Rolf Fieguth, Fribourg
Die Ost-West-Problematik in den europäischen Kulturen und Literaturen. Hrsg. Siegfried Ulbrecht i Helena Ulbrechtová, Praha, Dresden 2009, 371-387
А. S. Puškins Podražanija Koranu (1826) und das „Buch Hafis“in Goethes West-östlichem Divan (1819)[1]
Das Thema meines Beitrags hängt mit dem komparatistischen Forschungsprojekt “Theorie und Geschichte des europäischen Gedichtzyklus im 19. Jahrhundert” zusammen, das wir in Fribourg bearbeitet haben. Das Hauptgewicht lag auf der Darstellung wichtiger nationalliterarischer Gedichtzyklen der sukzessiven literarhistorischen Epochen des 19. Jahrhunderts von der Romantik bis zum Symbolismus[2]. Eine Schwäche der Projektarbeit war die relativ geringe Herstellung von Beziehungen zwischen Zyklen verschiedener Nationalliteraturen. Eine überzeugende Geschichte des europäischen Gedichtzyklus liegt noch in weiter Ferne.
Ein erster Schritt auf dem Weg dahin ist wohl die Konstruktion “schmaler” europäischer Entwicklungszusammenhänge, zum konkreten Beispiel die Entwicklung europäischer Gedichtzyklen mit orientalischen Motiven seit Goethes West-östlichem Divan (1819, 1826). Eine derartige Konstruktion ist bisher nach meiner Kenntnis weder innerdeutsch noch gar europäisch vorgenommen worden, vielleicht auch deshalb, weil durchaus keine selbstverständliche Einigkeit darüber besteht, welche Bedingungen ein konkretes Werk (ein Zyklus) erfüllen muss, um mit einem früheren Werk (Zyklus) in einen gemeinsamen literarischhistorischen oder gattungsgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang gestellt zu werden, zumal dann, wenn es sich um Werke unterschiedlicher europäischer Nationalliteraturen handelt. Sonderformen eines solchen Entwicklungszusammenhangs sind offene Nachahmung und / oder Parodie, aber oft genug auch der explizite oder implizite Wille des Autors, es formal und inhaltlich anders zu machen als das frühere Werk. Daraus können völlig unvorhergesehene Formen eines Entwicklungszusammenhanges entstehen – unter anderem durch die gleichzeitige Orientierung des späteren Werks auch an völlig anderen Werken und Stilen. Im europäischen Bereich können bei generöser Betrachtung in den von Goethes West-östlichem Divan mit bestimmten Entwicklungszusammenhang voraussichtlich Gedichtzyklen von Autoren wie Victor Hugo, Heinrich Heine, Théophile Gautier, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche und Vjačeslav Ivanov[3] eingesetzt werden.
Die vielleicht frühesten Spuren einer im beschriebenen Sinne verstandenen Divan-Wirkung sind jedoch bei zwei slavischen Dichtern anzusetzen, nämlich in Adam Mickiewiczs 1825 in Moskau erschienenen Sonetten, sowie in Aleksandr Puškins Nachahmungen des Korans (Podražanija Koranu, 1826). Beide Zyklen stehen natürlich weder ausschließlich noch vorwiegendim Zusammenhang mit Goethes Divan. Mickiewicz konstruiert in seinem Doppelzyklus der Sonette einen Gegensatzzwischen westlicher Liebeslyrik, als deren Patron Petrarca explizit angeführt wird („Odessaer“ Sonette), und östlicher metaphysischer Lyrik, deren Patron der fiktive Mirza der Krimsonette ist. Er setzt also der Vielheit der von Goethe angesprochenen muslimischen Dichter eine explizite Zweizahl entgegen, und das heitere Bestreben des deutschen Dichters nach liebender und harmonischer Anpassung an den orientalischen Dichterton beantwortet Mickiewicz mit schneidenden Dissonanzen. Der Bezug zum Divan wird explizit allein durch das Motto zur Serie der Krimsonette hergestellt[4], was die Herstellung sehr viel weitergehender Bezüge auf Goethes Divan legitimiert. Puškin verzichtet in seinen Nachahmungen auf jeden expliziten Bezug auf andere Dichter, und er konzentriert sich auf den Koran, von dem er gleichsam eine poetische Essenz geben will[5]. Dadurch entsteht ein besonders paradoxes und komplexes literarisches Verhältnis zu Goethes Divan.
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Es geschieht außerordentlich selten, dass Puškins Nachahmungen und Goethes Divan überhaupt in irgendeinen Zusammenhang gebracht werden. Weder Tomaševskij, noch Darvin und Tjupa erwähnen Goethes Zyklus in ihren Kommentar zu den Nachahmungen[6]. Man kann ohne weiteres sagen, dass die Tradition der neueren Puškinwissenschaft diesen Zusammenhang insgesamt ignoriert. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Rozov, Keefer, Braginskij und Danilevskij, von die beiden letzteren wenigstens die Gemeinsamkeit der Orientalismus-Mode ins Feld führen[7].
Die beschriebene Abstinenz der Puškinforschung liegt unter anderem wohl an dem geringen heutigen Bekanntheitsgrad sowohl des Goetheschen Divan als auch von Puškins Nachahmungen in Russland und in Deutschland. Beide Werke gehören im späteren 20. Jahrhundert nicht zu den Produktionen der beiden großen Dichter, auf die sich Leser, Kritiker und Dichter immer wieder berufen; beide Werke sind im öffentlichen Bewusstsein ein wenig an den Rand geraten, gerade wohl auch wegen ihres orientalisierenden Charakters. Während Rozov in seiner 1908 erschienenen Monographie noch ganz unbefangen möglichen Spuren von Puškins Wahrnehmung des Divans in Korrespondenz und Gedichttexten nachgeht[8], scheint es, dass die neueren Literarhistoriker die Optik des mittleren 20. Jahrhunderts unbewusst auf die Verhältnisse um 1820 übertragen haben. Braginskij stellt sich die Frage, ob Puškin den Divan überhaupt kannte. Immerhin finde sich weder in der Korrespondenz, noch auch im Text der Nachahmungen der geringste direkte Hinweis auf eine Reaktion des russischen Dichters auf Goethes Gedichtbuch von 1819[9].
Es gäbe ohne Zweifel Schwierigkeiten mit einer literarhistorischen Verbindung von Mickiewiczs Sonetten mit Goethes Divan, wenn Mickiewicz nicht das betreffende Motto gewählt und damit selbst diesen Bezug hergestellt hätte. Diese Schwierigkeiten sind größer bei Puškins Nachahmungen, wo ein expliziter Verweis nicht vorhanden ist; auch in Puškins Korrespondenz oder sonstigen Lebenszeugnissen kommt nach meiner bisherigen Einsicht Goethes Divan nicht vor. Ich halte es aber für ausgeschlossen, dass Puškin von Goethes Divan überhaupt nichts gewusst haben soll, als er die Nachahmungen schrieb.
Wir wissen, dass Puškin sich gerade in den frühen 1820er Jahren immer wieder mit großer Ehrfurcht über Goethe geäußert hat, insbesondere über den Faust, aus dem er in einer Frühfassung seines Kavkazskij plennik sogar ein Motto entnommen hatte. Es darf ausgeschlossen werden, dass ihm das Faktum der Publikation des West-östlichen Divan im Jahre 1819 entgangen wäre. Folgende Überlegungen führen mich zu dieser Einschätzung:
Seit 1812/13 hatte in Europa J. Hammer-Purgstalls Übersetzung des Diwans von Hafis Furore gemacht. Der persische Dichter war damit endgültig im Pantheon der großen Gestalten der Weltliteratur etabliert. Wenn jetzt Goethe eine Art Nachahmungen des Hafis vorlegte, so musste dies unter den Dichtern und Kennern geradezu Signalwirkung haben, zumal er in seiner eigenwilligen Art auf eine von der internationalen Romantik bereits praktizierte Orientmode reagierte. Goethe bezieht sich in seinem Divan überdies auf einen jungen Stern der europäischen Poesie, nämlich auf Byron und speziell auf sein Poem Bride of Abydos (1813), dessen Heldin den Namen Zuleika trägt[10]; die Heldin, Geliebte und Mitdichterin des Goetheschen Hafis heißt Suleika. Goethe schließt also erkennbar an die Orientalismusmode an, die vor ihm Byron in seinen Verserzählungen in der ganzen literarischen Welt Europas mächtig aktiviert hatte[11].
Nicht zu unterschätzen ist schließlich der leicht skandalöse Beigeschmack des Divans. Der große alte Herr der europäischen Poesie feiert in aller Offenheit eine junge Liebe. Einem Menschen wie Puškin kann gerade dieser erotische Aspekt von Goethes Publikation nicht gleichgültig gewesen sein. Dazu kommt, dass Goethe gleich im zweiten Gedicht des Divans bemerkenswert ungnädig auf den Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums reagiert:
Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten,
Unter Lieben, Trinken, Singen
Soll dich Chisers Quell verjüngen.
(„Hegire“, vv. 1 – 6)
Angesichts der engen Verbindungen, die um 1820 zwischen den europäischen Dichtern bestanden, kann also angenommen werden, dass Puškin über Goethes Divan zumindest in groben Zügen Bescheid wusste; und es ist auch eher wahrscheinlich, dass er das Buch sogar in Händen hatte. Wie oberflächlich er darin geblättert und gelesen hat, einschließlich des langen Anhangs in Prosa, darüber können wir nur spekulieren. Lesekenntnisse des Deutschen hatte er wohl zu jener Zeit. Es ist aber auch eine bekannte Tatsache, dass Dichter nicht immer eine sorgfältige Lektüre eines Werkes brauchen, um sich davon irgendwie inspirieren zu lassen. Wir wissen z.B., dass Mickiewicz beim Schreiben seiner berühmten Krimsonette die orientalische Poesie nur äußerst oberflächlich zur Kenntnis genommen hatte und dennoch eine orientalische Stilisierung dieser Sonette herbeiführte, die bis heute ihre Eindruckskraft nicht eingebüßt hat.
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Einer der vielen Gründe für die bisherige Abweisung einer Verbindung zwischen Divan und Nachahmungen mag der sehr unterschiedliche Umfang gewesen sein. Paradoxerweise ergibt sich aber gerade daraus ein recht konkreter potenzieller Anknüpfungspunkt. Eine Berechnung des Umfangs beider Zyklen ergibt, dass Puškins Nachahmungen ungefähr einer gewissen mittleren Norm eines der zwölf Bücher des Goetheschen Divans entsprechen.
Begibt man sich auf dieser Spur nach der Frage, welchen der Bücher des Divan Puškins Nachahmungen nahekommen, so liegen aus verschiedenen Gründen die ersten beiden nahe. Das „Buch des Sängers“ umfasst 363 Zeilen, das „Buch Hafis“ 130 Zeilen. Mit ihren 172 Zeilen fallen Puškins Nachahmungen also gegenüber diesen beiden Büchern nicht aus dem Rahmen. Dazu kommt, dass Goethes „Buch des Sängers“ 18 Gedichte umfasst, sein „Buch Hafis“ halb so viele, nämlich 9 – und eben dies ist auch die Anzahl der Gedichte der Puškinschen Nachahmungen.
Goethes “Buch Hafis” enthält ein Gedicht mit dem Titel und Stichwort “Nachbildung”, was dem Puškinschen Begriff des “Podražanie” sehr entspricht. Auch der Divan versteht sich ja insgesamt als “Nachahmung”, aber nicht direkt des Korans, wie bei Puškin, sondern eben des Dichters Hafis und seiner anderen orientalischen Kollegen:
In deine Reimart hoff’ ich mich zu finden,
Das Wiederholen soll mir auch gefallen,
Erst werd’ ich Sinn, sodann auch Worte finden;
Zum zweitenmal soll mir kein Klang erschallen,
Er müsste denn besondern Sinn begründen,
Wie du’s vermagst begünstigter vor allen!
(„Nachbildung“, vv. 1 – 6)
Die Nachahmung ist in der Tat ein Akt der Identifizierung Goethes mit dem nahen fremden Dichter Hafis; dennoch bleibt festzuhalten, dass Goethe hier mit eigener Stimme spricht und mit dieser eigenen Stimme eine fremde Stimme nachahmen will; er will in seiner eigenen Stimme eine andere Stimme, oder andere Stimmen, offen hören lassen.
Goethes „Buch Hafis“ wird – nach einem mottoartigen Vierzeiler – eingeleitet durch einen Dialog zwischen dem “Dichter” und “Hafis”, wo der Perser dem Deutschen seinen Namen erklärt: man nennt ihn Hafis, weil er den Koran Wort für Wort memoriert und streng befolgt. Der deutsche Dichter identifiziert sich mit ihm mit der Bemerkung, auch ihm hätten sich „unsere“ heiligen Schriften eingeprägt wie das Antlitz des Herrn dem Schweißtuch der Veronika.
Und so gleich ich dir vollkommen
Der ich unsrer heil’gen Bücher
Herrlich Bild an mich genommen,
Wie auf jenes Tuch der Tücher
Sich des Herren Bildnis drückte,
Mich in stiller Brust erquickte,
Trotz Verneinung, Hindrung, Raubens,
Mit dem heitren Bild des Glaubens.
(„Beiname“, vv. 18 – 25)
Es findet hier eine, zumindest vom Standpunkt des deutschen Dichters aus, freigeistige Identifizierung des Dichters mit den heiligen Schriften statt – auf Seiten des Deutschen schwingt dabei eine fast übermütige Ironie mit.
Puškin eröffnet seinen Zyklus nicht mit einem Dialog zwischen Dichtern, sondern mit einer temperamentvollen Anrede Gottes an seinen offenbar verzweifelten Propheten. Magomet wird hier nicht genannt, aber im Kontext des Ganzen gemeint und angesprochen. Auch in diesem Gedicht spielt der Koran die Hauptrolle. Es spricht Gott, die Stimme des Korans, mit einigen Wendungen des originalen Korans, wie der Autor in seinen Anmerkungen andeutet, und diese Stimme thematisiert den Koran auch am Ende des Gedichts:
Мужайся ж, презирай обман,
Стезею правды бодро следуй,
Люби сирот, и мой Коран
Дрожащей твари проповедуй.
(I, vv. 13 – 16)
Wir Puškinleser wissen oder meinen zu wissen, dass der Prophet, zu dem Gott spricht, Puškin selbst meint, und wenn wir diese Perspektive annehmen, führen wir eine Poetisierung des Korans durch – allerdings in einem deutlich anderen Schlüssel als bei Goethe, denn explicite ist ja bei Puškin vom Dichter und vom Dichten gar nicht die Rede. Es sei hier bemerkt, dass Goethe den Wein und die Liebe mehrfach geradezu ins Zentrum seines Divans rückt – das „Buch Hafis“ hat als Motto den Vierzeiler:
Sei das Wort die Braut genannt,
Bräutigam der Geist;
Diese Hochzeit hat gekannt,
Wer Hafisen preist
– und im 6. Gedicht, „Unbegrenzt“, lesen wir
Und mag die ganze Welt versinken,
Hafis mit dir, mit dir allein
Will ich wetteifern! Lust und Pein
Sei uns den Zwillingen gemein!
Wie du zu lieben und zu trinken
Das soll mein Stolz, mein Leben sein
(„Unbegrenzt“, vv. 13 – 18)
Diese Idee müsste Puškin eigentlich nahe stehen, aber in den Nachahmungen wird sie sorgfältig beiseite gelegt. In Gedicht II „O ženy čistye proroka“ über die züchtigen Frauen des Propheten wird allem Erotismus geradezu abgeschworen. Für einen Kenner Puškins muss das ironisch wirken, auch wenn, wie ich meine, Ironiesignale im Verstext der Nachahmungen nicht oder nur mit Mühe zu entdecken sind, während aus den Autor-Anmerkungen durchaus Distanz zur Materie spricht. Aber selbst wenn hier Ironie am Werk ist: der Kontrast zum offenen Erotismus von Goethes Divan bleibt trotzdem erhalten.
Goethes „Buch Hafis“ behandelt im Anschluss an den Dialog zwischen Dichter und Hafis die Frage der poetischen Abweichungen vom Koran und der glaubensstrengen Lektüre und Auslegung der Hafisschen Poesie. Einer „Anklage“ folgen zwei unterschiedliche Urteile frommer muslimischer Richter: ein Theologe lässt die Abweichungen des Dichters vom Koran gelten („Fetwa“ [1]), der andere verbrennt das Buch des Dichters, aber nicht den Dichter („Fetwa“ [2]). Dagegen muss bei Puškin die Stimme Gottes oder die Stimme des Korans im III. Gedicht „Smutjas’, pochmurislja prorok“ dem Propheten bedeuten, keinen Glaubensübereifer an den Tag zu legen; er sollte getrost auf das jüngste Gericht warten:
С небесной книги список дан
Тебе, пророк, не для строптивых;
Спокойно возвещай Коран,
Не понуждая нечестивых!
(III, vv. 5 – 8)
Und diese Gelassenheit begründet Gottes Stimme im weiteren Verlauf des Gedichts mit einigen Spruchweisheiten, wie wir sie in ähnlicher Form auch im Divan finden:
Почто ж кичится человек?
За то ль, что наг на свет явился,
Что дышит он недолгий век,
Что слаб умрет, как слаб родился?
За то ль, что бог и умертвит
И воскресит его - по воле?
Что с неба дни его хранит
И в радостях и в горькой доле?
За то ль, что дал ему плоды,
И хлеб, и финик, и оливу,
Благословив его труды,
И вертоград, и холм, и ниву?
(III, vv. 9 – 20)
Wir haben in Puškins Nachahmungen also ganz wie bei Goethe gleich im dritten Gedicht das Thema der Toleranz, aber mit einem bezeichnenden und wesentlichen Unterschied: bei Goethe ist die Toleranz offen poetologisch, bei Puškin zumindest im Vordergrund theologisch-seelsorgerlich.
Wenn wir nun sagen können, dass in „Buch Hafis“ Goethes zyklisches Subjekt mit zwei Stimmen gesprochen hat, mit der des deutschen Dichters und mit der des Hafis, so war in den ersten drei Puškingedichten nur Allahs Stimme zu hören gewesen, allerdings nicht einstimmig, sondern, wie der Titel uns ja auch direkt gesagt hat, als Nachahmung der Stimme des Korans, und zwar in erkennbar Puškinschen Versen[12]. Auch hier haben wir es also mit einer gewissen lyrischen Zweistimmigkeit, wenngleich sie anders motiviert ist als bei Goethe.
Im vierten Puškingedicht IV. „S toboju drevle, o vsesil’nyj“ kommen nun allerdings zwei weitere Stimmen zu Gehör: die Stimme des Propheten selbst (abweichend vom Koran), der in der Anrede an Gott einen Dialog zwischen einem hochmütigen Mächtigen mit Gott erzählt[13]. Es ist möglich, dass mit dem hochmütigen Mächtigen auf den Zaren angespielt wurde:
С тобою древле, о всесильный,
Могучий состязаться мнил,
Безумной гордостью обильный;
Но ты, господь, его смирил.
Ты рек: я миру жизнь дарую,
Я смертью землю наказую,
На все подъята длань моя.
Я также, рек он, жизнь дарую,
И также смертью наказую:
С тобою, боже, равен я.
Но смолкла похвальба порока
От слова гнева твоего:
Подъемлю солнце я с востока;
С заката подыми его!
(IV, vv. 1 – 14)
Aber nicht so sehr die politische Entschlüsselung interessiert daran, als vielmehr die im Kontext der bis dahin eher monologischen Nachahmungen besonders auffallende Mehrstimmigkeit dieses Gedichts. Für einen Moment scheint hier eine Brücke zur Goetheschen Vielstimmigkeit gegeben: Goethe lässt in seinem Divan nicht nur Hafis sprechen, sondern auch Firdusi, Saadi und eine ganze Reihe von anderen Dichtern; eine besondere Rolle spielt ferner die Heldin Suleika, die nach Goethes explizitem eigenem Kommentar Mitdichterin des Zyklus ist, und wir wissen ja inzwischen, dass mehrere der Gedichte des Divan in der Tat Texte der Marianne von Willemer sind. Obwohl also Puškin den Koran nachahmt, verlässt er in diesem Gedicht den monologischen Rahmen des heiligen Buchs der Muslime und führt eine eigene Vielstimmigkeit ein[14].
Das fünfte Gedicht
Земля недвижна - неба своды,
Творец, поддержаны тобой,
Да не падут на сушь и воды
И не подавят нас собой.
Зажег ты солнце во вселенной,
Да светит небу и земле,
Как лен, елеем напоенный,
В лампадном светит хрустале.
Творцу молитесь; он могучий:
Он правит ветром; в знойный день
На небо насылает тучи;
Дает земле древесну сень.
Он милосерд: он Магомету
Открыл сияющий Коран,
Да притечем и мы ко свету,
И да падет с очей туман.
(V, vv. 1 – 16)
wird neuerlich weder von der göttlichen Stimme des Korans gesprochen, noch logischerweise vom Propheten Magomet, der hier ja angesprochen wird, sondern von einem “wir” der Gläubigen, das von der Stimme des “Dichters selbst” vertreten wird. Das Zentralgedicht bringt also eine weitere Vermehrung der Vielstimmigkeit des Zyklus mit sich.
Die Gedichte VI bis VIII kehren zu der vermeintlichen Einstimmigkeit der ersten drei Gedichte zurück; Gott ruft den Propheten und die Gläubigen zum Kampf (VI), den furchtsamen Propheten zum Gebet und zur Koranlektüre (VII), den Gläubigen zur Freigiebigkeit auf (VIII), wobei die Aufforderung zu Furchtlosigkeit und Gebet an die erste Ansprache Gottes an den Propheten erinnert. Aber zugleich tritt hier ab Gedicht VII metrische Bewegung nach lauter vierhebigen Jamben ein: VII ist in zweihebigen Daktylen gehalten, VIII weist eine vergleichsweise komplexe Strophenform auf (4×6-jamb+4-jamb+6-jamb).
Diese metrische Bewegung setzt sich in das IX. und letzte Gedicht hinein fort, das vierhebige Amphibrachen verwendet und damit einen narrativen Balladenton erzeugt. Dabei kommt eine Erzählerstimme ins Spiel, die neuerlich mit der Stimme “des Dichters selbst” identifiziert werden darf; erzählt wird in dieser Gleichnisballade die bekannte und dennoch zunächst rätselhafte Geschichte vom jungen “Wanderer”, der nach einer Nacht in der Oase als alter Mann neben einer versiegten Quelle und den Gebeinen seiner Eselin erwacht, und dem Gott auf dessen Klagen hin die Jugend, das Wasser und die neu belebte Eselin wiederschenkt. Auch dieses Gleichnis läuft darauf hinaus, dem Propheten Mut zuzusprechen auch in verzweifelter Situation: Gott wird ihn nicht verlassen.
In dem Gedicht “Elemente” („Buch des Sängers“) erwähnt Goethe vier Dinge, die für das Gedicht notwendig seien: die Themen Wein, Liebe, Kampf und Hass. Unter “Liebe” und “Wein” subsumiert er dabei auch den inneren Kontakt mit der Gottheit, der sich erst im Rausch des Weins und der Liebe herstellt. Dies ist natürlich bestenfalls eine häretische Interpretation des Korans und seiner Kultur, und Goethe bringt das in seinem Divan auch deutlich zum Ausdruck. Diese freizügige Einstellung zum Koran verbindet sich insgesamt auch mit Goethes häretischer Einstellung zur gesamten europäischen poetischen Kultur im Divan, der ja gerade als kulturelle Grenzüberschreitung gedacht ist. Diese Grenzüberschreitungen gehen bis ins Gebiet der Sprachbehandlung und der Behandlung von Metrik und Rhythmus, die von so unglaublicher Freiheit und Willkür sein kann, dass sie später nicht nur den Spötter Heinrich Heine zutiefst begeisterte, sondern sich auch noch in den Zarathustra-Dithyramben von Friedrich Nietzsche niederschlug. Die ersten Zeilen des 4. Gedichts in „Buch Hafis“ lauten:
Heiliger Ebusuud, du hast’s getroffen!
Solche Heilige wünschet sich der Dichter:
Denn gerade jene Kleinigkeiten
Außerhalb der Grenze des Gesetzes,
Sind das Erbteil wo er, übermütig,
Selbst im Kummer lustig, sich beweget
(„Der Deutsche dankt“, vv. 1 – 6)
Puškin konstruiert in seinen Nachahmungen des Korans eine vollkommen andere Einstellung. Zentralfigur ist hier der Prophet, der zu Verzweiflung und Niedergeschlagenheit neigt, selbst seinen Ehefrauen gegenüber schamhaft und schüchtern ist, aber als Wortführer Gottes zu Heftigkeit und Aggressivität gegenüber den Ungläubigen (nečestivye) und gegenüber den Unentschlossenen neigt. Mit einem Wort, Puškins Nachahmungen geben sich nicht häretisch, wie Goethes Divan, sondern dogmatisch muslimisch, zumindest in der poetischen Präsentation. Sie sollten ja tatsächlich in poetischer Manier das Wesentliche des Korans reflektieren. Dieser dogmatischen Grundhaltung (die wir als ironische entlarven können) entspricht ein grundsätzlich konservativer Grundzug auch in der Behandlung der poetischen Materie, der dann freilich gleichfalls ironieverdächtig wird. Abgesehen von einigen Formulierungen des Korans, die in den poetischen Text eingebaut werden, gibt es in den neun Gedichten der Nachahmungen des Korans nach meiner Einsicht nicht die allergeringste Abweichung von den Normen und Konventionen der zeitgenössischen russischen Verstechnik; in den ersten sechs Gedichten herrscht der vierhebige Jambus, danach tritt die erwähnte metrische Bewegung ein, das Schlussgedicht mit seinen vierhebigen Amphibrachen entspricht vollständig der Balladennorm (wie wir sie auch bei Goethe kennen). Aber ein Versuch der Nachahmung orientalischen Versklangs ist hier an keiner Stelle spürbar – im Gegensatz zu Goethes zahlreichen Formexperimenten. Ähnliches gilt für den Stil. Goethe ist erkennbar um stilistische Lockerung bemüht, um eine Verschwisterung deutschen Volks- und Umgangstons mit orientalischen Elementen, wie an obigem Zitat aus „Der Deutsche dankt“ zu sehen ist.
Im Gegensatz zu Goethe strebt Puškin in den Nachahmungen offenkundig eine Verbindung von Wortmacht und Erhabenheit an und greift dazu auf das russisch-kirchenslavische Stilreservoir und auf die eingeführten metrischen Formen zurück. Für die paradoxen Effekte, die er dabei erzielt, ist ein besonders sinnfälliges Beispiel das Schlussgedicht; dort heißt es u.a.
И к пальме пустынной он бег устремил,
И жадно холодной струей освежил
Горевшие тяжко язык и зеницы,
И лег, и заснул он близ верной ослицы -
И многие годы над ним протекли
По воле владыки небес и земли.
(IX, vv. 7 – 12)
In diesem seltsamen Bündnis zwischen koranischer Dogmatik und russisch poetischem Stilkonservatismus liegt ein Ironiepotenzial, das hier nur kurz kommentiert werden kann. Natürlich war Puškin selbst kein gläubiger Moslem. Gewiss hatte sein Rückgriff auf den Koran auch mit seinem Interesse für die Völker des Kaukasus und für die orientalische Kultur überhaupt zu tun, aber dieser Rückgriff war vielleicht in noch höherem Maße ein Akt des Ungehorsam gegenüber einer Obrigkeit, die ihn wegen seines Bekenntnisses zu “reinem Atheismus” nach Michajlovskoe verbannt hatte. Hierauf antwortet Puškin ungehorsam in der Maske und Rolle des gläubigen und militanten Muslimen, der sich in den Propheten des Islams hineinversetzt. Innerhalb dieser Konstruktion ist kaum ein Akzent einer Ironie festzustellen, kaum ein nachweisbares relativierendes Augenzwinkern. Der Prophet ist in den Nachahmungen der Prophet, wie Puškin ihn dem Koran zu entnehmen glaubte. Allegorisierung und Ironisierung sind wie Reflexe, die von außen auf diese Konstruktion projiziert werden – allerdings enthalten die Fußnoten des Dichters zu seinen Nachahmungen bereits genügend Distanzsignale[15].
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Die orientalischen Welten in Goethes und Puškins Dichtungen haben einen wesentlichen Punkt gemeinsam: die muslimische Kultur, Religion und Poesie wird von beiden europäischen Dichtern ausgesprochen ernst genommen und mit großem Respekt behandelt. Die wesentliche Figur des Divan, der persische Dichter Hafis, ist der korankundige Dichter – diese Bedeutung des Namens Hafis wird von Goethe in besonderer Weise herausgestrichen. Goethe identifiziert sich poetisch mit Hafis, er erweitert auf diese Weise die eigene Identität, indem er seine christlich geprägte Welt durch einen muslimischen Horizont erweitert. Der für uns wichtigste Punkt sind die nicht wenigen Gedichte des Divan, wo der Dichter praktisch als dichtender Muslim spricht – mit fremdem, europäischem oder deutschem Akzent, wie er andeutet[16].
Es ist klar, dass in dieser Fähigkeit des Europäers Goethe, sich mit einem Muslimen zu identifizieren, seine überreligiöse Metaphysik zum Ausdruck kommt, aber diese Fähigkeit zur Empathie in die fremde Religion ist durchaus frappierend und nicht ausschließlich literarische Stilisierung. Goethes persönliche Horizonterweiterung geht Hand in Hand mit einem literarisch weit reichenden Projekt. Der West-östliche Divan baut gewissermaßen das europäische lyrische Traditionsbewusstsein um. An die Stelle von Petrarca, an dem die nachantike und nachmittelalterliche europäische Liebespoesie erstmals Gestalt gewinnt, tritt nun Hafis, der Dichter aus demselben Jahrhundert und mit einer interessanten Alternative zu den Liebestopoi der petrarcaschen und petrarkistischen Liebespoesie, deren Akzente dennoch auch immer noch im Divan mitschwingen. Letzten Endes aber strebt Goethe durch seinen Divan einen Akt der Befreiung an: als Dichter baut er sich um, mit dem Ziel, in den Zustand einer neuen Jugend zu gelangen, in dem er seine Liebe und seine neue poetische Begeisterung und Inspiration leben kann, und er erschließt der deutschen Poesie damit Möglichkeiten und Freiheiten, die sie bisher nicht wahrgenommen hatte.
Puškin hat die muslimische Welt nicht nur am Schreibtisch erlebt wie Goethe, sondern durch eigenen Augenschein im Kaukasus, und zwar nicht nur als Tourist, sondern als nächster Beobachter der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russen und Muslimen im Kaukasus. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Puškin auch von Mickiewicz, der gleichsam als Bildungsreisender auf die Krim fährt und von daher seine Orienterfahrung mitbringt. Die Mischung aus Faszination und Aggressivität, aus Liebe und Ablehnung, die Puškin die Begegnungen mit der orientalischen Welt einflößt, hat er bereits im Kaukasischen Gefangenen zum Ausdruck gebracht.
In den Nachahmungen des Korans ist von Goethescher Leichtigkeit, wie schon gesagt, wenig zu spüren. Indem Puškin das Russisch-Kirchenslavische einsetzt, um die Atmosphäre des Korans zu evozieren, geht er einen Schritt weiter in der Säkularisierung des kirchenslavischen Stilelements im Russischen. Auch Goethes Divan handelt von der Inspiration des Dichters, das Auftauen des uralten eisigen Timur, der Goethe selbst ist, zu einem von der Liebe zu Suleika und von einer heiter poetischen Frömmigkeit des Orients beflügelten neuen Inspiration zu gelangen[17]. Puškin dagegen setzt durch seine auf die christliche Kirchensprache verweisende stilistische Geste den Gott der Bibel, vor allem den Gott des Alten Testaments, mit dem Gott des Koran gleich, der hier in Zwiesprache mit seinem Propheten gezeigt wird.
Puškin sucht hier nicht wie Goethe nach poetischer Erweiterung, Erheiterung und Verjüngung, sondern nach einer ernsthaften außerweltlichen Begründung seines poetischen Tuns. Welches ist die höhere Quelle seines poetischen Berufs? Was ist sein höherer Dichterauftrag in der Welt? Diese Fragen bewegen den Dichter der Nachahmungen des Korans.
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Wenn die Vermutung zutrifft, dass Puškins Nachahmungen gerade in ihrer poetischen Zuwendung zum Kern der islamischen Kultur, nämlich zum Koran, unter anderem auch ein Akt der Reaktion auf Goethes Divan ist, dann können wir festhalten: die Gemeinsamkeiten, die wir vor allem mit Goethes „Buch Hafis“ aufgezeigt haben, sind fast allesamt Ausgangspunkt für eine mit Goethe kontrastierende Behandlung gleicher oder ähnlicher Themen – aber gerade Kontraste sind oft symptomatische literarhistorische Verbindungsmittel.
In dieser Hinsicht gleichen die Puškinschen Nachahmungen des Korans den anderen frühen Zeugnissen eines gemeinsamen Entwicklungszusammenhangs seit dem Divan. Sie alle setzen sich in wichtigen Punkten formal und thematisch von dem großen Vorbild ab. Mickiewicz führt in seinen Sonetten den Petrarca wieder ein, den Goethe im Divan gewissermaßen ersetzen wollte, und er bringt in den Krimgedichten seinen Orientalismus in der Form von Sonetten zum Ausdruck, während in Goethes Divan kein einziges Sonett vorkommt. Auch ist der Divan streckenweise Liebeslyrik, Mickiewiczs Krimsonette sind dagegen ein Abschied von der Liebeslyrik und suchen einen neuen poetischen Weg zur Metaphysik. Dies lässt sich mutatis mutandis auch von Puškins Nachahmungen sagen. Als Gesamtkomposition stehen sie einem der Bücher des Goetheschen Divan, dem „Buch Hafis“,zwar näher als irgendeine Phase von Mickiewiczs Sonett-Doppelzyklus, aber sie weisen das Liebesthema noch stärker ab, als es Mickiewiczs Krimsonette tun. Victor Hugos Les Orientales (1829) entwickeln ebenfalls ein polemisches Verhältnis zum Divan: Goethes abgeklärt heiterer poetischer Weltflucht in die ‚Patriarchenluft des Ostens’ wird hier die lebensvoll heutige, aktuelle (auch deutlich byronisierende) Vision eines vom christlichen Westen bis zum muslimischen Osten des Mittelmeers reichenden Raumes gegenüberstellte. Eine andere Art der Polemik baut der deutsche Dichter Friedrich Rückert auf, der dem orientalistischen Leichtsinn des alten Herrn aus Weimar die poetische Sachkenntnis des veritablen Orientalisten entgegenzusetzen wusste und die orientalische Poesie wirklich en connaissance de cause in seinen eigenen Nachahmungen orientalischer Formen, vor allem aber auch in seinen poetischen Nachdichtungen zur Geltung brachte. –
Heinrich Heines begeistertes Lob des Goetheschen Divans (in der Fassung von 1827) in De l’Allemagne (1835) war nicht nur Signal eigener kreativer Reaktionen auf Goethes Zyklus (in allen seinen Gedichtsammlungen, insbesondere im Romanzero 1851) wird zur französischen und weiteren europäischen Divan-Rezeption beigetragen haben. Er schreibt dort:
Le «Divan de l’Orient occidental» de Goëthe est moins connu ici que son «Faust». […] Il renferme les opinions et les sentiments de l’Orient exprimés en chants fleuris et en sentences pleines de pensées, et tout cela brûle et embaume comme un harem rempli d’odalisques ardentes, aux paupières peintes en noir, aux yeux de gazelle, aux bras blancs et aux mouvements arrondis […]. Goëthe a transporté dans cette poésie ces voluptés enivrantes, et ses vers sont si faciles, si heureux, si aériens, si veloutés, qu’on s’étonne qu’il ait pu assouplir à ce point la langue allemande. [18]
Ein noch späteres, aber beredtes Zeugnis ist Théophile Gautiers Eingangsgedicht zu Émaux et Camées (1852), wo der Divan explizit zitiert wird:
Pendant les guerres de l’empire,
Goethe, au bruit des canons brutal,
Fit le Divan occidental,
Fraîche oasis où l’art respire.
Pour Nisami quittant Shakespeare,
Il se parfuma de çantal
Et sur un mètre oriental
Nota le chant qu’Hudhud soupire.
Comme Goethe sur son Divan
A Weimar s’isolait des choses
Et d’Hafiz effeuillait les roses,
Sans prendre garde à l’ouragan
Qui fouettait mes vitres fermées,
Moi, j’ai fait Émaux et Camées[19]
Es sei angemerkt, dass Barbey d’Aurevilly in einer zeitgenössischen Kritik sogar noch Baudelaires Les Fleurs du Mal (unter vielem anderen) mit Goethes Divan in Zusammenhang bringt[20]. Dies alles soll aber nur andeuten, welchen Umfang eine Darstellung des Entwicklungszusammenhangs annehmen könnte, der in besonderer Weise von Goethes Divan aktiviert wurde, und an dessen früher Phase Mickiewiczs Sonette und Puškins Nachahmungen des Korans teilhaben.
Résumé Russisch
Подражания Корану A.С. Пушкина и „Книга Гафиз“ в Западно-восточном диване И.В. Гете.
Пушкин, сочиняя Подражания Корану (ПК), не мог не знать о первой редакции Дивана Гете (1819), который подключился своими подражаниями Гафизу и другим поэтам мусульманского средневековья к той же восточной моде, в которой участвовали, среди прочих, и Байрон, и сам автор южных поэм. Статья трактует ПК, также как и Сонеты А. Мицкевича, как части одного историко-жанрового поля, развитию которого дал мощный толчок Диван, а который будет знать продолжение вплоть до Кормчих звёзд В. Иванова. Контакт ПК с Диваном устанавливается на основании общих им тем и мотивов, в том особенного уважения к мусульманской культуре и внимания к судьбе поэта, а по контрастово разной их поэтической разработке, при чем контраст рассматривается здесь столь же эффективной связью, как и сходство. По объему и темам, ПК сближаются больше всего к „Книге Гафиз“, второму из 12-и разделов Дивана. Большому формату, эротизму, поэтически свободной трактовке Корана, экспериментальному расширению возможностей немецкого стиха, прямому обсуждению ситуации поэта у Гете противостоит у Пушкина сжатость цикла, своенравная, мерцающая ирония в сочетании целомудрости и коранской правоверности с тонким консерватизмом русского поэтического стиля и стихосложения, и аллегорические намеки на положение поэта.
korrigierter russ. Text:
Рольф Фигут
Подражания Корану A.С. Пушкина и „Книга Гафиза“ в Западно-восточном диване И.В. Гете.
Пушкин, сочиняя Подражания Корану (ПК), не мог не знать о первой редакции Дивана Гете (1819), который реагировал своими подражаниями Гафизу и другим поэтам мусульманского средневековья на модную тему Востока, которая присутствовала и у Байрона, и у самого автора южных поэм. Статья трактует ПК так же, как и Сонеты А. Мицкевича, как части одного историко-жанрового поля, развитию которого дал мощный толчок Диван и которое нашло продолжение вплоть до Кормчих звёзд В. Иванова. Взаимосвязь ПК с Диваном устанавливается на основе общих тем и мотивов, уважения к мусульманской культуре и внимания к судьбе поэта, по контрастно разной поэтической разработке, при чем контраст рассматривается здесь такойь же эффективной связью, как и сходство. По объему и темам ПК приближаются больше всего к „Книге Гафиза“, второму из 12-и разделов Дивана. Пушкинская сжатость цикла, своенравная, мерцающая ирония в сочетании целомудрости и коранской правоверности с тонким консерватизмом русского поэтического стиля и стихосложения, и аллегорические намеки на положение поэта противостоит большому формату, эротизму, поэтически свободной трактовке Корана, экспериментальному расширению возможностей немецкого стиха и прямому обсуждению ситуации поэта у Гете.
Zur Person des Verfassers
Fieguth, Rolf
geb. Berlin-Hermsdorf 1941. 1983 – 2007 Professor für Slavische Sprachen und Literaturen an der Universität Freiburg/Schweiz. 1967 Promotion in Berlin, 1977 Habilitation in Konstanz. Studien- und Forschungsaufenthalte in Warschau und Moskau. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie (besonders Dramen- und Zyklustheorie; Auseinandersetzung mit Formalismus, Strukturalismus und Roman Ingarden), polnische Literatur, russische Literatur, Komparatistik, namentlich im Bereich des Gedichtzyklus. Gelegentliche literarische Übersetzungen (u.a. I. Brodskij, C. Norwid, W. Gombrowicz, T. Venclova).
Neuere Buchpublikationen: Verzweigungen. Zyklische und assoziative Kompositionsformen bei Adam Mickiewicz 1795-1855, Freiburg/Schweiz 1998 (polnische Ausgabe: Rozpierzchłe gałązki, Warszawa 2003); Poezja w fazie krytycznej i inne studia z literatury polskiej, Izabelin 2001[Sammlung von Aufsätzen zur polnischen Literatur von J. Kochanowski bis T. Różewicz]; zusammen mit Alessandro Martini (Hrsg.): Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bern 2005
[1] Druckfassung eines 2004 zur 200-Jahrfeier der Staatsuniversität Kazan’ gehaltenen Vortrags. Aus Puškins Podražanija Koranu wird zitiert nach PUŠKIN, A.S.: Polnoe sobranie sočinenij v desjati tomach. Moskva-Leningrad 1950, S. 204 – 211, aus Goethes West-östlichem Divan (1819) nach GOETHE, J.W.: Westöstlicher Divan. Teil 1. Herausgegeben von H. Birus. Frankfurt am Main 1994, S. 7 – 299. Aus Mickiewiczs Sonety wird zitiert nach MICKIEWICZ, A.: Dzieła. Tom 1. Wiersze. Warszawa 1993, S. 209 – 259. Mickiewicz und Puškin konnten zum Zeitpunkt des Abschlusses ihrer Manuskripte nur Goethes Divan in der Fassung von 1819 kennen.
[2] S. den Band Fieguth, R. und Martini, A. (Hrsg.): Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts. Bern 2005
[3] V. Ivanovs Großzyklus Kormčie zvezdy, 1903, ist in seinem gesamten Kompositionsstil und in seiner Zusammenführung von antiker, slavischer und modern europäischer Kulturwelt unter vielem anderen auch als Reaktion auf den Divan zu betrachten. Zwar geht Wachtel, M. A. : Goethe and Novalis in the life and work of Vyacheslav Ivanov. Cambridge Mass. 1990 (Ann Arbor : University Microfilms International [reprod]) nicht darauf ein, aber Ivanovs Kenntnis des Zyklus ist durch eine kurze Bemerkung in ivanov, V. : Gete na rubeže dvuch vekov [1912]. In: Ivanov, V.: Rodnoe i vselenskoe. Moskva 1994, S. 256 bezeugt. Auch bei Afanasij Fet lassen sich deutliche Reaktionen auf Goethes Divan aufspüren.
[4] Mickiewicz, op. cit., S. 233 zitiert „Wer den Dichter will verstehen, Muss in Dichters Lande gehen“, mit der irrtümlichen Quellenangabe „Goethe, im Chuld Nameh“. Chuld Nameh – Das Buch des Paradieses, ist der letzte Abschnitt des West-östlichen Divan. In der Ausgabe von 1819 geht es gleitend über in den ausführlichen Prosaanhang „Besserem Verständnis“, welcher durch ein vierzeiliges Gedicht eingeleitet wird, aus dem Mickiewicz zitiert.
[5] PUŠKIN, op. cit., S. 210 (Anm. 1 des Dichters)
[6] Tomaševskij, B.. Puškin. T. I- II. Moskva 1990; Darvin, M., Tjupa, V.: Ciklizacija v tvorčestve Puškina. Novosibirsk 2001. Letztere erwähnen, sehr zu Recht, Byrons Hebrew Melodies (S.74).
[7] rozov, V.A. : Puškin i Gete. Kiev 1908, S. 109 – 112; L. Keefer: Pushkin and Goethe. In: Modern Language Notes (Baltimore) 56 (1941), S. 24 – 34 (http://links.jstor.org/sici?sici=0149-6611%28194101%2956%3A1%3C24%3APAG%3E2.0.CO%3B2-H); Braginskij, I.S., Nachwort zu J.W. Goethe: Zapadno-vostočnyj divan. Izd. podgot. I. S. Braginskij, A.V. Michajlov. Moskva : Nauka, 1988 (Literaturnye pamjatniki), S. 572 – 599; Danilevskij, R. Ju.: Puškin i Gete. Sankt-Peterburg: Nauka 1999, 62 – 71. Weniger Bedenken
[8] Die Podražanija Koranu behandelt Rozov aber in diesem Zusammenhang nicht.
[9] Branginskij, op. cit.
[10] Byron seinerseits hatte dieses Poem mit einer Paraphrase von Goethes berühmtem Mignon-Lied „Kennst du das Land…“ eingeleitet.
[11] Die reichhaltige französische, englische und deutsche Orientrezeption des 18. Jahrhunderts, und auch die Geschichte der wachsenden europäischen Wahrnehmung des Dichters Hafis vor Hammers Übersetzung und vor Goethes Divan kann hier nicht vertieft werden. Über das russische Interesse am Divan in den 1820er Jahren und die Übersetzungen russischer Dichter dieser Zeit aus Goethes Zyklus s. žirmunskij, V.M. : Gete v russkoj literature. Leningrad 1981, S. 100 – 102. Puškins Beziehungen zu Goethe und insbesondere seiner Lyrik sieht er skeptisch und im Wesentlichen durch Byron vermittelt (S. 105 – 113).
[12] Die Stimme des Dichters wird in dieser zyklischen Dichtung auf kunstreiche Weise mit der Stimme Gottes (Allahs) in Verbindung gesetzt, der für den Propheten spricht; vgl. dazu Darvin und tjupa, op.cit., S. 73-84.
[13] Zur “Mehrstimmigkeit” der Nachahmungen s. bei Darvin und tjupa, op.cit., S. 77 ff.
[14] S. dazu Anm. 1 in PuŠkin, op. cit., S. 210
[15] Anm. 1 in PuŠkin, op. cit., S. 210 beginnt mit einem offen korankritischen Paradox. Als heimliches Distanzsignal des Verstexts kann bereits der Beginn des Zyklus aufgefasst werden, der sich mit offenbar beabsichtigter Missverständlichkeit zunächst als Anrede an die Frau lesen lässt, der die Nachahmungen mit der Formulierung „Posvjaščeno P.A. Osipovoj“ gewidmet sind:
Клянусь четой и нечетой, / Клянусь мечом и правой битвой, / Клянуся утренней звездой, / Клянусь вечернею молитвой: // Нет, не покинул я тебя (I, vv. 1 – 5).
[16] S. Goethes Prosaanhang « Besserem Verständnis » , Kap. „Einleitung“, goethe, op. cit., S. 138 f.
[17] Darin sehe ich einen der Bedeutungsaspekte des kurzen « Buches des Timur », das Goethe sicherlich nicht von ungefähr ins Zentrum seines Zyklus versetzt hat.
[18] Heine, H. 1978. Säkularausgabe. Werke. Briefwechsel. Lebenszeugnisse. Band 16, De l’Allemagne, Berlin und Paris, S. 140 – 141
[19] Gautier, T.. Émaux et Camées. Edition critique, publiée par Jacques Madeleine. Paris 1927, S. 3 – „Préface“ zu Émaux et Camées (1852). Die zitierten Zeilen bedeuten übrigens nicht zuletzt wohl auch eine implizite Distanzierung von dem allzeit bewegten und allzeit engagierten Victor Hugo.
[20] Barbey d’Aurevilly, J.-A. : Les poètes. Genève 1968, S. 1193, zitiert nach Sudan, Ph. : Contribution à une histoire et à une rhétorique des cycles poétiques au XIXe siècles. Du Romantisme au Parnasse (thèse de doctorat, Université de Fribourg 1997), S. 268