Rolf Fieguth und Alessandro Martini (Hrsg.), Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, Bern 2005, 31-52
Rolf Fieguth
Goethes Prosa-Anhang zum “West-östlichen Divan”, als Theorie des Gedichtzyklus gelesen[1]
Goethes Prosa-Anhang zur Erstausgabe des “West-östlichen Divans” (1819) trug den Titel “Besserem Verständniß” ; er ist besser bekannt unter dem neuen Titel “Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans” (1827). Er wollte in erster Linie eine orientalische Kulturwelt erklären, die im “Divan” selbst als Material poetischer Formung verwendet wird. Im vorliegenden Beitrag wird er als Kommentar zur eigenartigen Komposition des “Divan”, und damit auch als Formulierung eines “Gattungsbewusstseins” vom Gedichtzyklus, anders gesagt einer Art Zyklustheoriegelesen. Gewiss finden wir darin keine Aufstellung von Typen möglicher Beziehungen zwischen den Gliedgedichten eines Zyklus, nichts von “Subzyklen” oder “zyklischen Strängen”, keine Vorschriften zur Herstellung von Sonderbeziehungen zwischen Anfang, Mitte und Ende eines Zyklus oder zur Verschränkung von Kompositionsidee und “neuem” Sinngehalt. Immerhin aber bezeichnet Goethe in “Besserem Verständniß” seine “vorstehenden Gedichte” als “Büchlein” (Goethe 1994, 139). Es mag nun etwas verwegen erscheinen, Goethes Bemerkung über das “Buch aller Bücher” heimlich auch auf die “Bücher” dieses “Büchleins” zu beziehen: ’Buch für Buch’ fordere die Bibel uns auf, uns ’wie an einer zweiten Welt [zu] versuchen, uns daran [zu] verirren, auf[zu]klären und aus[zu]bilden’ (Goethe 1994, 141)[2]. Aber das ist überhaupt charakteristisch für die zumeist indirekte Art, in der hier der “Divan” in seiner kompositorischen Eigenart angesprochen wird, ausgenommen der Abschnitt “Zukünftiger Divan”, der in dieser Beziehung aber nicht einmal zu den ergiebigsten gehört. In den folgenden Abschnitten werden wir nacheinander die Bemerkungen des Prosa-Anhangs über die Sprache, über die Gattungsmischung und insbesondere über die Deformation oder Überformung des Narrativen oder Epischen kommentieren, die alle (auch) auf den “Divan” und weiter auf die Theorie des Gedichtzyklus angewendet werden können, da sie ja sämtlich der Erklärung und Begründung der Eigenarten des “Divan” dienen sollen. “Ich entschließe mich daher, zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen”, heißt es im Prosa-Anhang. Goethe vergleicht seinen Kommentar zum “Divan” mit den Reklamemaßnahmen des Handlungsreisenden, der “seine Waare gefällig auslegt” (“auslegt”!) und sie “auf mancherley Weise angenehm zu machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lobpreisende Redensarten wird man ihm nicht verargen” (Goethe 1994, 159)[3]. Dem ist hinzuzufügen, dass der Prosa-Anhang nur sehr indirekt und andeutungsweise ein Phänomen bespricht, das wir die “Konstitution des zyklischen Subjekts” nennen und das sich im “Divan” in besonders prägnanter Weise präsentiert: als zeitweilige poetische Aufhebung der Grenze zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dem Selbst und den anderen poetischen Subjekten. Das wohl bemerkenswerteste Motiv in diesem speziellen Bereich, aber auch in der Gesamtauffassung von der Komposition des “Divan”, ist dasjenige der Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit dieses “Büchleins”. Mit einem Abschnitt über das zyklische Subjekt und die Unfertigkeit des “Divan” werden wir unsere Darstellung abschließen.
Die vorgeschlagene Lektüre des Prosa-Anhangs als Kommentar zur Komposition des “Divan” bedarf keiner besonderen weiteren Rechtfertigung, wohl aber scheint eine solche erforderlich, wenn wir den Prosa-Anhang damit auch auf die Theorie des Gedichtzyklus gemünzt sehen wollen. Dies setzt voraus, dass wir den “Divan” selbst zur vielfältigen Familie der Kompositionsformen des Gedichtzyklus einschließlich ihrer poesiegeschichtlichen Entwicklungstradition in sinnvolle Beziehung setzen können, und diese Voraussetzung wird hier tatsächlich gemacht. Ein konkretes literarisches Werk bzw. ein konkretes Ensemble von Texten “ist” in keinerlei ontologischem Sinn ein “lyrisches Gedicht” bzw. ein “Gedichtzyklus”, sondern es setzt sich mit dem betreffenden, “Gedicht” bzw. “Gedichtzyklus” genannten literarischen Normen-, Regel- und Konventionenkomplex jeweils kreativ und mehr oder weniger eigenwillig auseinander. Wenn in der Germanistik bis heute harsche Einwände gegen die Behauptung erhoben werden, der “Divan” sei ein Gedichtzyklus, so liegt das nicht zuletzt am untergründigen ontologischen Missverständnis bei der Formulierung und Anwendung von Gattungs- oder verwandten Kategorien. Am temperamentvollsten hat sich neuerdings Hendrik Birus in polemischer Wendung gegen die “Divan”-Interpretationen von Max Kommerell, Burdach, H.-E. Hass u.a. und gegen die Zyklustheorien von Carl Spitteler, Joachim Müller und Claus-Michael Ort zu Wort gemeldet (Birus 1994, 1, 737 f.). Birus kann nach eigenem Bekunden die von ihm im “Divan” gesehene “heitere Entgrenzung am Schluss des Buchs des Paradieses”, die Freiheit des “Divan” von “allem Endgültig-Schweren” nicht mit dem Begriff des Zyklus im germanistischen Sinne in Einklang bringen (Birus 1994, 1, 741). Allerdings sieht natürlich auch Birus den “von Anfang an intendierten – und nicht etwa erst nachträglich hergestellten – Ensemblecharakter”, durch den sich der “Divan” “deutlich von Goethes übrigen lyrischen Sammlungen” unterscheide (Birus 1994, 1, 738). Er setzt aber schließlich den Begriff “Sammlung von Sammlungen” gegen den Begriff des Zyklus (ibidem, 741), der ihm zu statisch, zu organizistisch und überhaupt viel zu gravitätisch für den “Divan” erscheint, an dem er das Launige, Übermütige, fast durchweg Ironische, zuweilen Unernste und Schwebende (neben allem möglichen Tiefsinn) überzeugend herausstellt. Vielleicht sollten wir ’Anmut nicht noch Mühe’ (nach Brecht) sparen, die Zyklustheorie, und die wissenschaftliche Art des Schreibens über Gedichtzyklen einmal in einen entsprechenden Schwebezustand zu versetzen. Edith Ihekweazu 1971 sieht dies wohl, wenn sie ihre beachtliche, aber sehr angestrengte Studie zur Struktur des “Divan” als Zyklus mit der bekannten schönen Bemerkung Heines abschließt: “den berauschendsten Lebensgenuß hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, daß man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war”.
Es ist, meine ich, nicht abwegig, der Hypothese nachzugehen, Goethe habe durch die Spezifika der Komposition seines “Divan” in der u.a. von Petrarca herrührenden “Gattungs”-Tradition der geordneten Gedichtsammlung (die wir eben in Deutschland etwa seit Heinrich Heine ein wenig large als “Zyklus” bezeichnen), mit der er sich gerade erst in den “Sonetten” auseinandergesetzt hatte, etwas Neues schaffen und einbringen, ja sogar das europäische Gattungsgedächtnis des Gedichtzyklus durch die Eingemeindung der alles mit allem frei verbindenden orientalischen Poesie entscheidend erweitern wollen. Dass er mit alledem vielfach der romantischen Poesie aus gemessener Entfernung zugewinkt hat, sei auch noch vermerkt.
Ein Faktum ist für die Frage nach dem Verhältnis des “Divan” zur Kompositionsform des Zyklus von Belang: die wechselhaften kompositorischen Verdichtungszustände des “Divan” im Verlauf seiner Entstehung. Im Zeitpunkt einer “denkbar chaotischen Vorstufe” (Birus 1994, 1, 739) formuliert Goethe seinen bekannten Brief an Zelter, der gerne als Beweis für den Zykluscharakter des “Divan” herangezogen wird:
Ehe ich abschließe, sehe ich meinen “Divan” nochmals durch und finde noch eine zweite Ursache, warum ich dir daraus kein Gedicht senden kann, welches jedoch zum Lobe der Sammlung gereicht. Jedes einzelne Glied nämlich ist so durchdrungen von dem Sinn des Ganzen, so innig orientalisch, bezieht sich auf Sitten, Gebräuche, Religion und muss von einem vorhergehenden Gedicht erst exponiert sein, wenn es auf Einbildungskraft oder Gefühl wirken soll. Ich habe selbst noch nicht gewusst, welches wunderliche Ganze ich daraus vorbereitet (Brief an Zelter, Ende Mai 1815, zitiert nach Lohner 1971, 21).
Im “Morgenblatt für gebildete Stände” (24.2.1816) kündigt Goethe seinen “Divan” dann in anscheinend ganz zyklusgerechter Weise an. Er spricht hier vom Dichter als dem Reisenden, der vor der Gegenwart in den Orient flüchtet: “Throne bersten, Reiche zittern, / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten”, die Bücher sind gewissermaßen Stationen dieser geistigen Reise, die im “Buch des Paradieses” ihren Abschluss findet: dieses enthalte “sowohl die Sonderbarkeiten des mahometanischen Paradieses als auch die höheren Züge gläubigen Frommsinns, welche sich auf diese zugesagte künftige heitere Glückseligkeit beziehen. […] Es schließt sich mit dem Abschiede des Dichters an sein Volk, und der Divan selbst ist geschlossen”. Anfang und Ende sind in dieser Konzeption also klar markiert, ebenso die Mitte, das “Buch des Timur”, welches “ungeheure Weltbegebenheiten wie in einem Spiegel auf[fasst]” (Goethe 1977, 764 f.). “Ursprünglich je 6 Bücher” sollten “um die Mittelachse des Buchs Timur gruppiert sein, wobei diese Bücher ihrerseits in inhaltlicher oder formaler Weise Zweiergruppen bildeten” (Zusammenfassung von Birus 1994, 1, 740). Bei dieser ausdrücklich “geschlossenen” und spiegelsymmetrischen Kompositionsidee ist es indessen bekanntlich nicht geblieben. Weil das geplante “Buch der Freunde” wegfiel und das “Buch Timur”, mit das fragmentarischste des “Divan”, seine ursprüngliche Mittelstellung einbüßt, ergibt sich laut Birus “ein lockeres Gefüge von Dreiergruppen” (Birus 1994, 1, 740) – wie zwingend diese Dreiergruppen nun wieder sind, bleibe hier besser unerörtert. Jedenfalls ist es nicht zwingend, diese Umdisponierung etwa als Goethes Abkehr von der Form des Gedichtzyklus zu verstehen; es wird vielmehr vorgeschlagen, sie als kompositionskünstlerische Entscheidung gegen allzu viel Symmetrie und Perfektion und damit für eine subtilere Realisierung dieser Kompositionsform zu sehen. Zu viel Symmetrie und Perfektion ist in Gedichtzyklen noch nie ein poetischer Vorzug gewesen; jeder anspruchsvolle Verfasser von Gedichtzyklen deformiert vielmehr in der einen oder anderen Weise die kompositorische Symmetrie-Idee, die sich im Verlauf des Schaffensprozesses einstellt. Trotz Goethes Entscheidung gegen Spiegelsymmetrie und Geschlossenheit der Form bleibt ja auch für Zyklusskeptiker deutlich, dass der “Divan” keine zufällige Ansammlung von Verstexten darstellt, sondern ein überlegtes kompositorisches Arrangement. Dieses wird übrigens in der Zweitfassung von 1827 noch weiter verdichtet, wenn Goethe das “Buch des Paradieses” durch Hinzufügungen so umgestaltet, dass es nicht nur eine Parallele zum Paradiesesmotiv am Schluss des Initialgedichts “Hegire” (“Buch des Sängers” ) schafft, sondern auch eine “sublimierte Wiederaufnahme” von “Buch Suleika” bildet, das wohl in jeder Phase der Entstehungsgeschichte des “Divan” unabhängig von seiner jeweiligen Entfernung oder Nähe zur topologischen Zyklusmitte schon immer lyrisches Herzstück der Dichtung war und blieb (vgl. Birus 1994, 2, 1378).
Mancherlei (ihrer Natur nach freilich immer ambivalente) “Signale” deuten die Nähe des “Divan” zur Kompositionsform des Zyklus an: die Ausstattung des Ganzen als zusammenhängender Band mit zahlreichen typographischen Spezialitäten, die Einteilung in “Bücher” mit eigenen Titeln und nicht zuletzt auch die Hinzufügung eines – in diesem Fall übermäßig langen – Prosakommentars. Zu solchen Signalen gehören weiterhin “metazyklische” Gedichtpassagen, wie z.B. die folgende aus dem “Buch Hafis”:
Unbegrenzt
Daß du nicht enden kannst das macht dich groß,
Und daß du nie beginnst das ist dein Loos.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immer fort dasselbe,
Und was die Mitte bringt ist offenbar,
Das was zu Ende bleibt und Anfangs war.
…
(Goethe 1994, 31)
Vor dem Hintergrund des “Divan” selbst gelesen, bietet der Prosa-Anhang dem Zyklustheoretiker und Zyklushistoriker also nicht wenig Interessantes und Aufschlussreiches. Man darf sagen, dass im 19. Jahrhundert kaum ein anderer Autor sich derart ausführlich auch ’theoretisch’ zu seinem Gedichtzyklus oder zu seiner Gedichtsammlung geäußert hat[4].
Die Sprache, die im Gedichtzyklus alles verbindet.
Der Prosa-Anhang enthält eine schöne Bemerkung, die sich unmittelbar auf die Funktion der poetischen Sprache im Gedichtzyklus beziehen lässt. In dem Abschnitt “Orientalischer Poesie Ur-Elemente” heißt es:
In der Arabischen Sprache wird man wenig Stamm- und Wurzelworte finden, die, wo nicht unmittelbar, doch mittelst geringer An- und Umbildung sich nicht auf Kameel, Pferd und Schaaf bezögen. […] nun ist der Araber mit Kameel und Pferd so innig verwandt als Leib mit Seele, ihm kann nichts begegnen, was nicht auch diese Geschöpfe zugleich ergriffe und ihr Wesen und Wirken mit dem seinigen lebendig verbände. Denkt man zu den obengenannten noch andere Haus- und wilde Thiere hinzu, die dem frey umherziehenden Beduinen oft genug vors Auge kommen, so wird man auch diese in allen Lebensbeziehungen antreffen. Schreitet man nun so fort und beachtet alles übrige Sichtbare: Berg und Wüste, Felsen und Ebene, Bäume, Kräuter, Blumen, Fluß und Meer und das vielgestirnte Firmament, so findet man, daß dem Orientalen bei alles alles einfällt, so daß er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes aus einander herzuleiten kein Bedenken trägt. Hier sieht man, dass die Sprache schon an und für sich productiv ist und zwar in so fern sie dem Gedanken entgegen kommt, rednerisch, in so fern sie der Einbildungkraft zusagt, poetisch. (Goethe 1994, 196 f.)
Dies ist zwar zunächst über das Arabische gesagt, mündet im letzten Satz aber in eine generelle Feststellung zur “rednerischen” bzw. “poetischen” Produktivität der Sprache überhaupt. Dies betrifft die Funktion der Sprache in der Poesie, konkret im “Divan”, aber auch im Gedichtzyklus generell, wo die oft maximal gedehnte und vervielfältigte Verweisungskraft der einzelnen sprachlichen Einheit mit der Hybridisierung aller sinnlichen und geistigen Erfahrungs- und Imaginationsbereiche Hand in Hand geht. Hier besteht ein enger Zusammenhang mit dem ’Zusammenreimen des Ungereimten’, das Goethe an der orientalischen Poesie mehr entzückt als befremdet, und das für manche paradoxe Kontrastbeziehung zwischen Themen und Gedichten im “Divan” gelten kann:
[…] ein eigentlicher Lebemann, der frey und praktisch athmet, hat kein ästhetisches Gefühl und keinen Geschmack, ihm genügt Realität im Handlen, Genießen, Betrachten, eben so wie im Dichten; und wenn der Orientale, seltsame Wirkung hervorzubringen, das Ungereimte zusammenreimt, so soll der Deutsche, dem dergleichen wohl auch begegnet, dazu nicht scheel sehen.
Die Verwirrung, die durch solche Productionen in der Einbildungskraft entsteht, ist derjenigen zu vergleichen, wenn wir durch einen orientalischen Bazar, durch eine europäische Messe gehen. Nicht immer sind die kostbarsten und niedrigsten Waaren im Raume weit gesondert, sie vermischen sich unsern Augen, und oft gewahren wir auch die Fässer, Kisten, Säcke, worin sie transportiert worden. Wie auf einem Obst- und Gemüsemarkt sehen wir nicht allein Kräuter, Wurzeln und Früchte, sondern auch hier und dort allerley Arten Abwürflinge, Schalen und Strunke.
Ferner kostets den orientalischen Dichter nichts uns von der Erde in den Himmel zu erheben und von da wieder herunter zu stürzen oder umgekehrt. Dem Aas eines faulenden Hundes versteht Nisami eine sittliche Betrachtung abzulocken, die uns in Erstaunen setzt und erbaut. (Goethe 1994, 178 f.)
Poetische (gattungsbezogene) Beziehungen zwischen den Gedichten.
Nicht-zeitliche, nicht-thematische Beziehungen zwischen den Gliedtexten eines Zyklus nennen wir in unserer Terminologie hier etwas willkürlich “poetische Beziehungen”[5]. Sie beruhen auf den gattungsspezifischen Textmerkmalen der Gliedgedichte[6]. Dies ist von besonderer Bedeutung bei Zyklen, die Texte verschiedener Gattungszugehörigkeit miteinander in Verbindung setzen, wie z.B. der “Divan”. Hierzu finden wir in “Besserem Verständniß” eine Fülle von Gedanken und Ideen.
In dem bekannten Abschnitt “Naturformen der Dichtung” statuiert Goethe:
Es giebt nur drey echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drey Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beysammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerthesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drey verbunden und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. So lange der Chor die Hauptperson spielt zeigt sich Lyrik oben an, wie der Chor mehr Zuschauer wird treten die anderen hervor, und zuletzt wo die Handlung sich persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch, und den fünften Act, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen. […]
So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Unendliche mannigfaltig; und deßhalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wornach man sie neben oder nach einander aufstellen könnte. Man wird sich aber einigermaßen dadurch helfen, daß man die drey Hauptelemente in einem Kreis gegen einander über stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beyspiele, die sich nach der einen oder nach der andern Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreyen erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist (Goethe 1994, 406 f.)
Diese Reflexion hat sicherlich vordergründig einen ganz allgemeinen Charakter, und in dieser Eigenschaft ist sie zum klassischen Zitat der Goetheschen Gattungslehre überhaupt geworden. Aber im Zusammenhang mit der eigentümlichen Komposition des “Divan” gelesen bringt sie noch eine weitere Dimension ins Blickfeld. Indirekt wird hier ein Organisations- und Kompositionsprinzip des “Divan”, und damit auch des Gedichtzyklus überhaupt formuliert: das Einander-im-Kreis-Gegenüberstellen von Texten verschiedener Gattungseigenschaften. In dieser “Versammlung” (Grundbedeutung des Wortes “Divan”) verschiedener Gattungseigenschaften tritt der Gedanke des In-Beziehung-Setzens und Mischens der Gattungen deutlich zu Tage, genau so deutlich wie der Gedanke der Sonderung der “reinen” Gattungsformen (die Analogie zum Kreis der Grundfarben und ihrer Übergänge liegt hier auf der Hand). Tatsächlich praktiziert ja der “Divan” in seiner Komposition in besonderer Weise die Gattungsmischung. Keine reine Stimmungslyrik wird hier praktiziert, sondern eine ständig wechselnde Mischung aus lyrischer Poesie, philosophischer und moralischer, auch poetologischer Reflexion und auch durchaus didaktischen Momenten im Medium der Gnome, des Epigramms, des Spruchs, der Parabel. Alle hier vertretenen Gedichtgattungen sind gleichsam infiziert von der Gattungskomponente der Epigrammatik, Spruchdichtung, Gedankenlyrik – und genau dieses Element war es ja wohl, das der Rezeption des “Divan” in den ersten Jahren und sogar Jahrzehnten im Wege stand: sein Widerstand gegen das zeittypische Ideal einer reinen Stimmungslyrik. Ferner finden wir – neben epischen, die wir im nächsten Abschnitt behandeln – auch unverkennbare “dramatische” Elemente im “Divan” – wobei in jener Zeit jede dialogische Passage und jedes dargestellte Rollensprechen als Hinweis auf die dramatische Gattung verstanden wurde[7].
Goethe äußert sich auffallend kraftvoll gerade auch zu dieser Gattung in seinem Prosa-Anhang, wie wir schon gesehen haben. In einem “Nachtrag” kommt er noch einmal ausdrücklich auf diese Gattung zu sprechen:
Höchst merkwürdig ist daß die persische Poesie kein Drama hat. […] Die Nation ist zur Ruhe geneigt, sie läßt sich gern etwas vorerzählen, daher die Unzahl Mährchen und die gränzenlosen Gedichte. So ist auch sonst das orientalische Leben selbst nicht gesprächig; der Despotismus befördert keine Wechselreden und wir finden daß eine jede Einwendung gegen Willen und Befehl der Herrschers allenfalls nur in Citaten des Korans und bekannter Dichterstellen hervortritt. […] (Goethe 1994, 208)
Betrachten wir nun die Rolle der verschiedenen Gattungselemente in der Komposition des “Divan”. Die Bücher des “Divan” sind im allgemeinen entweder sehr locker gefügt – getreu dem angeblich orientalischen Ideal des fließenden Wassers, das der griechischen Steinskulptur gegenübergestellt wird:
Lied und Gebilde
Mag der Grieche seinen Thon
Zu gestalten drücken,
An der eignen Hände Sohn
Steigern sein Entzücken;
Aber uns ist wonnereich
In den Euphrat greifen,
Und im flüßgen Element
Hin und wieder schweifen.
Löscht ich so der Seele Brand
Lied es wird erschallen;
Schöpft des Dichters reine Hand
Wasser wird sich ballen.
(“Buch des Sängers”, Goethe 1994, 21)
Es ist aber unverkennbar, dass Gattungsgleichheit und Gattungsverschiedenheit der Texte als Kompositionsmittel verwendet werden. Dies lässt sich schon im Bereich der Kleingruppen (“Subzyklen”) beobachten. Ein Beispiel ist die kleine Gruppe “Talismane” im “Buch des Sängers”. Ihre ersten zwei Textteile (strophenartige Gebilde à 4 Zeilen) stehen in der Erstausgabe (Goethe 1819, 9) den zwei Textteilen (gleichfalls jeweils Vierzeiler, aber rhythmisch verschieden) von “Freysinn” (Goethe 1819, 8) gegenüber und treten mit diesen in deutliche thematische Beziehungen[8]. Die Beziehung der “Talismane” zum folgenden Strophengedicht “Vier Gnaden” ist nicht mehr durch typographische Symmetrien gestützt, sondern u.a. durch Zahlenverhältnisse. Die “Talismane” bestehen aus fünf spruchartigen Gebeten an Gott in einem gleichsam überreligiösen Geist; ihnen folgt in enger thematischer Anlehnung das mit der Gruppe “Talismane” gleich lange Gedicht “Vier Gnaden”, das fünf Strophen enthält. Ein anderes offenkundiges Beispiel ist die Finalgruppe des “Buchs der Betrachtungen” (“Ferdusi spricht” (3 Sprüche à 2, 2 und 4 Zeilen); “Dschelâl-eddîn Rumi spricht” (4 Zeilen), “Suleika spricht” (4 Zeilen)). Das “Buch Suleika” kennt eine kompositorische Rhythmisierung durch die Abwechslung zwischen dialogischen, also “dramatischen” Passagen und längeren “monologischen” Gedichtserien, die bald Hatem, bald Suleika zugeschrieben sind. Im “Morgenblatt” nennt Goethe das “Buch Suleika” gar ein “Duodrama” (Goethe 1977, 765).
Trotz dieser offenkundigen Gattungsmischung beruht das Profil einiger Bücher doch auf der Dominanz bestimmter Gattungscharaktere: in “Buch des Sängers” und “Buch Hafis” kommen lyrische, dramatische, epische, und deskriptive Komponenten zusammen; im “Buch der Liebe” treten Rätsel, Spruch und Epigramm dazu – letzteres zweimal in dialogischer, also “dramatischer” Gestalt (“Genügsam”; “Ergebung”). Im “Buch der Betrachtungen” überwiegt weithin das epigrammatische oder auch gnomische Element, es schließt dabei aber mit einem dramatischen Akzent ab, denn es treten in quasi-szenischer Manier drei Sprecher auf: “Ferdusi spricht”, “Dschelâl-Eddîn Rumi spricht”, “Suleika spricht” (Hervorhebungen – R.F.) – und zwar sprechen sie alle Spruchdichtung. Das “Buch der Sprüche” knüpft an die hier gegebene Dominanz des Epigrammatischen an, nachdem sie im dazwischen stehenden “Buch des Unmuts” unterbrochen war, wo längere satirische Verstexte den Ton angaben. Das “Buch Timur” ist verblüffend paradox aus zwei nicht nur thematisch, sondern auch im Gattungsbereich völlig gegensätzlichen Gedichten gebaut: das “monumental” angelegte epische Fragment “Der Winter und Timur” (Der Winter droht dem Flammen sengenden Tyrannen Timur Todeskälte an) steht in schneidendem Kontrast zum Liebesgedicht “An Suleika” mit seiner Preisung einer “Welt von Lebenstrieben”. Das “Buch Suleika” und das darauf folgende “Schenkenbuch” kennt außer lyrisch-liedhaften auch narrative und dramatische Elemente. Ihnen schließt sich das erneut epigrammatisch getönte “Buch der Parabeln” an, zu dem das wie “Buch Timur” nur aus zwei Texten bestehende “Buch des Parsen” einen gattungsmäßigen Kontrast bildet[9], indem es selbst wieder einen Kontrast präsentiert: einem langen theologischen, im Namen des Parsen gesprochenen Poem “Vermächtniß alt persischen Glaubens” (76 Zeilen) folgt ein (im selben Namen gesprochenes?) kurzes Lob des sonnengereiften Weines (12 Zeilen); den Abschluss bildet das “Buch des Paradieses”, das in seiner Mischung aus heimlich dramatischen Elementen, Lyrik und Epigrammatik als höhere gattungsmäßige und thematische Synthese des Ganzen gedacht ist, wenn der Autor in “Besserem Verständniß” davon sagt “Scherz und Ernst verschlingen sich hier so lieblich in einander, und ein verklärtes Alltägliche verleiht uns Flügel zum Höheren und Höchsten zu gelangen” (Goethe 1994, 228).
Sehr vorsichtig wird in “Besserem Verständniß” unter der Überschrift “Verwahrung” noch eine Erweiterung der Synthese der Gattungen angedeutet: die Einbeziehung von “Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik”:
Poesie ist, rein und ächt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck (Goethe 1994, 205)
Man kann dies als Konsequenz aus der eigenartigen Insistenz des Prosa-Anhangs auf dem Dramatischen deuten – das Dramatische ist ja mit dem Szenischen, der Körperbewegung und der Mimik eng verbunden, und dafür finden sich im “Divan” selbst nicht wenige Belege, die hier nicht aufgeführt werden müssen. Man kann die Stelle aber auch als Andeutung der Idee der Synthese der Künste sehen, die zwar aus dem “Divan” selbst wohl nur mit einiger Mühe herauszulesen wäre, die aber am Ende des Jahrhunderts, in den komponierten Gedichtbüchern oder Zyklen von C.F. Meyer, Stefan George und Vjačeslav Ivanov deutlich zu Wort kommt, in allen drei Fällen in Kenntnis sowohl des “Divan” als auch des Prosa-Anhangs.
Nicht weniger deutlich als das dramatische kommt aber in “Besserem Verständniß” wie im “Divan” selbst eine eigenartig überformte Variation des Epischen zur Geltung, und davon soll im folgenden Abschnitt die Rede sein.
Zeitliche Beziehungen zwischen den Gedichten.
Es besteht unter den Zyklustheoretikern und Zyklusinterpreten keine Einigkeit über die Rolle des Narrativen und Diegetischen im Gedichtzyklus. Gerne wird hervorgehoben, bestimmte Zyklen hätten gar keine “Geschichte”, z.B. Petrarcas “Canzoniere”; andere erblicken eben gerade in der lyrisch angedeuteten fiktiv-autobiographischen “Geschichte” einer dreißigjährigen poetischen Arbeit am Gefühl der Liebe eine wichtige Komponente dieses Zyklus, die ja anschließend im Petrarkismus auch besonders ausgebaut wurde (vgl. Regn 1987). Ich selbst bin der Meinung, dass Zyklen zwar nicht immer, aber doch recht häufig auf eine eigentümliche Weise andeutungsweise Geschichten entwerfen oder projizieren. Diese müssen sich freilich prinzipiell und strukturell von Novellen-Geschichten oder Dramen-Geschichten unterscheiden und dürfen im gesamten Bedeutungsaufbau des Gedichtzyklus keine dominierende Rolle spielen.
In Goethes Zyklen wird genau in diesem Sinne meistens die “Geschichte” einer Liebe projiziert oder angedeutet, die zugleich auch die Geschichte einer poetischen Inspiration ist; zumindest ist dies der Fall in den “Römischen Elegien”, in den “Sonetten” und im “West-östlichen Divan”. Die zyklisch präsentierte “Liebesgeschichte” zwischen Hatem und Suleika hat deshalb viel Irritation ausgelöst, weil die besondere nicht-lineare Struktur ihrer zyklischen “Erzählung” nur als seltsam unmotivierte Abweichung von der gewöhnlichen narrativen Norm, nicht aber als lyrische oder zyklusspezifische Eigenart wahrgenommen wurde[10]. Die narrativen oder diegetischen Epiphänomene im Zyklus ergeben sich folgendermaßen: In aller Regel wird im Verlauf des Zyklus das zyklische Subjekt in einem nicht-linearen Wandlungsprozess gezeigt, der sich in imaginären Raumgestalten und in imaginären Zeitansichten zuträgt (wobei Räumliches und Zeitliches vielfach hybridisiert sind); dies erzeugt mit Notwendigkeit diegetische Effekte, Phänomene und Epiphänomene, die zu sehr wirksamen Bindemitteln zwischen einigen Gedichten eines Zyklus werden können; diese werden allerdings immer wieder von unzeitlichen, assoziativen Verklammerungen zwischen den Gliedgedichten überformt.
In “Besserem Verständniß” hat Goethe sich ganz besonders dieser lyrisch überformten Version des Epischen zugewendet, die er erkennbar für ein besonderes Merkmal der orientalischen Poesie hielt, die für ihn aber auch von aktuellem Interesse sein musste angesichts der Kompositionsprobleme des eigenen “Divan” und die uns in hohem Maß im Zusammenhang mit der allgemeineren Theorie des Gedichtzyklus interessiert.
In dem Abschnitt “Araber” teilt Goethe in deutscher Übersetzung ein Gedicht “aus Mahomets Zeit” mit[11], das er wie folgt kommentiert:
Die zwey ersten Strophen geben die klare Exposition, in der dritten und vierten spricht der Todte und legt seinen Verwandten die Last auf ihn zu rächen. Die fünfte und sechste schließt sich dem Sinn nach an die ersten, sie stehen lyrisch versetzt, die siebente bis dreyzehnte erhebt den Erschlagenen, daß man die Größe seines Verlustes empfinde. Die vierzehnte bis siebzehnte Strophe schildert die Expedition gegen die Feinde; die achtzehnte führt wieder rückwärts, die neunzehnte und zwanzigste könnte gleich nach den beiden ersten stehen. Die einundzwanzigste und zweiundzwanzigste könnten nach der siebzehnten Platz finden, sodann folgt Siegeslust und Genuß beim Gastmahl, den Schluß aber macht die furchtbare Freude, die erlegten Feinde, Hyänen und Geiern zum Raube, vor sich liegen zu sehen. Höchst merkwürdig erscheint uns bey diesem Gedicht, daß die reine Prosa der Handlung durch Transposition der einzelnen Ereignisse poetisch wird. (Goethe 1994, 147 f.)
Was Goethe hier beschäftigt, das ist die Überwindung narrativer Linearität durch “lyrisches Versetzen” der Strophen, durch die Aufhebung der Sukzessivität der Zeitphasen, durch die “Transposition der einzelnen Ereignisse” des angedeuteten Geschehens. Diese – auch für den Gedichtzyklus charakteristische – Deformation findet in diesem Fall im Raum einer einzigen, vielstrophigen Dichtung statt, die übrigens von Goethe selbst angeblich aus einer Prosa-Vorlage freirhythmisch bearbeitet worden ist (s. Birus 1994, 2, 1416).
Goethe sucht dasselbe Prinzip auch in anderen Werkzusammenhängen auf – z.B. in seiner Überschau verschiedener Werke des persischen Dichter Nisami:
Ein zarter, hochbegabter Geist, der, wenn Ferdusi die sämmtlichen Heldenüberlieferungen erschöpfte, nunmehr die lieblichsten Wechselwirkungen innigster Liebe zum Stoffe seiner Gedichte wählt. Medschun und Leila, Chosru und Schirin, Liebespaare, führt er vor; durch Ahnung, Geschick, Natur, Gewohnheit, Neigung, Leidenschaft für einander bestimmt, sich entschieden gewogen; dann aber durch Grille, Eigensinn, Zufall, Nöthigung und Zwang getrennt, ebenso wunderlich wieder zusammengeführt und am Ende doch wieder auf eine oder die andere Weise weggerrissen und geschieden. Aus diesen Stoffen und ihrer Behandlung erwächst die Erregung einer ideellen Sehnsucht. Befriedigung finden wir nirgends. Die Anmuth ist groß, die Mannigfaltigkeit unendlich. (Goethe 1994, 170 f.)[12]
Von ganz besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang aber im Abschnitt “Hebräer” die Passage über das “Hohe Lied Salomonis” , das von allen in “Besserem Verständniß” erwähnten Dichtungen dem Gedichtzyklus am nächsten kommt. Hier wird in sehr schönen dichterischen Worten die Eigenart der darin mehr verrätselten als entfalteten Liebesgeschichte darlegt und dabei justament das scheinbare Problem der nicht-linearen Reihenfolge der “Phasen” dieser “Geschichte” anvisiert:
Wir verweilen sodann einen Augenblick bey dem hohen Lied, als dem zartesten und unnachahmlichsten was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmuthiger Liebe zugekommen. Wir beklagen freylich daß uns die fragmentarisch durcheinander geworfenen, übereinander geschobenen Gedichte keinen vollen reinen Genuß gewähren, und doch sind wir entzückt uns in jene Zustände hinein zu ahnden, in welchen die Dichtenden gelebt. Durch und durch wehet eine milde Luft des lieblichsten Bezirks von Canaan; ländlich trauliche Verhältnisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau, etwas von städtischer Beschränkung, sodann aber ein königlicher Hof mit seinen Herrlichkeiten im Hintergrunde. Das Hauptthema jedoch bleibt glühende Neigung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, abstoßen, anziehen, unter mancherley höchst einfachen Zuständen.
Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinanderzureihen; aber gerade das Räthselhaft-Unauflösliche giebt den wenigen Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungsliebende Geister angelockt worden irgendeinen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit (Goethe 1994, 140 f.)[13].
“Liebliche Verwirrung, Anmut und Eigentümlichkeit” wird hier mit kaum verheimlichtem Bezug auf die eigene Dichtung des “Divan” gegen “verständigen Zusammenhang” in Stellung gebracht. Eine Handlung, ein “Hauptthema”, die glühende Neigung jugendlicher Herzen, wird prägnant genug aufgebaut, aber nicht in einklagbare narrative Form gegossen.
Und nach einer entsprechenden Bemerkung über das “in seinem Laconismus unschätzbar dargestellte Ereigniß” (Goethe 1994, 141, “Hebräer”) des Buches Ruth heißt es über die gesamte Bibel: “Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher darthun, daß es uns deßhalb gegeben sey, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen”. Ich habe schon eingangs dieser Studie vorgeschlagen, auch diese Bemerkung auf den “Divan” zu beziehen, von dem man füglich gleichfalls wird sagen dürfen, dass er uns “Buch für Buch” dartut, es sei dazu da, “damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen”. (Goethe 1994, 141)
Das zyklische Subjekt und die “Unfertigkeit” des “Divan”.
Nachdem wir nun anhand des Prosa-Anhangs die unzeitlichen und die zeitlichen Beziehungen zwischen den Gedichten eines Zyklus thematisiert haben, gelangen wir nun zum “zyklischen Subjekt”, in dessen Darstellung und Mit-Darstellung unzeitliche und zeitliche Komponenten gemischt sind. Das zyklische Subjekt ist dem Zyklusleser nicht vorgegeben, sondern es geht beständig aus dem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren hervor, namentlich der in den Gliedgedichten des Zyklus lyrisch projizierten ersten und zweiten Personen, lyrischen Sprecher und poetischen Subjekte. Mit dem zyklischen Subjekt ist eine metapoetische Dimension im Zyklus verbunden, denn wir schreiben beim Lesen des Zyklus im Prinzip alles, was sich hier an metapoetischer und poetologischer Reflexion vorfindet, dem zyklischen Subjekt zu. Jede Verbindung eines Gliedgedichts zu anderen, die das lesende Subjekt entdeckt (oder zu entdecken glaubt), ist im Ansatz bereits ein Hinausgehen über den konkreten lyrischen Text und die Einnahme eines metapoetischen Standpunkts; die betreffende Bewegung wird auf das zyklische Subjekt als ihren Urheber projiziert. Der Zyklus schafft sich auf diese Weise vermittels des in ihn eingeschriebenen virtuellen Lesers sein Subjekt, das sich zugleich als nie völlig abschließbares Ergebnis einer progressiven Bedeutungs- und Sinnakkumulation kundtut. Das metapoetische und autoreferentielle Moment wird aber in besonderer Weise durch die “fremden Subjekte” oder Mit-Dichter aktualisiert, die in manchen Gedichtzyklen vorkommen, namentlich auch im “Divan”. Das Zitieren fremder Dichter oder fremder Dichtungsweisen ist als Einführung eines metapoetischen Standpunkts zu werten und verweist besonders prägnant auf das zyklische Subjekt als das Subjekt der Zitations-Prozedur.
Die nichtlinearen, nicht-statischen Eigenschaften des zyklischen Subjekts sind unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass es durch die gattungsspezifische Darstellung nichtlinearer, zirkulärer oder hybrider Zeit- und Raumverhältnisse mit konstituiert wird. Die lyrischen Helden, fremden Sprecher, Subjekte, die angesprochenen Personen und auch das zyklische Subjekt selbst sind jedenfalls immer in irgendeiner Weise in poetischen Zeitansichten und Raumgestalten (Terminologie von Ingarden 1996) lokalisiert; der zirkuläre und hybride Charakter der Zeit- und Raumverhältnisse schlägt mit Notwendigkeit auf die Konstitution des zyklischen Subjekts zurück: es entspringt aus einer Verschränkung von mehreren Zeit- und Raumsphären, denen es zugleich angehört und zwischen denen es oszilliert. Häufig handelt es sich um eine Oszillation zwischen “realen” und mythologischen bzw. mythischen Zeit- und Raumsphären, deren Verschränkung durch intertextuelle Verweisungssysteme (incl. explizite Fremdzitate) verkompliziert wird.
Im “West-östlichen Divan” Goethes kommt in den verschiedensten Variationen die Figur des persischen Dichters Hafis als Bedichteter und Dichter vor; auch treten “der Dichter”, Ferdusi, Rumi, der Prophet, Hatem oder Suleika, “der Schenke” als Sprecher oder Sprecherin, Suleika sogar als Dichterin einzelner Gedichte in Erscheinung, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Beziehungen zwischen diesen Personen und Subjekten können als Kompositionsbeziehungen betrachtet werden. Besonders deutlich ist dies in der Abfolge zwischen dem “Buch Suleika” und dem “Schenkenbuch” – in letzterem tritt gleichsam an die Stelle der begehrenswerten jungen Suleika der hübsche junge Schenke; diesem Identitätstausch des geliebten Du geht die Andeutung eines Identitätstauschs des liebenden Ich mit der furchterregenden Gestalt des Timur im “Buch des Timur” voraus. Die Todeskälte des Winters bedroht hier den greisen mongolischen Gewaltherrscher (der immer auch als Allegorie auf Napoleon gelesen wird), aber doch wohl implizit auch den greisen Dichter selbst, der sich heimlich mit den Worten des Winters Kälte vorwirft: “Tödest du die Seele, kältest / Du den Luftkreis; meine Lüfte / Sind noch kälter als du seyn kannst” (Goethe 1994, 70)[14]. Paradoxer kann die dann anschließende Wandlung von der Eiseskälte des greisen Timur zum jugendlich froh gestimmten Sprecher des Erotikons “An Suleika” kaum ausfallen.
Im ganzen “Divan” geht es offensichtlich um die Übersteigung der engen Grenzen der “westlichen” Invidualität des poetischen Subjekts. Der Dichter erweitert sein individuelles Subjekt durch die empathische Zuwendung und geistige Vereinigung mit anderen Subjekten; diese Erweiterung des Subjekts ist aber zugleich dessen poetische Dekomposition. Er verwandelt sich in liebevoller – und zugleich ironisch-freier – Zuwendung die Welt der orientalischen Poesie, Geistigkeit und Frömmigkeit an, die sich ihm dadurch verändert und verändernd zukehrt. Diese Hinwendung zum Orient findet ihren bildlichen Ausdruck in der zentralen “Liebesgeschichte” zwischen Hatem und Suleika, die zugleich auch die “Geschichte” einer wechselseitigen poetischen Inspiration ist, wie schon im “Morgenblatt” explizit gesagt ist[15]. Diese vielfältige Übersteigung des eigenen westlich-individuellen Subjekts hat zugleich unverkennbar eine metaphysische Dimension, sie präfiguriert symbolisch die Öffnung des individuellen Subjekts für das “Höhere und Höchste”, von dem Goethe wörtlich selbst in seinem Kommentar zum abschließenden “Buch des Paradieses” spricht (Goethe 1994, 228)[16]. Bei alledem darf aber das Heiter-Ironische und Kecke, das erotisch angeregt Individuelle, das fast überall zum Ausdruck kommt, vor allem aber auch das häufig zutiefst Paradoxe, nicht unterschätzt werden. Gerade das “Buch Timur” deutet die Spannweite zwischen den Manifestationen des zyklischen Subjekts auf das Anschaulichste an.
Der Prosa-Anhang reflektiert diese Bewegungen im Allgemeinen weitaus “konservativer”. Zu Beginn des Kommentars wiederholt Goethe die “Reise-Geschichte”, die schon im “Morgenblatt” die strukturierende Rolle gespielt hatte:
Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der fremden Landesart mit Neigung bequemt, deren Sprachgebrauch sich anzueignen trachtet, Gesinnungen zu theilen, Sitten aufzunehmen versteht. […] Damit aber alles was der Reisende zurückbringt den Seinigen schneller behage, übernimmt er die Rolle eines Handelsmannes, der seine Waaren gefällig auslegt […]. (Goethe 1994, 138 f.)
Wir haben oben gesehen, dass Goethe in der letzten Schaffensphase am “Divan” eine kompositionskünstlerische Entscheidung gegen allzu viel Symmetrie und Perfektion getroffen hat; die durchaus kohärenzbildende Fiktion des Reisenden im Orient bleibt aber auch im “Divan”-Text der Druckfassung von 1819 erkennbar. Allerdings erklärt Goethe in “Besserem Verständniß” entgegen seiner früheren, geschlossenen und spiegelsymmetrischen Darstellung im “Morgenblatt”, sein Divan sei doch am Ende “nur für Theilnehmer, für Freunde, für Liebhaber des Verfassers geschrieben” und er betrachte “dessen gegenwärtige Ausgabe nur als unvollkommen” (Goethe 1994, 214 f.). Durch die Zwischenüberschrift “Künftiger Divan” und die Formulierung des Wunsches, dem “Büchlein […] die gebührende Vollständigkeit nach und nach zu verleihen”, erklärt Goethe seine Gedichtsammlung als unabgeschlossen und unfertig.
Dieser Bemerkung ist eine nicht unerhebliche Tragweite beizumessen. Zum einen wird die Komposition des “Divan” nicht mehr als geschlossene, sondern als für mancherlei Erweiterungen offene dargestellt, und das ist für die zyklustheoretische Komponente des Prosa-Anhangs sehr wichtig; der “Divan” ist also eine in unabgeschlossener Bewegung gehaltene Komposition (vgl. dazu Daniel Henseler 2003). Zum anderen wird das zyklische Subjekt sichtbar als die lebendige, noch immer sprudelnde Quelle dieser nicht abgeschlossenen Poesie – einer Abnabelung des Werks vom Dichter ist damit vorgebeugt.
In den Ideen zu etwaigen Erweiterungen der einzelnen Bücher fällt in unserem Zusammenhang zunächst das Motiv der “Theilnehmer, Freunde, Liebhaber des Verfassers” (Goethe 1994, 215) auf. Im Kommentar zum “Buch des Dichters” verbuchen wir die Aussicht auf ’erfreuliche Erweiterung der Anlage’, “wenn der Dichter nicht von sich und aus sich allein handeln wollte, vielmehr auch seinen Dank, Gönnern und Freunden zu Ehren, aussspräche, um die Lebenden mit freundlichem Wort fest zu halten, die Abgeschiedenen ehrenvoll wieder zurück zu rufen”, (Goethe 1994, 215). In all diesen Formulierungen und auch in denen zum “Buch Hafis” ist der Wunsch deutlich, die Grenzen der eigenen Individualität durch Transzendierung zu erfahren. In Bezug auf das “Buch der Liebe” und das “Buch der Betrachtungen” ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf ein “höheres geistiges Leben” bzw. die “Vorsehung und ihre unerforschlichen Rathschlüsse” (Goethe 1994, 219) von Interesse. Bezeichnenderweise greift aber der Kommentar zum “Buch Suleika” das noch im “Morgenblatt” explizite Motiv der Mit-Dichterschaft Suleikas nicht wieder auf, sondern legt größeren Wert auf die Metamorphose vom Dichterkönig (Goethe 1994, 220 f.) zum “genügsamen Derwisch”, zum “gründlichen Bettler”, der “eine Art von König seyn soll” (Goethe 1994, 224) – sowie auf das mit der Liebe Suleikas geschmückte Alter des Dichters. Ein anderes Metamorphose-Motiv verbindet im hier besprochenen Abschnitt die Kommentare zum “Buch Suleika” und zum “Schenken-Buch”: der belebende, verjüngende Geist, der aus Liebe und Sympathie erwächst. Nichts in “Besserem Verständniß” deutet darauf hin, dass die Individualität des zyklischen Subjekts etwa in einer spezifischen Anonymität der im gleichnamigen Buch versammelten “Parabeln” aufginge, oder im “Buch des Parsen”, oder im “Buch des Paradieses”.
Dagegen wird eine unausgesprochene Verbindung zwischen manchen der Bücher und den Stationen persischer Literaturgeschichte hergestellt, die in “Besserem Verständniß” in Einzelporträts abgehandelt worden waren: Das “Buch des Dichters” ist mit den Abschnitten “Dichterkönige” und “Firdusi. Starb 1030” verbunden, das “Buch Hafis” natürlich mit dem Abschnitt “Hafis. Stirbt 1389”, das “Buch der Liebe” sowie das “Buch der Betrachtungen” mit “Nisami. Stirbt 1180”, “Firdusi” und “Dschellaleddin Rumi. Stirbt 1262”; das “Buch des Unmuts” neuerlich mit “Dichterkönige” und “Firdusi”, das “Buch Suleika” und das “Schenkenbuch” neuerlich mit “Hafis” sowie mit “Saadi. Stirbt 1291, alt 102 Jahre”, usw. Mit einem Wort, der in “Besserem Verständniß” lineare Gang der persischen Literaturgeschichte erscheint heimlich in “poetischer Transposition” oder in “lyrischer Versetzung” in der Abfolge der Bücher des “Divan”. Das zyklische Subjekt des “Divan” partizipiert also nicht nur an “westlicher” Gegenwartszeit und “östlicher” imaginärer Zeit, sondern auch noch an einer Fragmentarisierung und Permutation von Elementen der persischen und weiteren orientalischen Literatur- und Kulturgeschichte, doch behält es seine wiedererkennbare Individualität allenthalben bei; dies findet seinen amüsanten Ausdruck in der Charakterisierung als Reisender, der sich “fremder Landesart mit Neigung bequemt”, den man aber entschuldigt, “wenn er immer noch an einem eigenen Accent, an einer unbezwinglichen Unbiegsamkeit seiner Landsmannschaft als Fremdling kenntlich bleibt” (Goethe 1994, 139).
5. Schlussbemerkung
Der vorliegende Beitrag wollte statt der “doktrinären” Darstellung einer Zyklustheorie (die in den Epilog zu diesem Band verschoben wurde) den Autor-Kommentar zu einem prominenten komponierten Gedichtbuch als Formulierung eines Gattungsbewusstseins und damit allgemeiner als Theorie vom Gedichtzyklus präsentieren. Hier bot sich mit Goethes “Divan” ein Gedichtbuch an, das für die vergleichende Zyklusforschung in mehrfacher Hinsicht besonders bemerkenswert ist, insbesondere wegen des beigefügten Prosa-Anhangs. Der “Divan” gestaltet nicht nur (wie viele andere Gedichtzyklen auch) in poetischer Weise einen komplexen poetischen Inspirationsprozess und liefert dabei mehr oder weniger implizit ein Modell der Evolution von Poesie überhaupt mit – Goethe geht besonders in “Besserem Verständniß” weit auch darüber hinaus und baut gewissermaßen das europäische lyrische und zyklische Gattungsgedächtnis um, durch seine Aneignung der orientalischen Poesie. Nicht mehr allein das “Buch der Bücher” (mit den Psalmen und dem “Hohen Lied”), die antiken Zyklusdichter und der europäische Petrarkismus, sondern auch der Koran und die von ihm inspirierte, alles mit allem verbindende orientalische Poesie sollen künftig zusammen das Gattungsgedächtnis “des” Gedichtbuchs und “des” Gedichtzyklus ausmachen, so die “Botschaft”, die hier aus dem Prosa-Anhang herausgelesen wird. “Besserem Verständniß” ist das eher rare Beispiel eines Autorkommentars zu einem Zyklus, der Gedanken zu den Problemen der Komposition des Gedichtzyklus zwar fast durchweg indirekt, dafür aber ausführlich, ja geradezu weitschweifig formuliert. Das breitere Leserpublikum hat sich davon wohl abschrecken lassen; anders steht es bei den deutschen und weiteren europäischen Dichtern, die den “Divan” (und vielleicht auch den Prosa-Anhang) durchaus wahrgenommen haben. Eine internationale Wirkung nach Goethes Tod ist gewiss auch durch Heinrich Heines begeisterten Kommentar in De l’Allemagne (1835) gefördert worden, der dort u.a. schreibt:
Goëthe a transporté dans cette poésie ces voluptés enivrantes, et ses vers sont si faciles, si heureux, si aériens, si veloutés, qu’on s’étonne qu’il ait pu assouplir à ce point la langue allemande. En même temps il donne en prose les plus précieuses explications sur les mœurs et la vie de l’Orient […]. Cette prose est transparente comme la mer par une calme et douce soirée d’été, quand l’œil peut plonger dans ses profondeurs où apparaissent les villes englouties avec leurs splendeurs oubliées. Quelquefois cette prose est aussi magique, aussi mystérieuse que le ciel quand le crépuscule le voile, et les grandes pensées de Goëthe apparaissent pures et dorées comme des étoiles. (Zitiert nach Heine 1978, 140-141)
Die europaweite Rezeption des “Divan” und seines “Prosa-Anhangs” ist in mancherlei Spuren sichtbar, wird aber wohl noch länger einer erschöpfenden Rekonstruktion harren müssen; einen Beitrag hierzu soll die nachfolgende Studie über Goethe-Reflexe in den Gedichtzyklen Adam Mickiewiczs leisten.
[1] Der Beitrag geht aus Fieguth 2002b hervor und ist für diesen Band völlig umgearbeitet worden. Für anregende Diskussionsbeiträge und Gespräche sei verschiedenen Moskauer und Freiburger Kollegen gedankt, insbesondere Harald Fricke. Aus Goethes “Divan” und aus “Besserem Verständniß” zitiere ich nach Goethe 1994; aus anderen Goethe-Texten nach Goethe 1977.
[2] Hofmannsthal 1979, 438 wagt eine solche Lesart: “Und doch ist es eine Bibel: eines von den Büchern, die unergründlich sind, weil sie das wahre Wesen sind, und worin jegliches auf jegliches deutet, so daß des inneren Lebens kein Ende ist.”
[3] Es darf vermutet werden, dass es gerade dieser Kommentar war, der den zähflüssigen Absatz des “Büchleins” verursacht hat.
[4] Wir bezeichnen den Gedichtzyklus als “Sekundärgattung” in Opposition zu den primären lyrischen und anderen Gattungen, denen die Gliedtexte des Zyklus angehören.
[5] Die Bezeichnung ”zyklische Beziehungen” wäre angemessener, erscheint aber unpraktisch, weil sie zu unprägnant wirkt.
[6] Die gesamte ”Gattungsgestalt” eines Texts konstituiert sich aufgrund der Gesamtheit seiner gattungsrelevanten Merkmale; im Regelfall sind mehrere literarische Spezialgattungen an einem individuellen Text beteiligt.
[7] Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Parallelisierung von Hafis und Calderon in der Zweitfassung des “Divan”. Im “Buch der Sprüche” heißt es dort:”Herrlich ist der Orient / Ueber’s Mittelmeer gedrungen, / Nur wer Hafis liebt und kennt / Weiß was Calderon gesungen” (Goethe 1994, 368).
[8] Ähnliche typographisch gestützte Verbindungen ergeben sich im “Buch des Sängers” zwischen “Zwiespalt” (18) und “Phänomen” (19), “Lied und Gebilde” (24) und “Dreistigkeit” (23), im “Buch der Liebe” zwischen “Lesebuch” (50) und “Gewarnt” (51), im “Buch der Betrachtungen” zwischen “Fünf Dinge” (66) und “Fünf andere” (67), usw. Auf diese Kompositionsmethode verweist Bohnenkamp 1996, 318. Man muss bedauern, dass in den sog. kritischen Ausgaben hierauf keine Rücksicht genommen wird (auch nicht in Goethe 1994).
[9] Zur Parallele zwischen den beiden Büchern vgl. Ihekweazu 1971, 176 ff.
[10] H.A. Korff (1947) ging so weit, in den “Umstellungen” des “Buches Suleika” ein “Verhüllungsmanöver” zu sehen, das heute seinen Sinn verloren habe, weshalb man die chronologische Anordnung der Gedichte wiederherstellen sollte – s. Becker 1971, 393.
[11] Vgl. dazu Birus 1994, 2, 1416 ff.
[12] Die ganze Passage bezieht sich offenkundig besonders auch auf das heimlich metazyklische Gedicht “Lesebuch” im “Buch der Liebe”.
[13] Birus 1994, 2, 1412 teilt eine spätere Äußerung Goethes zu F.W.K. Umbreits Neuübersetzung und Kommentierung des Hohen Liedes mit: “Im Divan wird der Versuch, in diese Fragmente Zusammenhang zu bringen, zwar wohlgemeint, aber unausführbar genannt. Mich dünkt aber, der Versuch ist dießmal glücklich gelungen, und zwar weil er auf die im Divan angegebene Zerstückelung gegründet ist. […] Die Anlage und Ausführung ist dramatisch, alle betheiligten äußern sich unmittelbar, jedes auf seinem Ort, seiner Lage, seinen Neigungen und Wünschen gemäß. Und so lös’t sich der epische Unzusammenhang doch in einem Zusammenhange auf”.
[14] Die partielle heimliche Autor-Referenz der Timur-Gestalt ist in der Goethe-Forschung sicherlich auch schon von jemandem bemerkt worden; Bestätigung findet sie durch Goethes Ankündigung im “Morgenblatt”, wo es vom “Buch des Timur” heißt, es fasse “ungeheure Weltbegebenheiten wie in einem Spiegel auf, worin wir zu Trost und Untrost den Widerschein eigener Schicksale erblicken” (Goethe 1977, 765).
[15] “Das Buch Suleika […] unterscheidet sich […] dadurch, dass die Geliebte genannt ist, daß sie mit einem entschiedenen Charakter erscheint, ja persönlich als Dichterin auftritt und in froher Jugend mit dem Dichter, der sein Alter nicht verleugnet, an glühender Leidenschaft zu wetteifern scheint” (Goethe 1977, 765).
[16] Eine weniger sublime Deutung der Erweiterung des Subjekts gibt Konrad Burdach 1971, 48: ”als ob nicht auch die selbstverwachsenste Dichtung seiner Jugend in gewissem Sinne Maskerade war und nicht auch in der Rolle des Faust, Prometheus, Mahomet, Egmont, doch nur des Dichters Person redete «wie sies fühlt und meint», sich spaltend und doch «immerfort der Eine» (Zahme Xenien III, V. 1836 ff.)”.