Treffen mit Nachkommen von Mennoniten aus dem Werder und der Weichselniederung – Besuch der Familie Wiebe in Stogi/Heubuden[1]
[1] Deutsch von Rolf Fieguth 2025
Aleksandra Paprot
Treffen mit Nachkommen von Mennoniten aus dem Werder und der Weichselniederung – Besuch der Familie Wiebe in Stogi/Heubuden[1]
Stogi/Heubuden ist ein Ort in der Nähe von Malbork/Marienburg. Unter Touristen ist er vor allem wegen seines Mennonitenfriedhofs bekannt. Diese Nekropole ist nicht nur die größte im Werder, sondern auch in ganz Polen. Jedes Jahr besuchen viele Menschen aus dem In- und Ausland diesen Ort.
Das Dorf Heubuden wurde 1562 gegründet und bereits 1565 an Siedler aus den Niederlanden verpachtet[1]. Damit begann ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Ortes. Die Mennoniten, die sich in Heubuden niederließen, betrieben Ackerbau und Milchviehhaltung. Bald wurde Heubuden Sitz der flämischen Mennonitengemeinde Heubuden-Marienburg. Der Friedhof entstand wahrscheinlich Mitte des 18. Jahrhunderts, 1768 wurde ein Gebetshaus errichtet. Ende des 19. Jahrhunderts gab es im Dorf 45 Häuser und 154 katholische und evangelische Einwohner, sowie 176 Mennoniten[2].
1945 wurden die Mennoniten aus Heubuden und Umgebung jedoch gezwungen, ihre Häuser für immer zu verlassen. An ihre Vorfahren erinnert die Landschaft der Polder mit ihren Häusern und mit dem Heubudener Mennonitenfriedhof, wo bis heute etwa 260 Grabumrandungen aus Kunststein, Sockel für Kreuze und Grabsteine, Cippus sowie einige Grabsteine aus Granit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten sind. Darunter befindet sich ein ungewöhnlicher Grabstein, der nicht zum monumentalen Stil der Stelen passt, mit denen man vor allem mennonitische Friedhöfe assoziiert. Es ist das Grab von Fritz Wiebe, einem Bankangestellten, geboren am 11. April 1901 in Groß Bandtken (heute Bądki bei Kwidzyn), der am 18. März 1934 im Alter von 26 Jahren in Gnojau (heute Gnojewo)[3] starb. Er war der Sohn von Otto Wiebe und Irmgard Behrens. Der Grabstein von Fritz hat die Form eines unregelmäßigen dreieckigen Steins, in den sein Vor- und Nachname sowie sein Geburts- und Sterbedatum eingraviert sind. Was mich immer gewundert hat, war die Inschrift unterhalb der Grabinschrift, die „Sturmführer” lautete. Bis zum 15.10.1934 entsprach dies dem Rang eines Leutnants in den Sturmtruppen der NSDAP[4]. Das war alles, was ich bis zum 27. August 2016 wusste…
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Es war ein sonniger und heißer Samstag, als ich mit meiner Familie zur Taufe des kleinen Tymek fuhr, dem Sohn meiner Cousine aus Stogi/Heubuden. Als wir mit dem Auto auf den Parkplatz vor der St.-Vinzenz-Kirche fuhren, fiel mir sofort ein schwarzer Kleinbus auf. Zuerst dachte ich, dass vielleicht eine Familie aus Warschau beschlossen hatte, gemeinsam anzureisen. Als ich das Auto geparkt hatte, bemerkte ich, dass der Bus jedoch ein ausländisches Kennzeichen hatte und darüber hinaus mit Aufklebern mit einem Familienwappen versehen war. Ich traute meinen Augen nicht, aber ja… Auf dem Bus stand „Back to The Roots Tour. Poland 2016. www.WiebeWorldWide.net” (Zurück zu den Wurzeln. Polen 2016. Wiebe). Ist das die Familie Wiebe? Unmöglich… dachte ich. Mein Herz begann schneller zu schlagen, und die Entscheidung, ob ich zur Messe in die Kirche gehen oder nach den ausländischen Nachkommen der Familie Wiebe suchen sollte, war für mich klar. Paweł rannte voraus, und ich etwas hinter ihm, weil ich ein Kleid und High Heels trug. Ich hielt Ausschau nach den Grabsteinen, die die Mitglieder der Familie Wiebe interessierten.
Heute denke ich, dass sie etwas überrascht gewesen sein müssen, als wir so plötzlich und aus heiterem Himmel in voller Gala auf dem mennonitischen Friedhof inmitten der Felder auftauchten. Wer könnte schon hierherkommen und so verzweifelt versuchen, mit ihnen in Kontakt zu treten?
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Ich erinnere mich, dass mich die Geschichte des Friedhofs in Stogi /Heubuden schon immer fasziniert hat. Ich bin in einem Nachbardorf aufgewachsen – in Stara Kościelnica /Altmünsterberg. Von dort aus fuhr ich gerne zu meinen Verwandten nach Stogi, vor allem mit dem Fahrrad. Unterwegs konnte ich den mennonitischen Friedhof besuchen, der mich faszinierte. Er war geheimnisvoll. Anfangs war mir nicht klar, warum er mich so interessierte und wer dort begraben war. Später wurde dieser Friedhof zum Thema meiner ersten Reportage, die ich im Rahmen des Polnischunterrichts in der Oberschule schrieb. Sie wurde dann 2004 in der „Gazeta Malborska” veröffentlicht[5]. Dann kam die Zeit für mein Kulturwissenschaftsstudium und meine ersten wissenschaftlichen Texte. Das Thema des Friedhofs in Stogi begleitete mich weiterhin und wurde zum Gegenstand meiner Bachelorarbeit „Die mennonitische Nekropole in Stogi Malborskie als Quelle für Traditionen und Informationen über die ehemaligen Bewohner des Werder”. Nach Abschluss des ersten Studienabschnitts nahm ich 2010 am VI. Internationalen Mennonitentreffen teil. Damals lernte ich zum ersten Mal Mennoniten aus Deutschland und den Niederlanden persönlich kennen. Das war schon damals ein großes Erlebnis für mich, denn endlich traf ich Menschen, über deren Vorfahren ich bisher nur in Büchern gelesen hatte, oder deren Schicksal ich anhand symbolträchtiger Grabsteine zu entschlüsseln versucht hatte.
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Ich erinnere mich, dass ein erster solcher Mensch, mit dem Pawel und ich in Stogi im Sommer dieses Jahres ins Gespräch kamen, Henry war – ein lächelnder und energiegeladener älterer Herr. Wie sich herausstellte, lebt er derzeit in Vancouver in Kanada. Ich dachte, dass es sich wahrscheinlich um Nachkommen der Mennoniten handelt, die nach Kanada ausgewandert sind. Weit gefehlt, die nächsten Mitglieder der Reisegruppe: Ellen, Jean-Pierre und Jérôme kamen aus Frankreich, Kristen und Larry aus den Vereinigten Staaten, Andere aus Deutschland und Rolf aus der Schweiz. Es ist unglaublich, wie Menschen aus so unterschiedlichen Teilen der Welt gemeinsam eine Reise in ein kleines Dorf in der Werder-Region unternehmen konnten. Die Logistik und Koordination der Reise haben mich sehr beeindruckt. Acht Mitglieder der Familie Wiebe, die von Agathe Wiebe (1840-1925) aus Pielica/Herrenhagen bei Lasowice Wielkie /Groß Lesewitz und Peter Wiebe (1825-1899) aus Lubieszewo/Ladekopp reisten vom 25. August bis zum 7. September durch Polen, um unter anderem ihre Wurzeln in der Werder-Region und in der Weichselniederung zu suchen. Auf ihrer Route lagen Nowy Staw/Neuteich, Lubieszewo/Ladekopp, Stara Kościelnica/Altmünsterberg, Stogi/Heubuden, Orłowo/Orloff, Nowy Dwór Gdański/Tiegenhof, Cyganek-Żelichowo/Ziegenhagen-Petershagen und Malbork/Marienburg. Außerdem besuchten sie Danzig, Łódź, Breslau, Auschwitz und Krakau.
Nach einem Gespräch auf dem Friedhof gingen wir zu dem Bus, mit dem die Familie Wiebe gereist war. Dort ruhte sich ein Teil der Reiseteilnehmer aus, mit denen ich ein Gespräch über die Grabsteine auf dem Friedhof begann. Dann fragte ich, ob dieser umstrittene Fritz Wiebe ihr Verwandter sei. Von Ellen und Henrry erfuhr ich, dass es sich um ihren Onkel mütterlicherseits handelte – den Sohn ihrer Großmutter Irmgard Wiebe, geborener Behrens, geboren 1886 in Malbork/Marienburg. Interessanterweise tauchte dabei ein Hinweis auf das vor dem Krieg existierende Altmünsterberg auf, also meine Heimat Stara Kościelnica. Es stellte sich heraus, dass Irmgard in meinem Heimatort gelebt hatte, nach ihrer Heirat auszog, aber 1932 mit ihren Söhnen Peter und Fritz auf einen großen Bauernhof in Altmünsterberg zurückkehrte. Peter übernahm später die Leitung des Hofes. Fritz kam 1934 bei einem Lkw-Unfall ums Leben. Er hatte einen Sohn, der ebenfalls 1934 starb. Irmgard starb 1941 in Stara Kościelnica/Altmünsterberg und wurde höchstwahrscheinlich auf dem Friedhof in Stogi beigesetzt. Peter wiederum kam 1942 bei Stalingrad ums Leben (er hatte einen Sohn). Ellen und Henry sind die Kinder von Irmgards Tochter, die nach ihrer Mutter benannt wurde. Sie verließ jedoch um 1935 Werder und Weichselniederung und zog nach Berlin, wo sie heiratete.
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Als wir uns gerade verabschieden wollten, tauchte unerwartet ein älterer Herr mit grauer Mütze und Brille auf. Er war zuvor nicht in der Gruppe gewesen. Außerdem begrüßte er uns in schönem Polnisch. Ich hielt ihn daher zunächst für den polnischen Reiseleiter der Gruppe. Weit gefehlt, es stellte sich heraus, dass es sich um Rolf Fieguth handelte, ebenfalls ein Urenkel von Agathe und Peter Wiebe. Sein Vater Hans-Otto Fieguth ist Autor genealogischer Arbeiten über die Familien Wiebe und Fieguth. Darüber hinaus ist Rolf Fieguth ein renommierter deutscher Slawist, Germanist und Übersetzer. Er wurde mit der Verdienstmedaille der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen (der Hochschule, an der ich meine Doktorarbeit schreibe) ausgezeichnet. Das erfuhr ich jedoch erst später, nach meiner Rückkehr nach Hause.
Bei dem Treffen in Stogi lernte ich Rolf Fieguth als einen lächelnden und herzlichen Professor der Universität Freiburg in der Schweiz kennen. Wir wurden Facebook-Freunde und begannen einen regen E-Mail-Austausch über seine Familie und seine Verbindungen zu meinem Heimatort Stara Kościelnica und Stogi.
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Eine äußerst angenehme Überraschung war für mich die Nachricht, die ich im September von dem Professor erhielt. Er hatte das Buch gelesen, das ich über Stara Kościelnica geschrieben hatte. Er schrieb:
Ich habe Ihr Buch über Stara Kościelnica mit großer Rührung gelesen. Es ist meine erste ernsthafte Auseinandersetzung mit der Realität der heutigen Bewohner des Werderlandes, das für mich bisher vor allem eine imaginäre Erinnerungslandschaft war, eine seltsame, weil sie aus den häufigen Erzählungen meiner Mutter (geb. 1905 in Marienburg) entstand und nicht nur positiv und angenehm war. Ein imaginärer Ort, der sich wie ein Spinnennetz über meine beiden Besuche dort legte (am intensivsten 1969; um 1990 im Auto von Paweł Huelle) und sich von Anfang an auch über diesen letzten Gruppenbesuch legte.
In der weiteren Korrespondenz erhielt ich von ihm auch wertvolle Hinweise zu den Mennoniten im Werder.
Heute reagiere ich auf Ihre schöne Arbeit „Die mennonitische Nekropole in Stogi Malborskie als Quelle für Traditionen und Informationen über die ehemaligen Bewohner der Żuławy”. Es besteht kein Zweifel, dass der Großteil der Mennoniten in der Werder-Region niederländische Vorfahren hatte, jedoch nicht die aus Ostfriesland, da diese Region nicht zu den Niederlanden gehörte und Niederländisch dort nur als Kirchen- und Verwaltungssprache der Reformierten und Mennoniten verwendet wurde. Außerhalb der Kirche sprach man dort Niederdeutsch (sehr selten Friesisch) und schrieb Deutsch. Das Gleiche galt übrigens auch für die niederländische Sprache bei den Mennoniten im Werder und im weiteren Westpreußen. In den Werder-Gemeinden wurden Predigten oft auf Niederländisch gehalten, und zwar noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da Prediger gerne aus den Niederlanden geholt wurden, weil die Köpfe der Werderaner für ein Theologiestudium nicht geeignet waren. Ich glaube jedoch nicht, dass Sie Spuren einer privaten und familiären Verwendung dieser Sprache unter den Mennoniten in der Werderland zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert finden werden. Alle Inschriften auf den mennonitischen Gräbern, die wir gesehen haben, waren jedoch in deutscher Sprache. Stark war hingegen (und ist teilweise noch) die Position der niederdeutschen Sprache („Plattdeutsch”, „Plautdietsch”). In meiner Familie in der Werderer Region hörte man nach 1880 auf, mit Frauen und Kindern Niederdeutsch zu sprechen. Platt wurde dann nur noch auf dem Feld und bei der Jagd (!) gesprochen. Es behielt jedoch seine Stellung unter den Mennoniten des Werders, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massenhaft ins Russische Reich und in verschiedene Teile Amerikas auswanderten. In Kanada hat das Werder-Mennoniten-Plautdietsch sogar bis heute seine eigene Literatur.
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Bis heute korrespondiere ich auch mit Henry aus Vancouver in Kanada – dem Enkel von Irmgard Wiebe (geb. Behrens). Henry schrieb mir einmal, dass er sich an den Tod seiner Großmutter im Januar 1941 erinnert. Er war damals (in welchem Jahr wurde Henry geboren?) Jahre alt. Er erinnert sich aber auch an ihr Leben, insbesondere an einen Moment während der Weihnachtsfeiertage 1940, als er mit einem Pferdeschlitten vom nahe gelegenen Bahnhof zu seiner Großmutter gebracht wurde. Danach erinnerte er sich daran, wie er als Kind mit seiner Mutter vom Haus seiner Großmutter in Altmünsterberg zum Friedhof in Heubuden ging.
Ich hoffe, dass das Treffen in Stogi und der Briefwechsel mit den Nachkommen von Agathe und Peter Wiebe mir noch viele interessante und inspirierende Informationen liefern werden, die den Anfang weiterer Recherchen zur Geschichte der ehemaligen Bewohner des Werders bilden werden…
[1]Stogi [in:] Katalog zabytków osadnictwa holenderskiego w Polsce, http://holland.org.pl/art.php?kat=obiekt&id=449, (Zugriff: 05.11. 2016)
[2]Stogi [in:] dz. cyt.
[3] Fritz Wiebe, http://www.wiebeworldwide.net/webtrees/individual.php?pid=I247&ged=wiebe (Zugriff: 05.11.2016).
[4] SA (Sturmabteilung) – diente der deutschen NSDAP im Kampf gegen Milizen und Sympathisanten anderer politischer Gruppierungen.
[5] Siehe A. Paprot, Zapomniane groby mennonitów, „Gazeta Malborska” 2006, Nr. 41.
[1] Deutsch von Rolf Fieguth 2025