück besser, als 1945 im Asyl in Berlin. Am frühen Morgen konnte ich dann in einem fast leeren Zug nach Alfeld fahren, der halbstündige Weg zu Penners Wohnung, zu der ich mich in der Morgenfrühe erst durchfragen musste, fiel mir mit dem schweren Rucksack nach der schlaflosen Nacht doch ziemlich schwer. In Alfeld wurde ich dann freudig begrüßt u. habe die Ostertage des Jahres 1948 dort bei schönem Wetter verlebt u. auch die nähere Umgebung ein bischen kennengelernt. Es sind die Harz-Vorberge, in die das nette u. vollkommen unzerstörte Städtchen eingeschachtelt liegt. Landschaftlich schön gelegen, ist aber auch der Boden sehr fruchtbar. Nach den Ostertagen, Anfangs April, setzte ich dann meine Reise nach Leeste über Öynhausen fort, wo ich noch etwa 1 Woche zu Gaste war bei Hans-Hermann’s. Am 8. oder 9. April brachte mich meine Schwiegertochter Christa dann bis Osnabrück. Ich war in den letzten Jahren in Flötz kaum aus dem Dorf herausgekommen u. des Reisens schon etwas entwöhnt; deswegen nahm ich die Begleitung Christas bis Osnabrück gerne an. Später bin ich wieder mehr u. selbständig auf Reisen gegangen. Vom Bahnhof Kirchweyhe marschierte ich dann mit meinem Rucksack los in Richtung Leeste. Auf halbem Wege kam mir schon Lena entgegen u. so zogen wir denn bei Abendsonnenschein in unser, eben fertig gewordenes, Zimmer bei Nordmann ein, das Liesbeth, die in demselben Hause wohnte, mit erheblichen Kosten u. unter mancherlei Schwierigkeiten für uns hergerichtet hatte. Damit war nun für mich das Wanderleben der letzten 4 Wochen abgeschlossen u. ich erhielt auch sofort die Einreisegenehmigung nach Leeste u. die notwendigen Lebensmittelkarten. Aber Lena wurde die Einreise in die engl. Zone nicht so leicht gemacht. Sie sollte eine Arbeitsstelle in der engl Zone nachweisen, bevor man ihr die Zuzugsgenehmigung erteilte. Da hat mein Neffe Reinhold Zitzlaff u. Frau Erika mit Rat u. Tat erheblich mitgeholfen. Ersterer war schon bald nach seiner Flucht aus der Heimat (Marienburg) in Syke Krs. Hoya, wozu auch Leeste gehörte, Leiter des Ernährungsamtes geworden. Da liessen sich die benötigten Lebensmittelkarten, auch für Lena, schon leichter beschaffen. Auch eine Arbeitsstelle für Lena bei einer alleinstehenden Frau mit großem Garten, hatte sich in Syke für Lena gefunden, was eigentlich nicht ganz in unserm Sinne war. Lena sollte uns dreien die Wirtschaft führen u. nicht bei Fremden arbeiten. Aber da half nun nichts dazu u. Lena übernahm die Hausgehilfinstelle bei Frau Prekel mit der Bedingung, daß sie von Freitag Mittag bis Montag Mittag die Wirtschaft in Leeste besorgen dürfe. Ein gutes hatte die Sache aber für Lena gehabt, sie war auf diese Weise in die Landeskrankenkasse gekommen, was sich für sie sehr bald segensreich auswirken sollte. Lena erkrankte nämlich Ende Juni an Magengeschwüren, mußte das St. Jürgenkrankenhaus in Bremen aufsuchen u. hat dort etwa 6 Wochen gelegen, was nun schon auf Kosten der Krankenkasse ging. Die Stelle in Syke hielt Lena auch nach ihrer Genesung bei u. bezog auch von dort ihre Lebensmittelkarten, aber die Arbeitsstelle war doch mehr eine Formsache u. zum Weihnachtsfest 1948 gab die Gemeinde Leeste endlich die Zuzugsgenehmigung u. die Lebensmittelkarten, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß wir nicht mit der Absicht umgingen, die Fürsorge der Gemeinde in Anspruch zu nehmen. Etwas schwieriger war es noch mit dem Arbeitsamt, das Lena durchaus eine neue Stelle verpassen wollte. Aber schließlich sahen die Damen auf dem Arbeitsamt, unter denen glücklicherweise eine Danzigerin war, ein, daß Lena genügend beschäftig wäre, wenn sie für uns drei den Haushalt u. die 2 Zimmer besorgte.

Als ich mich dann in Leeste ein bischen eingelebt hatte, führte ich meinen lange gehegten Plan aus, auch meine weiteren Verwandten in der engl. Zone zu besuchen, was mir von Flötz, der Grenzschwierigkeiten wegen, nicht möglich gewesen war. Und so habe ich in mehreren Reisen die Familie Dirksen in Brüttendorf b. Zeven, meine Tochter Grete mit Frau u. Frl. Bänfer in Stade, meine Nichte Annemarie Fieguth in Brake, deren Mann damals noch in russ. Kriegsgefangenschaft war, meine Nichte Irmgard Neugebauer geb. Wiebe u. ihre Familie in Varel, meine Nichte Käthe Fieguth in Hänigsen Krs. Burgdorf mit Familie u. meinen alten Freund Victor Wehle, ehemals Bankier in Neuteich, in Braunschweig besucht, bei welchem ich zu meiner freudigen Überraschung noch meinen alten Nachbarn Ernst Penner aus Liessau vorfand, mit dem ich dann noch einen Tag in Alfeld bei seinem Bruder u. meinem Schwiegersohn Hans Penner verlebte. Wir waren gegenseitig überrascht, wie gut wir doch die vergangenen 3 schweren Fluchtjahre überstanden hatten. Jetzt hatte ich meine anfängliche Scheu vor dem Reisen überwunden u. plätscherte wieder ganz munter in der Welt umher. Die Fahrten auf der Bahn machten sich schon ganz gut in der engl. Zone, wo, im Gegensatz zur russ. Zone, schon die Abteilfenster wieder aus Glas u. nicht aus Brettern bestanden u. die Züge oft u. pünktlich verkehrten. Die Fahrpreise waren nicht erhöht, aber die Verpflegung, auch bei Verwandten, zumeist recht knapp u. wo man den Gast, wie fast überall, mit besserer Bewirtung aufnahm, da ging das offensichtlich immer auf Kosten späterer oder früherer Einsparung von Lebensmitteln, was für den Gast doch mit einem gewissen Unbehagen verknüpft war. Aber die Bahnfahrten durch das Hannoversche Land machten mir nach so langem Leben in Einsamkeit u. bei dem schönen Frühlingswetter doch viel Freude. War auch gut, daß ich wenigstens diese paar Reisewochen ausgenutzt hatte, denn kurz nach Erledigung dieser Reisen kam die lange erwartete Währungsreform am 20. Juni 48 u. damit war ich plötzlich ein ganz armer Mann geworden. Von den festgesetzten 10 %, welches die Aufwertung unserer Guthaben sein sollten, wurden zunächst nur sehr zögernd 5% ausgezahlt. Die Preise für alle Lebensbedürfnisse blieben einstweilen aber dieselben u. für die Bahnfahrten auch, u. da hörte sich das Reisen von allein auf. Das heißt also, daß zwar alle Gehalt u. Lohnempfänger zunächst denselben Betrag in neuer Währung erhielten, den sie bisher in der alten, fast wertlosen Währung erhalten hatten. Zu diesen gehörten auch einige meiner Kinder, die mich unterstützten, aber diejenigen, welche selbst Unterstützung als Arbeitslose bezogen, konnten mit ihren Groschen schon schlecht auskommen und wer sich, wie ich, auf die paar Tausend gerettete Mark stützte, stand vor leerem Geldbeutel. Und trotzdem ging ich bald nach der Währungsreform noch einmal auf Reisen zu meinem jüngsten Sohn Hans-Hermann u. seiner Frau in Rehme b. Oeynhausen. Meine Töchter Liesbeth u. Lena in Leeste waren beide krank geworden. Lena mußte, wie ich schon vorhin erwähnte, Ende Juni auf 6 Wochen in das Krankenhaus nach Bremen u. Liesbeth mußte, ebenfalls krankheitshalber, ein Sanatorium im Harz aufsuchen. Da blieb denn nichts weiter übrig, als den alten Opa wieder auf die Bahn zu setzen u. nach Rehme zu befördern; die einzige Stelle, wo man ihn damals aufnehmen konnte. Und so habe ich denn 5 Wochen des Sommers 1948 in Rehme u. dann noch 1 Woche bei Lotte u. Hans Penner in Alfeld verlebt u. fleißig die Umgegend durchstreift, natürlich zu Fuß. Etwa am 8. August fanden wir drei uns dann wieder in Leeste zusammen. Mancherlei Gutes hatte die Währungsreform auch sofort getätigt. Sie hatte wenigsten die gehorteten Waren aus ihren Verstecken hervorgeholt. Aber der Hunger nach Ware jeder Art war so groß, daß die gehorteten Bestände doch nicht weit reichten u. eine weitere Erhöhung der Warenpreise zum großen Ärger aller „Besitzlosen“ erfolgte. Dem wurde auch von unsern Machthabern, den Besatzungsmächten, kein Halt geboten. Unser Wirtschaftsleiter Prof. Erhardt dekretierte „Freier Handel“ und die Preise würden sich durch Einfuhr u. erhöhte Production bald auspendeln. Und so geschah es auch. Aber es hat etwa 1 ½ Jahre gedauert, bis die Preise auf ein erschwingliches Maß zurückgingen. Dazu hatte die trotz aller Zerstörungen mächtig angestiegene eigene Production u. die sogenannte Marschall Plan Hilfe der Nordamerikaner, die nicht nur den Deutschen, sondern ganz Europa (ohne Rußland) zu gute kam, beigetragen. Der Winter 1948/49 war sehr milde. Das Weihnachtsfest hatten wir in Gesellschaft von Hans-Hermann u. Else ganz vergnügt verlebt u. am 5. März 1949, meinem 80. Geburtstag, sahen wir dann neben unseren Kindern, Else, Christel, Hans-Hermann, Lotte mit Hans u. Marlene, auch noch Familie Zitzlaff aus Syke u. Familie v. Camp, Landsleute aus dem benachbarten Brinkum u. unsere Schwiegertochter Ruth aus Berlin bei uns, so daß wir im ganzen 18 Personen waren, denen unser Hauswirt, Herr Nordmann, sein bestes Zimmer u. Frau Nordmann ihr Geschirr u. ihre persönliche Hilfe zur Verfügung gestellt hatten. Ich konnte, wie Mutter 2 Jahre zuvor, nach beendeter Feier aus dankbarem Herzen sagen: Das war ein schöner Geburtstag! Einige Flaschen Likör, von Zitzlaffs aus ihrer neuen Fabrik in Syke gestiftet, trugen erheblich zur guten Stimmung bei. Die andern Kinder u. viele liebe Freunde u. Verwandte hatten sich schriftlich gemeldet. Es war wenigstens ein schöner Abglanz des 5. März, zu dem an meinem 60ten, 70ten u. 75ten Geburtstag neben meinen Nachbarn manch lieber Freund in Liessau erschienen war. Das Jahr 1949 brachte der ganzen Landwirtschaft, nördlich des Main, eine ausgezeichnete Getreideernte u. eine ziemlich gute Hackfruchternte u. dem so klein gewordenen Westdeutschland brachte es eine eigene Regierung, aber keinen endgiltigen Friedensschluß. Die Währungsreform, die von den drei Besatzungsmächten Vereinigte Staaten, England u. Frankreich gegen den Willen der Russen durchgeführt war u. also in der russ. Zone nicht galt, hatte das, schon längere Zeit sehr gespannte Verhältnis von Ost u. West noch mehr verschärft. Zwar hatten die Russen, als sie sahen, daß ihnen ihre Proteste gegen die westdeutsche Währungsreform nichts halfen, schleunigst auch eine Währungsreform durchgeführt, so daß wir nun eine West D. Mark u. eine Ost D. Mark hatten, die nun in Wettbewerb miteinander traten, wobei sich bald ein Kurs von 6:1 zu Gunsten der W. D Mark herausbildete. Das veranlasste zunächst die Russen, den freien Zugang zur Ostzone, aber auch zu den 3 Westsectoren der Stadt Berlin zu sperren. Die Engländer u. Amerikaner waren nun gezwungen, ihre Sectoren Berlins durch Flugzeuge zu versorgen. Diese Versorgung beschränkte sich nicht nur auf die Zufuhr von Lebensmitteln für mehr als zwei Millionen Menschen, sondern auch auf die Zufuhr aller andern Artikel, die zur notwendigsten Aufrechterhaltung der Wirtschaft notwendig waren, wobei ich die Kohlen, die auch durch die Luft befördert wurden, als besondern Massenartikel nennen möchte. Die Russen sahen der Vereitelung ihres Planes, die Westsectoren durch Aushungern zur Übergabe zu zwingen, nicht tatenlos zu u. versuchten, den regelmässigen Verkehr der Lastflugzeuge durch allerlei Luftmanöver zu verhindern oder wenigstens zu gefährden. Aber in diesem Punkt liessen die Westmächte nicht mit sich spaßen u. erklärten jeden, durch russische Flugzeuge oder andere Manöver hervorgerufenen Unfall als Grund zum sofortigen Einschreiten mit Waffengewalt. Das half u. so haben die Westmächte, eigentlich wol nur England u. hauptsächlich Vereinigte Staaten u. Kanada, ungefähr 1 Jahr dieses grandiose Luftmanöver durchgeführt, bis die Russen einsahen, daß sie auf diesem Wege nicht zum Ziel kamen u. die Blokade Westberlins aufhoben. Aber daß in Westberlin Not herrschte u. furchtbare Arbeitslosigkeit, konnten die Westmächte doch nicht verhindern. Aber die Furcht vor den Russen u. ihren bolschewistischen Methoden hielt die Bevölkerung bei der Stange u. so kam Westberlin ohne größere Unruhen über das Blokadejahr hinweg. Aber Friede herrscht trotzdem nicht zwischen Ost u. West, u. jeder Gegensatz, besonders zwischen Russen u. Amerikanern, an irgendeiner Stelle des ganzen Erdballs, löst sofort Störungen des Verkehrs an der Zonengrenze aus. Und dann treibt der furchtbare Terror in der russischen Zone die Deutschen zu hunderttausenden in die Westzonen, u. zwar nicht nur Deutsche, sondern auch Russen, Polen, Tschechen, Bulgaren u. Ungarn, die mit dem Sowjetregime nicht einverstanden sind, flüchten nach Westdeutschland u. vermehren das Heer der Arbeitslosen. Dazu gehörte unter andern Verwandten u. Bekannten auch unser Sohn Ernst mit seiner Familie, die in der Osterzeit 1949 in dunkler Nacht u. bei strömendem Regen über die Grenze in die engl. Zone flüchteten. Da sie ihr Hab u. Gut, das sie sich mühsam in 4 Jahren angestrengter Arbeit in der Ostzone erworben, nicht zurücklassen wollten, so war Einvernehmen (Bestechung) mit den russischen u. ostdeutschen Grenzern notwendig, die brüderlich vereint die Flüchtlinge ausplünderten. Sie haben ihre Sachen auch allmählig alle herüber bekommen, nur an meinen Sachen, die Ernst auch in seine Obhut genommen hatte, fehlte noch allerlei. Für Ernst ging nun die Suche nach einer Existenz in der engl. oder amerik. Zone los. Aber er hatte verhältnismässig viel Glück u. nach 4wöchentlichem, anstrengendem u. kostspieligem Suchen bekam er eine Stelle als Wirtschaftsberater bei einem Beratungsring in Vechelde b. Braunschweig. u. auch Wohnung in der Zuckerfabrik Vechelde. Daß man seine Arbeit in diesem Beratungsring auch seitens der Regierung anerkennt, beweist seine Berufung als Kreisleiter für alle Beratungsringe im Kreise Braunschweig vom 1. Jan. 50 ab. Auch Christel bekam endlich am 1. Mai eine Stelle als Studienrätin an einer Privatschule in Warstade etwa 20 klm. nördlich von Stade a. d. Elbe. Es ist zwar keine vollbesoldete Stelle u. hat auch noch den Nachteil, daß sie in Biologie unterrichten muß, wofür sie keine akademische Vorbildung hat. Die Vorbereitungen für diese Stunden erschweren ihr natürlich das Leben in Warstade, wo ihr auch das nasse rauhe Klima nicht bekommt, aber sie hofft in nicht zu ferner Zeit auf eine günstigere Stelle.

Im Mai 1949 führte mich mein Weg nach Stade, wo ich der Einladung meiner ältesten Tochter zu einem Besuch bei ihr u. Frl. Bänfer in der Zeit der Baumblüte im nahe gelegenen „Alten Land“ […]. Das waren ein paar herrliche Fahrten mit Autobus, die wir durch das viele Kilometer lange blühende Obstbaugebiet machten, das sich, unmittelbar am Elbdeich gelegen, hinzieht. Nun war auch der Zugang zu diesem Obstparadies in der Obsterntezeit nicht mehr polizeilich bewacht, wie vor der Währungsreform. Am 9. Mai fuhr ich dann noch mit Grete zum 90ten Geburtstag meiner Cousine Helene Meckelburger geb. Wall nach Hanstedt Krs Harburg in der Lüneburger Heide, wo dieselbe bei ihrem ältesten Sohn Jacob Meckelburger lebt. Die alte Frau war noch verhältnismässig rüstig u. kann sogar noch ohne Brille lesen, aber sie kann fast nicht mehr hören u. das erschwert natürlich jede Unterhaltung. Das musste auch unser mennonit. Pastor Schowalter aus Hamburg erfahren, der zu dem seltenen Fest aus Hamburg herüber gekommen war u. der Familie Meckelburger das Abendmahl gab, an dem auch ich u. meine Tochter teilnahmen. Es war staunenswert, mit welchem Gleichmut die alte Jubilarin alle Ovationen, die von den verschiedensten Seiten dargebracht wurden u. bis auf eine kurze Mittagspause den ganzen Tag anhielten, ertrug. Ein Posaunenchor war noch für den Abend angesagt, den wir wegen Heimreise nicht mehr mit erlebten. Ich hoffe aber, daß die Jubilarin auch diese Ovation, dank ihrer Schwerhörigkeit, gut überstanden haben wird. Auch eine Reise nach Hamburg, hin mit Elbdampfer u. zurück mit der Bahn über Harburg, gehörte zu den Ausflügen, die mir Grete u. Frl. Bänfer boten; dazu ein gutes Mittagessen im Alsterpavillon mit Erinnerungen an das Jahr 1935, als ich mit meiner Frau in Hamburg zur landw. Ausstellung weilte. Ich bin dann auch noch einmal im Juli in Alfeld bei Penners gewesen u. konnte mich auf meiner ganzen Fahrt über Hannover nach Alfeld an den guten Feldern erfreuen u. die auf der Strecke Hannover Alfeld mit ihren großen Rüben u. Weizenfeldern sehr heimatliches Gepräge bekamen. Da hat sich das Auge wieder einmal satt getrunken an dem Anblick, der mir auch in der Heimat so wohl tat. Die Heimreise über Hameln u. Bünde gab mir noch Gelegenheit, der Familie Ernst Meyer in Hameln u. Dr. Doebel in Bünde je einen kurzen Besuch abzustatten u. auch bei meinen Kindern Hans-Hermann u. Christa ein paar Tage zu verweilen. Den beiden Freunden Meyer u. Dr. Doebel hat das Flüchtlingsleben auch erheblich mitgespielt. Ersterer, der viele Jahre Prokurist in der Landwirtschaftsbank Neuteich war u. im Jahre 1935 bei der Aufrüstung wieder activ in einem Infanterie Regiment geworden u. bei dem Zusammenbruch Oberstleutnant war, hatte zunächst nach Kriegsende eine gute Stelle als Verwaltungsbeamter in Mecklenburg. Bei der Einstellung der Russen gegen Offiziere höheren Ranges fühlte er sich aber doch zu sehr bedroht u. flüchtete in die engl. Zone, wo er Jahre lang ein Hungerleben geführt hat, bis er in Hameln im Büro eines Altwarenhändlers eine leidliche Existenz fand. Dr. Doebel aus Liessau war lange Zeit in Dänemark Lagerarzt gewesen u. erst 1948 herausgekommen, als die Lager in Dänemark aufgelöst wurden. Diese verspätete Heimkehr hatte für Dr. D. sehr üble Folgen. Die, bis kurz vor seiner Rückkehr übliche Bestimmung, daß früher im Osten beamtet gewesene Ärzte (Doebel war in Dirschau Kreisarzt gewesen) ohne weiteres hier eingestellt oder pensioniert würden, war kurz vor seiner Rückkehr aufgehoben worden. Eine Kassenarztstelle gab man ihm auch nicht u. so lebte der arme Kerl mit seiner Familie in denkbar elenden Verhältnissen u. in einer ebenso elenden Wohnung. Zum Weihnachtsfest 1949 waren dann wieder Hans Herm. mit seiner Frau u. Else unsere lieben Gäste. Die Verpflegung ist nun wieder ziemlich friedensmässig geworden u. als vor etwa 3 Wochen die Eierpreise von 45 Pf auf 16 Pf pro Stück zurückgegangen waren, giebt es auch für uns ein paarmal in der Woche ein weich gekochtes Ei zum Abendbrot oder ein Setzei und am Sonntag 5 Brötchen mit Butter u. Käse oder Wurst zum Frühstück. Der Kartoffelverzehr hat sehr nachgelassen u. wir überlegen schon sehr, ob wir uns für das kommende Frühjahr noch wieder um Kartoffelland für 1950 bemühen sollen. Wenn wir noch wieder Kartoffelland pachten sollten, so nur, um Kartoffeln für eine Hühnerhaltung zu haben, die wir uns doch, trotz der zurückgegangenen Preise, einrichten möchten, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Seit 1. Oktober 1949 spüre ich auch etwas von dem Lastenausgleich zwischen Ostflüchtlingen u. Einheimischen, der sich für die alten über 65 Jahre alten Flüchtlinge in der sogenannten Soforthilfe von 70 M. pr. Monat, rückwirkend vom 1.4.49, auswirkt. Heute am 13. Feb. ist Mutters Geburtstag, den sie vor 3 Jahren zum letztenmal in Flötz feiern konnte. So hart der Winter damals vor 3 Jahren war, so milde sind 3 folgende Winter gewesen, denn auch von diesem Winter 1949/50 ist jetzt kaum noch viel Frost u. Schnee zu erwarten. Bisher sind nur 8-10 Tage, Ende Januar, Frosttage u. 1 Tag Schneetreiben gewesen, was jetzt aber schon fast vergessen ist. Im Sommer 1949 ist dann noch in Marienburg b. Leutersdorf Kr. Neuwied a. Rhein ein mennonit. Altersheim gegründet, das neben manchem alten Freund u. Bekannten auch meinen Schwager Heinrich Penner (früher Neuteich) u. seine Frau Elise geb. Töws aufgenommen hat. Penners scheinen sich dort sehr wohl zu fühlen, was ihnen nach den schweren Jahren, die sie 1945 u. 1946 in Neuteich verlebt haben, von Herzen zu gönnen ist. Ein kleiner Trupp, nach Dänemark versprengter Mennoniten, ist 1948 mit Hilfe des Mennonit. Central Comitee, genannt M.C.C., nach Uruguay in Südamerika ausgewandert, wozu unter andern Bekannten auch mein Neffe Gustav Penner aus Neufahrwasser mit seiner Frau Hertha geb. Andres u. 4 Söhnen gehört. Ich habe aber bisher noch nicht gehört, daß sie dort nun auch Land bekommen haben. Die Ansiedlung hat sich dort wol um das mehrfache verteuert, weil die Landpreise rasend in die Höhe gegangen sind u. die finanziellen Kräfte des M.C.C. mit Sitz in U.S.A. übersteigen. Einige unserer Glaubensgenossen sind auch von Dänemark aus zu Verwandten nach Canada gegangen, darunter auch ein alter Freund u. Altersgenosse Gerhard Driedger aus Tiege im Gr. Werder, der mit Tochter u. Schwiegersohn zu seinem, schon seit 1904 in Canada wohnenden Bruder gezogen ist. Er schrieb mir auf meine diesbezügl. Bitte über Schilderung der dortigen Verhältnisse, daß der Sommer doch sehr kurz in Canada wäre u. sie erst Ende Mai mit der Frühjahrsaussaat beginnen könnten; im August wären ihnen dort schon Tomaten u. Gurken abgefroren u. mitte Oktober beginne wieder der sehr harte Winter. Das wäre dort also nichts für mich, der ich mit meinen 81 Jahren natürlich schon sehr wärmebedürftig bin. Andere Auswanderungspläne werden hie u. da erörtert, aber einstweilen giebt das Restdeutschland resp. seine Machthaber in England, Frankreich u. Vereinigte Staaten nur ausnahmsweise für Einzelne Auswanderungsgenehmigung. Das soll alles dem Friedensschluß vorbehalten werden; eigentlich dem Friedensschluß zwischen Russland u. seinen ehemaligen Verbündeten, denn die Weltlage hat sich doch gewaltig geändert seit 1945. Von den bisherigen Ruhestöhrern, den Deutschen, wird kaum noch gesprochen. Heute geht es Kommunismus gegen Demokratie, wobei die Russen die von ihnen eroberten u. besetzten Gebiete, wie Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien u. letztenendes auch den von ihnen besetzten Teil Deutschlands u. Österreichs mit dem Namen Volksdemokratie tarnen, in denen sie sich aufs äußerste bemühen, den Kommunismus in Reinkultur einzuführen: Und gewaltige Erfolge sind dem Kommunismus im Jahre 1949 beschieden gewesen. Die oben genannten Länder wehren sich zwar noch verzweifelt gegen das Moskowiter Joch, aber das ganze große China mit etwa 400 Mill. Einwohnern ist in einem Jahr vom Kommunismus erobert worden u. die andern Teile Süd Ost-Asiens werden sich wohl kaum noch lange dagegen wehren können u. auch wol nicht wollen. Da sieht sich nun das ganze Christentum auf der Erde in großer Gefahr u. was die Religionskriege im 16 u. 17 Jahrhundert nicht zuwege brachten, einen Zusammenschluß der verschiedenen Konfessionen, das scheint die drohende Gefahr bewirken zu wollen. Es werden ernstliche Anstrengungen vom Katholizismus u. wol auch vom Protestantismus u. sogar vom Islam gemacht, alles trennende beiseitezuschieben u. eine Einheitsfront gegen den Kommunismus zu bilden. Ich bin ja gespannt, was man dabei erreichen wird.

In unserm armen Vaterlande hat sich die Entwickelung etwa folgendermassen abgespielt:

Nach dem entgiltigen Waffenstillstand u. der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sagte man uns Flüchtlingen aus dem Osten: „Geht nach Hause u. wieder an eure Arbeit, euch tut Niemand etwas.“ Aber wir wurden bald durch die Ausplünderungen der Russen u. jenseits der Oder, auch der Polen, eines andern belehrt. Es sickerte nur sehr allmählig bis zu uns nach Mecklenburg durch u. wurde von Engländern u. Amerikanern bestritten, daß den Russen u. Polen das Gebiet östlich der Oder u. Neiße zugesprochen u. die deutsche Bevölkerung aus diesem Gebiet nach Westdeutschland evakuiert werden sollte. Etwa 10 Mill. Menschen verloren dadurch ihre Heimat u. wurden zu Bettlern. Darüber hinaus wurde das Deutschland, westlich der Oder, in 4 Zonen eingeteilt, die von Rußland, Frankreich, England u. Vereinigte Staaten von Nordamerika besetzt u. verwaltet wurden. Die Russen bekamen die Provinzen Mecklenburg mit Vorpommern, Brandenburg, Land Sachsen (das frühere Königreich), Sachsen Anhalt u. Thüringen u. richteten sich dort sehr bald im kommunistischen Sinne ein. Daß sie dieses Land noch einmal verlassen u. einer bürgerlich demokratischen Regierung ohne Kampf zurückgeben werden, glaubt von den Deutschen wol kein Mensch mehr u. die westl. Mächte wol auch nicht. Jedenfalls ist das, vor 5 Jahren so freundschaftliche Verhältnis der Siegermächte untereinander, schon lange in das Gegenteil umgeschlagen u. gegenwärtig rüstet namentlich Rußland u. Nordamerika, so gut sie können, um sich nicht überflügeln zu lassen. Atombomben besitzen ja nun beide Teile u. nun werden von Nordamerika auch noch Wasserstoffatombomben geplant, wovon eine genügen soll, um eine Stadt wie New York vom Erdboden zu vertilgen. Wenn diese netten Einrichtungen einmal in Funktion treten sollten, dann Gnade Gott den armen Menschen!

In Westdeutschland haben wir ja nun, auch ohne Friedensschluß, seit dem Sommer 1949 eine eigene Regierung, die aber in vielen Angelegenheiten der Zustimmung der Besatzungsmächte bedarf u. oft auch der Hilfe durch dieselben. An Hilfeleistungen hat besonders U.S.A. Großartiges geleistet, durch seinen Marschall Plan, nach welchem nicht nur nach Deutschland, sondern nach fast ganz Europa u. auch nach Japan u. andern asiatischen Ländern Milliarden über Milliarden Doll. 4-5 Jahre lang in die Wirtschaft hineingepumpt wird. Die Vereinigte Staaten, durch den Krieg in ihrer Wirtschaft u. ihrem Besitz vollkommen unbeschädigt, haben derartige Riesengewinne erzielt, die nach Anlage drängen. Außerdem hofft U.S.A. fraglos, mit dieser wirtschaftlichen Stärkung der noch nicht kommunistischen Staaten, dem Kommunismus das Wasser abzugraben. Gebe Gott, daß dieses gelingt.

Daß dieser Marschall Plan nicht ganz uneigennützig von U.S.A. ausgeführt wird, bezweifelt wol Niemand, aber daß er ungeheuer viel Gutes für alle durch den Krieg schwer beschädigte Staaten, sowohl Sieger als Besiegte, erzeugt hat, ist wol auch Jedermann klar. Wir Deutsche wenigstens, die wir schon durch den Krieg u. die Vertreibung aus dem Osten viele Millionen Menschenleben verloren haben, hätten weitere Millionen durch Hunger verloren, wenn die Nordamerikaner nicht geholfen hätten. Heute ist es ja nun auch kein Geheimnis mehr, daß die Westmächte den Russen all diese Gebiete zugesichert haben, die sie u. die Polen in ihrem Gefolge besetzt haben u. woraus die Deutschen vertrieben wurden. Es ist eine gewisse Widergutmachung, wenn U.S.A. dem, durch die Vertriebenen total übervölkerten Westdeutschland, bei der Ernährung u. voraussichtlich auch bei der weiteren Unterbringung der Vertriebenen hilft. In 4 Jahren bis Ende 1952 soll Deutschland durch seine Exporte im Stande sein, seine Bevölkerung allein zu ernähren. Daran wäre wol auch kaum zu zweifeln, wenn nicht immer noch Demontagen vieler Fabriken von uns verlangt würden, die einmal im Kriege Rüstungsmaterial hergestellt haben, aber leicht auf Produktion von Friedensmaterial umgestellt werden können. Die U.S.A. steht in vielen solchen Demontagefällen auf unserer Seite, hat dabei aber gegen die Furcht der Franzosen vor einer militärischen Erstarkung Deutschlands u. der Engländer wegen einer wirtschaftlichen Erstarkung (also Handelsneid) anzukämpfen. Und dieser Handelsneid ist wol auch nicht ganz unbegründet, wenn man sieht, mit welchem Eifer u. welcher Arbeitslust die Deutschen darangehen, die Positionen zurückzuerobern, die ihnen im Kriege verlorengegangen waren. Der engl. Handelsneid gegen das aufstrebende Deutschland ist nach meiner unmaßgeblichen Meinung überhaupt der Hauptgrund für den ersten, auch zweiten Weltkrieg gewesen. Sie haben Deutschland, aber auch England furchtbar mitgenommen u. dem Kommunismus riesige Vorteile gebracht.

Und nun möchte ich noch etwas aus meiner engeren u. weiteren Familie bringen. Zunächst möchte ich der Toten gedenken, die durch Kriegshandlungen gestorben sind. 1. Meine Schwägerin Frau Marie Wiebe aus Marienwerder, im Feb. 1945 in Pommern gestorben, von den Russen gehetzt 2. meine Schwester Agathe u. ihr Ehemann Johannes Fieguth aus Berlin-Gr. Lichterfelde, seit 23. Jan. 1845 vermißt auf der Eisenbahnfahrt Dirschau-Berlin 3. mein Enkel Horst Penner aus Trampenau, vermißt seit März 1945 (war zuletzt auf der Westerplatte bei Danzig) 4. aus der Familie Tgahrt mein ältester Neffe Hermann Tgahrt u. seine Frau aus Stärkenau Krs. Rosenberg W.Pr. 5. aus der Familie meines Bruders Peter Wiebe Grünblum, dessen Schwiegersohn Kurt Prellwitz u. sein ältester Enkel Robert Esau aus Adl[ig] Pillkal[l]en Krs. Darkehmen u. dessen Ehefrau Marie geb. Dyck, in Ostpr. auf der Flucht gestorben 6. aus der Familie meines Bruders Joh. Wiebe Marienburg, dessen beide Söhne Hans u. Reinhard 7. aus der Familie meines Bruders Otto Wiebe dessen jüngster Sohn Peter aus Altmünsterberg (vermißt bei Stalingrad) 8. aus der Familie meiner Schwester Helene Fieguth der Sohn Werner Fieguth u. Schwiegersohn Eberhard Viglahn 9. aus der Familie meiner jüngsten Schwester Käthe Penner deren ältester Sohn Georg, vermißt bei Stalingrad 10. aus der Familie meiner Neffen Herm. Fieguth Patschkau, dessen 2. Sohn Walter Fieguth – vermißt? Auch sonst fehlt manch lieber Freund u. entfernter Verwandter. Eine große Zahl ist in der Heimat verhungert, auf der Flucht umgekommen oder freiwillig aus dem Leben geschieden. Aus meiner engeren Familie, die mit Ausnahme meines Enkels Horst Penner keine Menschenverluste zu beklagen hat, kann ich berichten, daß sie nun alle in der engl. Zone wohnen, bis auf Tochter Edith, die als Krankenschwester in Dessau wohnt u. mein ältester Sohn Kurt, lebt mit seiner Familie im amerik. Sector Berlins. Ich selbst werde von meinen Kindern unterhalten u. bekomme seit 1.4.49 auch eine monatliche Soforthilfe vom Staat in Höhe von 70 M. (gewissermassen Vorschuß auf Lastenausgleich).

Ich bin in den 5 Fluchtjahren kaum bettlägerig krank gewesen, habe in den ersten Fluchtjahren bei Pellkartoffeln u. Salz natürlich abgenommen, aber inzwischen das verlorengegangene Gewicht bei der jetzt wieder fast friedensmäßigen Ernährung wieder aufgeholt. Sehnsüchtig warte ich, trotz meiner 81 Jahre, noch immer auf den versprochenen Lastenausgleich, der mich u. viele Andere in den Stand setzen soll, auf die Beihilfen der Kinder zu verzichten, die doch auch alle Flüchtlinge u. dementsprechend ihres Eigentums verlustig gegangen sind.

– Wie ich schon vorhin sagte, haben wir seit Sommer 49 eine eigene deutsche Regierung mit dem vorläufigen Sitz in Bonn u. dem Prof. Heus[s] als Bundespräsident an der Spitze. Berlin soll wieder Bundeshauptstadt werden, wenn der endgiltige Friede geschlossen u. Deutschland von den Besatzungsmächten verlassen sein wird. Zunächst untersteht dieser neuen Regierung nur Westdeutschland, also das Gebiet, welches Engländer, Franzosen u. Amerikaner besetzt halten. Aber um die Einigkeit in diesem, an sich kleinem Gebiet, nicht zu groß werden zu lassen, hat man die konföderierte Staatsform für Deutschland gewählt, wo denn nun ungefähr jede bisherige Provinz ein, vielfach, selbständiger Staat geworden ist, mit je einem Kabinett, einem Ministerpräsidenten u. einem Haufen Minister. Also Minister zum Schweinemästen u. werden doch wol auch alle richtige Ministergehälter beziehen. Es bestehen also in Westdeutschland z. Z. 11 Kabinette u. Westberlin, das ja wol einstweilen noch ein Zankapfel für Russen, Franzosen, Engländer u. Amerikaner bleiben wird, aber auch seine Minister hat. Wenn die russ. Zone zu Deutschland kommen sollte, kämen noch 5-6 Kabinette mit der benötigten Zahl von Ministerien hinzu.

In Bremen hat sich, wie in vielen andern Städten Westdeutschlands, eine kleine Mennonitengemeinde gebildet , die sich der, in Bremen u. Umgegend, untergekommenen Glaubensgenossen annimmt, etwa 4 wöchentlich Andacht, bald hier, bald dort, abhält u. auch für Taufe der Jugend u. Feier des heiligen Abendmahls sorgt. Dieserhalb, auch geschäftlich, komme ich, u. besonders meine Töchter, oft nach Bremen u. kann mir ein Bild vom Wiederaufbau Bremens machen. Es wird ja fleißig gebaut, wenn man die Bautätigkeit vor dem Kriege zum Vergleich heranzieht. Aber Bremen ist zu mehr als 60% zerstört u. da macht die wirklich rege Bautätigkeit noch immer einen sehr bescheidenen Eindruck. Das Gefühl: „In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen“ [aus Schillers „Das Lied von der Glocke“], wird man noch einstweilen nicht los werden, wenn man durch die Stadt fährt oder geht. Und wenn man in andere Städte kommt, dasselbe Bild. Ich habe nur Berlin, Dresden, Dessau, Hamburg u. Halberstadt gesehen, überall das gleiche Bild u. unser altes schönes Danzig soll noch radikaler zerstört sein. Da ist es dann ein reines Labsal, wenn man in kleinere Städte kommt, wie Alfeld u. Hameln, die vom Kriege kaum berührt sind. Was Handel, Industrie u. Gewerbe schon wieder leisten, wird ja oft statistisch erfaßt u. veröffentlicht u. kommt wol so ziemlich an die Friedensleistungen heran. Was ich aber besser begutachten kann, das ist die Leistung der Landwirtschaft u. die hatte 1949 auf den Feldern Mittel u. Norddeutschlands mehr als 100% der durchschnittlichen Friedensernten erreicht. Süd u. Südwestdeutschland haben teilweise unter Dürre gelitten. Es war eine Freude für mich, im Sommer 1949 durch die überall guten Felder Hannovers u. Westfalens zu fahren u. mich mit Wehmut der Zeiten zu erinnern, als ich selbst solche schönen Felder meinen Gästen vorzeigen konnte.