Erlebte Rede und «innere Stimme» in L.N. Tolstojs «Anna Karenina»

Rolf Fieguth

Erlebte Rede und «innere Stimme»

in Tolstojs Anna Karenina

1. Zur Einführung.

Tolstojs Roman Anna Karenina bietet auf seiner thematischen Ebene für die weit gefaßte Fragestellung unserer Tagung sicherlich eine Fülle von Material. Sein großes Thema ist die leidenschaftliche Suche nach einem unverkürzten, unverfälschten Leben; skandalöserweise wird in diesem Zusammenhang die illegitime Liebesleidenschaft Anna Kareninas kompositorisch auf die gleiche Stufe gestellt wie Konstantin Levins verzweifelte Suche nach dem Glauben[1]. Ohne Zweifel ruft dieser Roman u.a. also – in affirmativer wie in polemischer Intention – auch die Traditionen der Bekehrungsliteratur auf. Ein eigentümliches Gleiten zwischen Orthodoxie, Heterodoxie und Häresie ließe sich hier trefflich demonstrieren.

Dies wird mich freilich nur insofern beschäftigen, als es für die Erzählstruktur des Romans relevant wird. Ich möchte nämlich die Erzählstruktur des Romans unter dem Aspekt einer Filiation mit Rousseaus aufklärungschristlichem Konzept der «inneren Stimme» beleuchten. Die Schriften Rousseaus sind neben dem Evangelium für Tolstoj sein ganzes geistiges Leben lang eine permanente Inspirationsquelle gewesen (Markovitch 1928, 5). .Mich interessiert an Rousseaus Gedankengut das Konzept der «inneren Stimme» im Menschen, in seinem sprachkritischen und theologisch-anthropologischen Aspekt.

Zwei Annahmen sind dabei leitend:

a) Das Konzept der «inneren Stimme», von Rousseau nicht erfunden, aber doch erheblich in seiner philophischen und literarischen Wirkung verstärkt, hat die Karriere der Erlebten Rede und verwandter Phänomene in der Literatur des Sentimentalismus[2], der Romantik und des frühen Realismus mit angeregt; b) es hat die spezifische Erzählstruktur von Tolstojs Roman inspiriert.

Im vorliegenden Beitrag kann ich mich nur mit Tolstojs Anna Karenina befassen.

Der Ausdruck «innere Stimme», oder «eine Stimme» wird vom Erzähler selbst vergleichsweise häufig ausdrücklich gebraucht – vgl. die Schilderung von Kittys Gemütszustand, nachdem sie Levins ersten Heiratsantrag abgewiesen hat:

«ˇalko, Ωalko, no çto Ωe delat´? Ä ne vinovata» – govorila ona sebe; no vnutrennij golos govoril ej drugoe (Û, 15, t.18, 59).[3]

Die «innere Stimme» interessiert mich zuerst und auch zuletzt als Konzept der Erzählstruktur des Romans, insbesondere auch in ihrem Verhältnis zu den traditionellen Formen der Rede im Roman – zur direkten Figurenrede, zur Erzählerrede, und ganz besonders auch zur Erlebten Rede, deren virtuose Handhabung dem von Bachtin uneingeschüchterten Leser dieses Romans als erstes in die Augen fällt; in bestimmten Fällen kann die Tolstojsche «innere Stimme» auch in ein besonderes Verhältnis zur in direkter Figurenrede geäußerten Stimme des Anderen treten.

Zur Klärung dieser Verhältnisse ist ein ideengeschichtlicher Seitenblick hilfreich. Hinter dem Begriff der «inneren Stimme» ist ein ganzer Komplex von Konzeptionen der heidnischen, jüdischen und christlichen Antike zu sehen, die bei Tolstoj mit großer Wahrscheinlichkeit gleichsam durch seine intensive Auseinandersetzung mit Rousseau hindurch aufgenommen wurde. Hierzu seien im folgenden ein paar Andeutungen mitgeteilt. Diese sollen nicht dazu dienen, die Frage der Tolstojschen Erzählstruktur interpretierend zu vereindeutigen. Ingarden hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß man ein literarisches Kunstwerk nicht wie einen philosophischen Traktat lesen und behandeln darf (Ingarden 1968, 304). Ziel soll vielmehr sein, die spezifische Mehrdeutigkeit und Ambiguität von Tolstojs Erzählmonolog in Anna Karenina  ins Licht zu rücken.

2. Zu Rousseaus Konzept der «inneren Stimme».

Wohl einer der ältesten und bekanntesten Belege[4] für die «innere Stimme» findet sich in Platons Apologie des Sokrates[5]. H. Reiner gibt in seinem gehaltvollen Lexikonstichwort «Gewissen»[6] interessante Hinweise auf Gewissenstheorien; er nennt numinose Gewissensverständnisse bei antiken Autoren wie Menander (575), Cicero und Seneca (576 ff.), das jüdisch-theologische Gewissensverständnis bei Philon von Alexandria (578) sowie die Gewissenstheologie des Paulus (579)[7], und, im Anschluß daran, die der Patristik (580 f.), von deren Vertretern im Zusammenhang mit Rousseaus Gewissenskonzeption besonders Origines und Augustin (580) hervorzuheben sind. Aus der mittelalterlichen Gewissenstheologie ist für den Autor der Nouvelle Héloïse Abälard von Bedeutung («Non est peccatum nisi contra conscientiam» – Reiner 581), aus der frühneuzeitlichen wohl Luther («libertas conscientiae» – Reiner 583) und mehr noch Calvin (conscientia als «sensus divini justicii»). Es ist nicht meines Amtes, einerseits Rousseau genau in diese Tradition einzuordnen und andererseits im einzelnen herauszuarbeiten, inwieweit Tolstoj trotz seiner erwiesenen lebenslangen Faszination für Rousseaus Schriften sich zusätzlich von Gewissenstheorien beeindrucken ließ, die bedeutend «ungemütlicher» sind als die Rousseaus, z.B. der Gewissenskonzeption Kants und seiner Vorläufer in der älteren Tradition. Ich kann nicht mehr tun, als das bekannte Tolstojsche Rousseau-Interesse mit dem Thema der «inneren Stimme des Gewissens» hier einmal in Zusammenhang  zu bringen.

Die ausführlichste zusammenhängende Darstellung von Rousseaus Konzept der «inneren Stimme» und des Gewissens findet sich im Emile, im Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars[8]. Jedem Leser von Tolstojs Anna Karenina springen bei der Lektüre dieses Textes die Parallelen der Überlegungen Levins zu diesem fiktionalisierten, aber keineswegs fiktiven Rousseauschen Glaubensbekenntnis in die Augen. In seinen sehr bewußt nicht um Stringenz und glasklare Widerspruchsfreiheit bemühten Formulierungen[9] umschreibt Rousseau die «innere Stimme» als die dem Menschen angeborene Stimme des Gewissens, der Natur, des Lebens, der Tugend, und letztlich als instinct divin, was man vielleicht am besten mit «Gottesinstinkt» übersetzt. Trotz vieler Berührungspunkte mit den traditionellen Lehren des Christentums ist das Konzept der «inneren Stimme» sowohl bei Rousseau, als auch später bei Tolstoj in seinen Konsequenzen heterodox, wenn nicht sogar häretisch. Die «innere Stimme» der Natur, des Gewissens, des Lebens ist jedem Menschen eigen, gleichgültig in welcher Religion er geboren ist, und sie ist auch die allein gültige Richtschnur seines moralischen Handelns – nicht die Dogmen der Theologen und die Gebote der Kirche. Rousseaus Savoyischer Vikar stellt sogar einen unübersehbaren Gegensatz auf zwischen dem Fanatismus, will sagen dem Kirchenchristentum besonders der Katholiken, und der «inneren Stimme» der Natur und des angeborenen Gewissens.

S’il [scil: le guide qu’est la conscience – R.F.] parle à tous les cœurs, pourquoi donc y en a-t-il si peu qui l’entendent? Eh! c’est qu’il nous parle la langue de la nature, que tout nous fait oublier. La conscience est timide, elle aime la retraite et la paix; le monde et le bruit l’épouvantent: les préjugés dont on la fait naître sont ses plus cruels ennemis: elle fuit ou se tait devant eux: leur voix bruyante étouffe la sienne et l’empêche de se faire entendre; le fanatisme ose la contrefaire et dicter le crime en son nom (262).

Rousseaus aufklärungschristliche Lehre von der «inneren Stimme des Gewissens» ist als anti-ekklesiastisch und damit als durchaus häretisch zu verstehen. Dies richtet sich indessen nicht nur gegen die Römische Kirche, sondern erkennbar auch gegen die Lutherische und die Calvinistische Kirche, trotz erkennbarer Anknüpfungen an das reformatorische Thema der Gewissensfreiheit[10].

Mehrfach stellt Rousseau einen Zusammenhang her zwischen der Lehre vom angeborenen Gewissen, und bestimmten Motiven der Schrift und der Sprache. Die Regeln des Gewissens seien «au fond de mon cœur écrites par la nature en caractères ineffaçables» (257)[11]. Das Gewissen sei die «Stimme der Seele», so wie die Leidenschaften die «Stimme des Körpers» seien; beide Sprachen (langages) widersprächen sich manchmal[12]; an anderer Stelle wird das Gewissen als langue de la nature umschrieben (262) [13].

Am Ende der ganzen Argumentation wendet Rousseau die Sache ins Entwicklungsgeschichtliche. Hierfür schärft uns Jean Starobinski mit seiner Abhandlung über Rousseaus Traktat vom Ursprung der Sprachen den Blick[14] . Das Gewissen ist ein von Anbeginn eingeborenes Gefühl, eine Art Stimme oder Sprache der Natur; es tritt aber erst in dem Stadium in seine Rechte ein, da es sich mit dem Verstand verbindet, welcher das Gute erkennen kann und sich dabei in ein Verhältnis zum anderen setzt. Das Gewissen als angeborene Sprache der Natur erlaubt den Menschen das Gute zu lieben, sobald sie das Gute im Verhältnis zum anderen Menschen erkannt haben[15]. Es gibt also etwas wie eine Geschichte der Entwicklung des Gewissens; als «Stimme der Natur» ist das Gewissen nicht Restbestand des urtümlichen Guten im Menschen, sondern natürlicher Bestandteil seiner komplexen rationalen und emotionalen Ausstattung in moderner Zeit.

Den historisierenden Aspekt dieser Gewissenskonzeption bringt Starobinski mit Rousseaus Traktat vom Ursprung der Sprachen zusammen. Für unseren Zusammenhang wichtig ist die conclusio: die Sprache ist – aufgrund natürlicher Gaben des Menschen – dennoch historisch geworden und kann darum auch enden. Sie hat sich aus emotionalen Lauten und Gesten entwickelt, verliert aber mit zunehmender Kultivierung ihre Nähe zur Stimme der Natur, übertönt sie gleichsam und wird ihr gefährlich.Sie kann durchaus im nichtssagenden Geschwätz verenden und sterben. Bezogen auf die «innere Stimme des Gewissens» hatte Rousseau ausdrücklich festgehalten: sie sei furchtsam und liebe den Frieden. Sie ziehe sich zurück und werde stumm, wenn zu viel Leidenschaften walten, wenn zu viel Sprachlärm ist, wenn Philosophen oder Theologen ihre eloquenten Gedankengebäude errichten.

Hier formuliert sich eine Skepsis gegenüber der menschlichen Sprache, die in altehrwürdiger Tradition steht, nämlich in der Augustins und Thomas von Aquins, von den Mystikern ganz zu schweigen[16]. Dennoch hat wohl in besonderem Maße eben Rousseau sein Teil zur Sprachskepsis der Romantiker beigesteuert, vor allem weil sein aufklärungschristlicher und explizit antidogmatischer Traktat einige wortmystische und worttheologische Hohlräume enthält, die sich unschwer wieder mit den älteren Gehalten füllen lassen konnten – im Sinne etwa der von Augustin vorgeprägten, von Thomas von Aquin dann mit besonderer Autorität ausgestatteten Gegenüberstellung zwischen dem armseligen Menschenwort und dem inneren Wort, das als «Spiegel des göttlichen Wortes» (Hennigfeld 1994, 228) sich in assoziative Verbindungen sowohl zur dritten Person der göttlichen Trinität, als auch – logos, verbum – zur zweiten Person bringen läßt.

Mit allen ihren Hohlräumen ist die Rousseausche Sprachkritik, wie alle Leser von Tolstojs Anna Karenina leicht nachvollziehen können, zu einem hohen Anteil in den Roman eingegangen; zahlreich sind die Stellen, in denen die dargestellten Personen wie unter einem Zwang etwas anderes sagen, als sie meinen, und wo sie vor allem da durch die «innere Stimme» korrigiert werden, wo sie sich selbst etwas Falsches einreden wollen; die unverfälschte Kommunikation zwischen den Menschen ist die sprachlose Verständigung durch Gesten, Gesichtsausdrücke – vgl. hierzu die hochberühmte Szene des zweiten Liebesgesprächs zwischen Kitty und Levin. Es wird aber auch zu zeigen sein, wie gerade die Rousseausche Opposition zwischen inhaltsarmem Reden und «innerer Stimme» in eine subtil differenzierte Narratio in Anna Karenina überführt wird.

Hinzuzufügen ist, daß Rousseaus Konzept der «inneren Stimme» mit seiner Verbindung zum Motiv der Sprache und der Schrift für den Schriftsteller  Tolstoj besonders attraktiv werden mußte durch die Verbindung komplexen Denkens mit einem kunstvoll einfachen Gesprächston, den Rousseau gerade in diesem Teil des Erziehungsromans Emile zu erzielen weiß[17].

3. Interferenz von Erzählerrede und Figurenrede in Anna Karenina.

Die angedeuteten philosophischen und aufklärungstheologischen Hintergründe des thematischen Motivs der «inneren Stimme» könnten den Schluß nahelegen, die Erzählsstruktur in Anna Karenina sei durch eine besondere Monologizität und Eindeutigkeit des Erzählmonologs gekennzeichnet. Das ist indessen durchaus nicht der Fall. Ich behaupte vielmehr – sicherlich nicht als erster und nicht als letzter -, daß die Narratio des Romans bedeutend weniger eindeutig, oder, bachtinsch gesprochen, weit weniger monologisch ist, als es den Anschein haben mag, sondern daß sie sich vielmehr durch eine besonders hohe Ambiguität auszeichnet[18].

Es würde in der Tat von arger methodologischer Verblendung zeugen, wollte man ernstlich den Roman Anna Karenina mit dem bachtinschen Kuckuck der Monologizität bekleben und versiegeln. In diesem Doppelroman bestehen zwischen den Protagonisten der drei hauptsächlichen Handlungslinien Stiva-Dolly, Anna-Karenin-Vronskij und Levin-Kitty explizite und vor allem auch wortlose bewußtseinsmäßige Dialogbeziehungen in wünschenswertem Ausmaß; sie wissen alle voneinander, und ihre unterschiedlichen Stimmen kommen im Erzählmonolog ausgiebig zur Geltung. Es sind die paradox versetzten Beziehungen zwischen diesen Paaren, die die spezifische Vielstimmigkeit des Romans und seinen besonderen ästhetischen Reiz ausmachen, während das 5. Buch wie eine klagende Einzelflöte dem gleichsam symphonischen Reichtum der ersten vier Bücher nachsingt.

Diese durch die Gesamtkomposition erzeugte Ambiguität der Narratio wird nun darin konkret und unmittelbar, daß sie sich besonders häufig zum mehr oder weniger transparenten Medium für die individuellen Bewegungen der Gedankenwelt, des Bewußtseins, des Gemüts und des Gewissens der dargestellten Personen macht; in der Stimme des Erzählers klingen darum beständig die Stimmen der erzählten Figuren mit, nicht selten auch und gerade dann, wenn auf den ersten Blick sich eine Passage besonders auktorial und autoritär ausnimmt. Erzähltechnisch wird dies durch die Verfahren der Erlebten Rede und der «inneren Stimme» bewerkstelligt.

Daraus ist eine wichtige Folgerung zu ziehen: eine Person verfügt hier in der Regel nicht nur über eine, sondern über mehrere Stimmen; diese interferieren in ihrer Pluralität mit «der» Stimme des Erzählers. Der tiefere Grund für dieses paradoxe Phänomen ist, daß Tolstojs Figuren – bewußt oder unbewußt – den rigorosen Richter ihrer Handlungen und Empfindungen in sich selbst tragen und mit einem hohen Grad an Bewußtheit von sich selbst, den eigenen Gedanken und Gefühlen ausgestattet sind. Eben dies schafft die grundsätzliche Ambiguität des Erzählmonologs. Der Leser fühlt sich beständig zu der Frage veranlaßt: Äußert an dieser konkreten Stelle der Erzähler etwas, was nur er selbst erkennt, sieht und beurteilt, und womit er sich über das Bewußtsein der erzählten Figur erhebt – oder ist nicht vielmehr seine Erkenntnis, seine Einsicht und sein Urteil dasjenige der soeben dargestellten Figur? Die «Stimmen der erzählten Figuren» sind jedenfalls im Erzählmonolog beständig mit anwesend. Zu den Stimmen der erzählten Figuren zählen wir auch die «innere Stimme», obwohl diese eine Art vorsprachliche Stimme ist, die sich oft nicht in klare Formulierungen fassen läßt. Der Ausdruck «Stimmen der erzählten Figuren» muß dabei allerdings sehr weitherzig und mitunter auch metaphorisch verstanden werden. Gemeint sind damit alle Gedanken- und Gefühlsregungen der erzählten Personen, sowohl solche, welche die Personen selbst formulieren oder formulieren könnten, als vor allem auch solche, die sich der bewußten Formulierungskompetenz der Personen entziehen, die sie, nach den Worten des Romans selbst, als ihre «innere Stimme» erleben, welche sich in aller Regel gar nicht in klare Worte fassen läßt.

Die «innere Stimme» ist auf das betreffende Individuum bezogen und darum dessen intimste und ureigenste Sache – sie ist aber auch auf ein von jedem Menschen erfühltes System von allgemeinverbindlichen Wahrheiten bezogen. Bachtin würde in der «inneren Stimme» den «übergreifenden Horizont des Autors» Tolstoj (Bachtin 1971, 79) identifizieren; er hat damit insofern recht, als nach offenkundiger Tolstojscher Auffassung die «innere Stimme» sich auf übersubjektive Wahrheiten bezieht; ihre Manifestation geschieht aber in der Person selbst und ist zutiefst individuell gefärbt, und das hat Bachtin vermutlich zunächst unterschätzt.

Es wird bei alledem zu fragen sein, ob in der Erlebten Rede oder in der «inneren Stimme» die wesentlichste Quelle für die postulierte Ambiguität des Tolstojschen Erzählmonologs zu suchen ist – und in welchem Verhältnis diese beiden Konzepte der praktizierten Erzählpoetik stehen.

3.1. Erlebte Rede[19] und die Ambiguisierung der auktorialen Erzählerrede.

Die erlebte Rede spielt in Anna Karenina eine wesentliche Rolle; sie unterminiert den Erzählmonolog häufig derart massiv, daß im Lauf einer aufmerksamen Lektüre zahlreiche traditionelle Signale für Auktorialität sich der Ambiguisierung durch die Erlebte Rede nicht entziehen können. Die Grenzen zwischen monologischer Erzählerrede und Erlebter Rede werden in diesem Roman grundsätzlich fließend ; die Erlebte Rede weist einige Eigentümlichkeiten auf.

Tolstoj stattet seine wichtigsten Protagonisten mit einem scharfen Blick für die eigene Person, einer Gedanken-, Gefühls- und Gewissensenergie, aber auch mit einer Eloquenz aus, welche der des Erzählers nicht grundsätzlich unterlegen ist. In Anna Karenina hat nicht der Erzähler das Privileg auf die gehobene Schriftsprache. Vielmehr sprechen (und denken) die wichtigsten Protagonisten in der Regel «druckreif», mit häufigen Anleihen an ausgesprochene Schriftlichkeitsstile. Die geläufige Unterscheidbarkeit zwischen der prinzipiellen Schriftlichkeitsstilistik des Erzählers und der prinzipiellen Oralität des Redens und Denkens der Figuren entfällt in Anna Karenina in aller Regel. Ferner hat hier nicht der Erzähler das Privileg auf Gedankenarbeit; auch die Figuren räsonieren und reflektieren fortwährend in vollem Bewußtsein. Die Regel, wonach verba dicendi et cogitandi die erlebte Rede ausschließen, wird hierdurch hinfällig. Hinzu kommt, daß in die Passagen Erlebter Rede bei Tolstoj immer wieder stilistische Elemente eingelassen sind, die gewöhnlich als starke Signale für Auktorialität wirken würden, hier aber ihren Charakter verändern.

In I,1 erwacht in seinem Kabinett wohlgelaunt Stiva Oblonskij und erinnert sich plötzlich des unangenehmen Vorabends, als seine Frau Dolly ihn wegen seines Ehebruchs zur Rede gestellt hatte. Hier gerät die Monologizität der Narratio in spürbare Bewegung durch massive Einschübe von erlebter Rede Oblonskijs.

I pri qtom vospominanii, kak qto çasto byvaet, muçalo Stepana Arakad´iça ne stol´ko samoe sobytie, skol´ko to, kak on otvetil na qti slova Ωeny.

S nim sluçilos´ v qtu minutu to, çto sluçaetsä s lüd´mi, kogda oni neoΩidanno uliçeny v çem-nibud´ sli‚kom postydnom. On ne sumel prigotovit´ svoe lico k tomu poloΩeniü, v kotoroe on stanovilsä pred Ωenoj posle otkrytiä ego viny. Vmesto togo çtob oskorbit´sä, otrekat´sä, opravdyvat´sä, prosit´ proweniä, ostavat´sä daΩe ravnodu‚nym – vse bylo by luç‚e togo, çto on sdelal! – ego lico sover‚enno nevol´no («refleksy golovnogo mozga» – podumal Stepan Arkad´iç, kotoryj lübil fiziologiü), sover‚enno nevol´no vdrug ulybnulos´ privyçnoü, dobroü i potomu glupoü ulybkoj.

Qtu glupuü ulybku on ne mog prosti´ sebe. […]

«Vsemu vinoj qta glupaä ulybka», – dumal Stepan Arkad´iç.(Û,1, t.18, 4)

Diese Passage ist in ihrer komplexen stilistischen Gestaltung vielleicht nur dann schnell zu überblicken, wenn man sich vor Augen hält, daß der Ehebrecher Oblonskij den Gedanken persönlicher Schuld von sich weist – «vinoj ä, a ne vinovat». Dieser Gesamtzusammenhang schafft das Moment einer auktorialen Ironisierung.

Unser Zitat enthält einen Kern Erlebter Rede, der dort kursiv gesetzt ist, man beachte das reduplizierte sover‚enno nevol´no, sover‚enno nevol´no, das durch die auktoriale Klammer («refleksy golovnogo mozga» – podumal Stepan Arkad´iç, kotoryj lübil fiziologiü) mit der «direkten Gedankenrede» Oblonskijs motiviert wird. Die Erlebte Rede absorbiert hier nicht nur diese auktoriale Klammer[20], sondern auch andere Elemente, die nach sonstigen Kriterien in die Erzählerrede gehören würden – z.B. die anscheinend völlig von außen gesehene Qualifizierung von Oblonskijs Lächeln: ego lico […] ulybnulos´ privyçnoü, dobroü i potomu glupoü ulybkoj. Isoliert betrachtet würden diese Teile des Satzes als massives Argument für ungetrübte auktoriale Rede gelten müssen. Hier aber denkt die Figur wörtlich selbst: «Vsemu vinoj qta glupaä ulybka», und infolgedessen liegt es mehr als nahe, daß die zitierte «Außensicht» in den inneren Reflexionsstrom Oblonskijs einbezogen ist.

Der zweite Satz des Zitats ist anscheinend problemlos auktorial formuliert: S nim sluçilos´ v qtu minutu to, çto sluçaetsä s lüd´mi, kogda oni neoΩidanno uliçeny v çem-nibud´ sli‚kom postydnom.  Aber gerade auch dieser scheinbar auktoriale Satz gerät retroaktiv in den Einflußbereich der Erlebten Rede. Oblonskij meint sich hier ja offenbar dadurch entlastet in seinen Schuldgefühlen, daß ihm eine Dummheit passiert ist – das dumme Lächeln -, die anderen Menschen in ähnlich peinlicher Situation ebenfalls zustoßen kann. Die darin enthaltene Generalisierung ist sowohl die Idee Oblonskijs, als auch die des Erzählers. Wir haben es hier mit ambiguisierter Erzählerrede zu tun. Die geschilderte Ambiguisierung der Erzählerrede setzt sich gleich im zweiten Abschnitt fort:

Stepan Arkad´iç byl çelovek pravdivyj v otno‚enii k sebe samomu (Û, 2; t.18, 5).

Dieser Satz wirkt zunächst wie eine Beurteilung, die der auktoriale Erzähler über seine Figur abgibt. Die nächsten Sätze ambiguisieren aber diesen Satz. Der Anfang des Abschnitts lautet im ganzen:

Stepan Arkad´iç byl çelovek pravdivyj v otno‚enii k sebe samomu. On ne mog obmanyvat´ sebä i uverät´ sebä, çto on raskaivaetsä v svoem postupke. On ne mog teper´ raskaivat´sä v tom, çto on, tridcatiçetyrexletnij, krasivyj, vlübçivyj çelovek, ne byl vlüblen v Ωenu, mat´ päti Ωivyx i dvux umer‚ix detej, byv‚uü tol´ko godom moloΩe ego. (Û, 2; t. 18, 5).

Der zweite und der dritte Satz dieses Zitats enthalten zusammengenommen deutliche Signale der Erlebten Rede: die Wiederholung der Satzeingänge On ne mog….On ne mog…; ferner das Adverb teper´ in On ne mog teper´ raskaivat´sä v svoem postupke, und nicht zuletzt die Pascha-Logik des schönen, gern verliebten 34-jährigen Mannes, der in seine Frau nicht mehr verliebt ist, weil sie durch sieben Schwangerschaften verbraucht und außerdem mit 33 Jahren zu alt ist[21]. Der anscheinend auktoriale erste Satz Stepan Arkad´iç byl çelovek pravdivyj v otno‚enii k sebe samomu erweist sich im Lichte des folgenden vornehmlich als Selbsteinschätzung der dargestellten Person und somit als in die Erlebte Rede integriert. Die dadurch erzielte Ambiguisierung unterminiert die Autorität des auktorialen Erzählers nicht. Im Gegenteil dient sie einer mehr oder weniger subtilen Ironisierung der dargestellten Figur vom Standpunkt des Erzählers aus.

Festzuhalten ist an dieser Passage, daß hier die Erlebte Rede sich als das dominierende Prinzip erweist, daß aber ein eigentümliches Gleiten zwischen den verschiedenen Redeformen erkennbar bleibt.

3. 2. Die «innere Stimme»

In II, 8 wird uns geschildert, wie Karenin auf den Verdacht reagiert, den er geschöpft hat, und wie dieser Verdacht in gleichsam immer heftigeren Wellen sein Gemüt bedrängt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die «innere Stimme», vgl. die Passage:

«Da nakonec – spra‚ival on sebä pred povorotom v kabinet, – çto Ωe sluçilos´? Niçego. Ona dolgo razgovarivala s nim. Nu çto Ωe? Malo li Ωenwina v svete s kem moΩet govorit´? I potom, revnovat´ – znaçit uniΩat´ i sebä i ee», – govoril on sebe, vxodä v ee kabinet; no rassuΩdenie qto, preΩde imev‚ee takoj ves dlä nego, teper´ niçego ne vesilo i ne znaçilo. I on ot dveri spal´noj povoraçivalsä opät´ k zale; no, kak tol´ko on vxodil nazad v temnuü gostinicu, emu kakoj-to golos govoril, çto qto ne tak i çto esli drugie zametili qto, to znaçit, çto est´ çto-nibud´ (ÛÛ, 8; t. 18, 151).

Die Funktion der «inneren Stimme» muß aber hier in besonderer Weise in ihrem charakteristischen Zusammenwirken mit den anderen narrativen Stilformen gesehen werden.

Die Anfangssätze dieses Abschnitts waren zunächst ungemein auktorial aufgetreten:

Aleksej Aleksandroviç niçego osobennogo i nepriliçnogo ne na‚el v tom, çto Ωena ego sidela s Vronskim u osobogo stola i o çem-to oΩivlenno razgovarivala; no on zametil, çto drugim v gostinoj qto pokazalos´ çem-to osobennym i nepriliçnym, i potomu qto pokazalos´ nepriliçnym i emu. On re‚il, çto nuΩno skazat´ ob qtom Ωene (ÛÛ, 8; t. 18, 150).

Sie wirkten wie eine Beurteilung, die der auktoriale Erzähler in entschiedenem, geradezu höhnischem Tonfall diesem verknöcherten, unsubtilen und anscheinend nur am Urteil der anderen Leute interessierten Charakter ausstellt. In diesem Geist ist die Passage denn wohl auch meistens gelesen worden.

Aber sie wird anschließend wirkungsvoll in das Kreisen von Karenins Körper und Gedankenstrom einbezogen; sie erweist sich bald rückwirkend als Teil von Karenins immer heftiger kreisendem Bewußtseinsstrom, in dem die direkte Gedankenrede mit Elementen der Erlebten Rede abwechselt, und in dem auch die «innere Stimme» sich bemerkbar macht[22]. Ich führe die wesentlichen Passagen an, in denen Karenins körperliches und gedankliches Kreisen dargestellt wird.

«Da nakonec – spra‚ival on sebä pred povorotom v kabinet, – çto Ωe sluçilos´? Niçego. Ona dolgo razgovarivala s nim. Nu çto Ωe? Malo li Ωenwina v svete s kem moΩet govorit´? I potom, revnovat´ – znaçit uniΩat´ i sebä i ee», – govoril on sebe, vxodä v ee kabinet; no rassuΩdenie qto, preΩde imev‚ee takoj ves dlä nego, teper´ niçego ne vesilo i ne znaçilo. I on ot dveri spal´noj povoraçivalsä opät´ k zale; no, kak tol´ko on vxodil nazad v temnuü gostinicu, emu kakoj-to golos govoril, çto qto ne tak i çto esli drugie zametili qto, to znaçit, çto est´ çto-nibud´. I on opät´ govoril sebe v stolovoj: «Da, qto neobxodimo re‚it´ i prekratit´ i vyskazat´ svoj vzgläd…» I opät´ v gostinoj pred povorotom on spra‚ival sebä: kak re‚it´? I potom spra‚ival sebä: çto sluçilos´? I otveçal: niçego, i vspominal o tom, çto revnost´ est´ çuvstvo, uniΩaüwee Ωenu, no opät´ v gostinoj ubeΩdalsä, çto sluçilos´ çto-to. Mysli ego, kak i telo, sover‚ali polnyj krug, ne napadaä ni na çto novoe. On zametil qto, poter sebe lob i sel v ee kabinete (ÛÛ, 8; t. 18, 151).

Die Darstellung dieses stummen Selbstgesprächs verwendet fast alle in Anna Karenina gebräuchlichen Formen der Rede, die für unsere Thematik interessant sind, läßt sie ineinander übergehen und vermischt sie zu einem homogenen Ganzen. Es sind dies:

1. die direkte Rede der Gedanken

I on opät´ govoril sebe v stolovoj: «Da, qto neobxodimo re‚it´ i prekratit´ i vyskazat´ svoj vzgläd…»

2. Die auktoriale Erzählerrede

I on ot dveri spal´noj povoraçivalsä opät´ k zale

3. Die indirekte Rede

i vspominal o tom, çto revnost´ est´ çuvstvo, uniΩaüwee Ωenu, no opät´ v gostinoj ubeΩdalsä, çto sluçilos´ çto-to.

4. Die erlebte Rede

I opät´ v gostinoj pred povorotom on spra‚ival sebä: kak re‚it´? I potom spra‚ival sebä: çto sluçilos´? I otveçal: niçego

und schließlich als neues Element

5. Die «innere Stimme»

no, kak tol´ko on vxodil nazad v temnuü gostinicu, emu kakoj-to golos govoril, çto qto ne tak i çto esli drugie zametili qto, to znaçit, çto est´ çto-nibud´.

Grammatisch-stilistisch scheint dieses Beispiel für die «innere Stimme» sich zunächst unter die Indirekte Rede einzuordnen. Die «innere Stimme» wird aber primär von der dargestellten Person erlebt; ihre Erwähnung durch den Erzähler bringt ein Element Erlebter Rede ein. Es wäre durchaus möglich, eine «Übersetzung» der Passage in direkte Figurenrede vorzunehmen: mne  kakoj-to golos govorit, çto qto ne tak i çto esli drugie zametili qto, to znaçit, çto est´ çto-nibud´; mit anderen Worten, die Regung der «inneren Stimme» in Karenins kreisendem Bewußtseinwird uns in Form der Erlebten Rede mitgeteilt.

Gleich aus demselben Passus wird übrigens deutlich, daß die «innere Stimme» auch ohne explizite Nennung der «Stimme» bzw. der «inneren Stimme» zur Geltung gebracht werden kann. I otveçal: niçego, i vspominal o tom, çto revnost´ est´ çuvstvo, uniΩaüwee Ωenu, no opät´ v gostinoj ubeΩdalsä, çto sluçilos´ çto-to.

Diese Entdeckung – daß «innere Stimme» auch ohne explizites Signal vorliegen kann – ist ohne Zweifel von besonderem Gewicht für eine Reinterpretation des gesamten Erzählmonologs in diesem Roman.

Die «innere Stimme» ist in unserem Zitat am deutlichsten der direkten Gedankenrede entgegengesetzt, in der sich Karenin etwas Falsches einreden will. Sie ist ferner im Kapitelchen II,8 nahezu ebenso deutlich denjenigen Passagen entgegengesetzt, die wir als ambiguisierte Erzählerrede identifiziert hatten: Aleksej Aleksandroviç niçego osobennogo i nepriliçnogo ne na‚el v tom, çto Ωena ego sidela s Vronskim u osobogo stola und Aleksej Aleksrandroviç byl ne revniv.

Es sei wenigstens darauf hingewiesen, daß der hier kommentierte Abschnitt II, 8 mit dem oben besprochenen Abschnitt I, 1 in deutlicher kompositorischer Beziehung steht[23]. Diese kompositorische Beziehung unterstützt gewiß das auktoriale Moment, das in beiden Passagen trotz aller Ambiguisierung auch vorhanden ist.

Aber kommen wir auf das Beispiel für «innere Stimme», das wir zu Beginn des Beitrags zitiert haben:

«ˇalko, Ωalko, no çto Ωe delat´? Ä ne vinovata» – govorila ona sebe; no vnutrennij golos govoril ej drugoe. V tom li ona raskaivalas´, çto zavlekla Levina, ili v tom, çto otkazala, – ona ne znala. No sçast´e ee bylo otravleno somnieniämi. «Gospodi pomiluj, gospodi pomiluj, gospodi pomiluj» govorila ona pro sebä, poka zasnula. (Û, 15; t.18, 59)

Hier haben wir die typische Tolstojsche Opposition zwischen dem, was ein Mensch sich einredet, und dem, was eine oder seine «innere Stimme» ihm sagt. Kitty sagt sich hier, sie sei schließlich an nichts schuld. Aber was ein Mensch sich selbst sagt, oder was er einem anderen sagt, das ist in diesem Roman sehr oft die falsche Oberfläche einer ganz anderen Wahrheit[24].

Diese Passage steht in thematischer und teilweise auch narrativer Äquivalenz zur Episode von Annas Rückreise von Moskau nach Petersburg, nachdem sie Vronskij kennengelernt hat. Anna liest im Zug einen englischen Roman und empfindet hier plötzlich ein Gefühl der Scham zuerst für den Romanhelden, und sofort für sich selbst:

No çego Ωe emu stydno? «Çego Ωe mne stydno?» – sprosila ona sebä s oskorblennym udivleniem. […] Stydnogo niçego ne bylo. Ona perebrala vse svoi moskovskie vospominaniä, vse byli xoro‚ie, priätnye. Vspomnila bal, vspomnila Vronskogo i ego vlüblennoe pokornoe lico, vspomnila vse svoi otno‚eniä s nim: niçego ne bylo stydnogo. A vmeste s tem na qtom samom meste vospominanij çuvstvo styda usilivalos´, kak budto kakoj-to vnutrennij golos imenno tut, kogda ona vspomnila o Vronskom, govoril ej: «Teplo, oçen´ teplo, goräço» (Û, 29; t. 18, 107).

Die «innere Stimme», die sich hier in Anna meldet, ist wieder dem entgegengesetzt, was sie sich selber einreden möchte und was hier in einem Gleiten zwischen direkter Gedankenrede, indirekter Rede und erlebter Rede dargeboten wird. Sie erlebt die «innere Stimme» dabei wortlos; sie «übersetzt» sie sich in die geradezu kindliche Redensart «Teplo, oçen´ teplo, goräço»

Die «innere Stimme» muß nicht notwendigerweise explizit als solche benannt werden, wie wir schon gesehen haben. Sie kann auch durch direkte auktoriale Erzählerrede vermittelt werden, wie in folgendem Zitat aus der Schilderung von Levins Gemütszustand nach Kittys Ablehnung seines Heiratsantrags:

[…] on govoril sebe: «Tak Ωe krasnel i vzdragival ä, sçitaä vse pogib‚im, kogda poluçil edinicu za fiziku […]; tak Ωe sçital sebä pogib‚im posle togo, kak isportil poruçennoe mne delo sestry. I çto Ω? – teper´, kogda pro‚li goda, ä […] udivläüs´, kak qto moglo ogorçat´ menä. To Ωe i budet s qtim gorem. Projdet vremä, i ä budu k qtomu ravnodu‚en».

No pro‚lo tri mesäca, i on ne stal k qtomu ravnodu‚en, i emu tak Ωe, kak i v pervye dni, bylo bol´no vspominat´ ob qtom. […] (ÛÛ, 12; t. 18, 159).

Es scheint hier, daß der Erzähler hier im letzten Satz des Zitats «No pro‚lo tri mesäca, i on ne stal k qtomu ravnodu‚en, i emu tak Ωe, kak i v pervye dni, bylo bol´no vspominat´ ob qtom» aus seiner Autorität die falschen Vorstellungen Levins korrigiert – aber es ist Levins eigene Erfahrung, die ihn ganz persönlich zur Korrektur seiner Selbsttäuschung veranlaßt. Hier nähert sich die implizite «innere Stimme» stark der Erlebten Rede an, vor allem dadurch, daß der Satz «Projdet vremä, i ä budu k qtomu ravnodu‚en» aus Levins direkter Gedankenrede mit leichter Modifikation im folgenden Satz wiederholt wird: «No pro‚lo tri mesäca, i on ne stal k qtomu ravnodu‚en».

Was der Erzähler hier sagt, würde uns unter normalen Umständen als gewöhnlicher Erzählermonolog vorkommen. Aber nach dem, was wir jetzt schon von diesem Roman wissen, ist deutlich – der Part des Erzählers ist gleichsam die Verbalisierung der «inneren Stimme» unseres Helden Levin, der «inneren Stimme», die dem widerspricht, was er sich bewußt eingeredet hatte; sie äfft sogar Levins «falsche» direkte Gedankenrede nach. Diese Eigenschaft des Erzählmonologs, gleichsam zur Formulierung der «inneren Stimme» eines dargestellten Menschen zu werden, nähert den Erzählmonolog insofern stark der erlebten Rede an, als sie den pragmatischen Status des Erzählmonologs ambiguisiert.

Nicht weit von diesem Zitat entfernt ist eine Stelle, wo die «innere Stimme» Vronskijs zu Gehör gebracht wird. Vronskij fällt seinen mondänen Freunden und Verwandten durch seine Affäre mit der verheirateten Anna auf. Seine Cousine Betsy flirtet ein bißchen mit ihm, und er läßt es sich gefallen. Er sagt zu ihr: […] – Ä boüs´, çto stanovlüs´ sme‚on. Diesen laut geäußerten Satz Vronskijs straft gleich anschließend erneut eine Formulierung Lügen, die ebensowohl Stimme des Autors, als auch Vronskijs höchstpersönliche Einsicht ist:

On [Vronskij] znal oçen´ xoro‚o, çto v glazax Betsi i vsex svetskix loüdej on ne riskoval byt´ sme‚nym. On znal oçen´ xoro‚o, çto v glazax qtix lic rol´ nesçastnogo lübovnika devu‚ek i voobwe svobodnoj Ωenwiny moΩet byt´ sme‚na; no rol´ çeloveka, pristav‚ego k zamuΩnej Ωenwine i vo çto by to ni stalo poloΩiv‚ego svoü Ωizn´ na to, çtoby vovleç´ ee v prelübodeän´e, çto rol´ qta imeet çto-to krasivoe, veliçestvennoe i nikogda ne moΩet byt´ sme‚na […] (ÛÛ, 4; t. 18, 136).

Man kann hier durchaus annehmen, daß diese Passage, im Sinne der Regung einer «inneren Stimme», Vronskijs eigenes Bewußtsein von der Lüge reflektiert, die in seinem zu Betsy geäußerten Satz steckt.

Die «innere Stimme» vermittelt dem Menschen ein Bewußtsein von der Wahrheit, ohne daß die «innere Stimme» diese Wahrheit immer voll ausformuliert. Die Wahrheit ist sehr unterschiedlich geartet und der Person individuell angepaßt, welche die «innere Stimme» erlebt. Vronskij erlebt sie als den inneren Einwurf des Weltmannes, der sich hinter die eigenen Karten schauen kann.

Levin dagegen erlebt seine «innere Stimme» als «unfehlbaren Richter», dessen Richtsprüche sich aber nicht in rational formulierten Kriterien fassen lassen; das folgende Zitat ist zugleich eines der zahlreichen Beispiele dafür, daß «innere Stimme» vorliegen kann, auch wenn der Ausdruck nicht explizit genannt wird:

Kogda Levin dumal o tom, çto on takoe i dlä çego on Ωivet, on ne naxodil otveta i prixodil v otçaän´e; no kogda on perestal spra‚ivat´ sebä ob qtom, on kak budto znal, i çto on takoe i dlä çego on Ωivet, potomu çto tverdo i opredelenno dejstvoval i Ωil; daΩe v qto poslednee vremä on gorazdo tverΩe i oprdelennee Ωil, çem preΩde. (◊ÛÛÛ, 10; t. 19, 371)

RassuΩdeniä privodili ego v somneniä i me‚ali emu videt´, çtó dolΩno i çtó ne dolΩno. Kogda Ωe on ne dumal, a Ωil, on ne perestavaä çuvstvoval v du‚e svoej prisutstvie nepogre‚imogo sud´i[25], re‚av‚ego, kotoryj iz dvux vozmoΩnyx postupkov luç‚e i kotoryj xuΩe; i kak tol´ko on postupal ne tak, kak nado, on totças Ωe çuvstvoval qto (◊ÛÛÛ, 10; t.19, 373)[26].

Hier ist die Darbietung der «inneren Stimme» eng verflochten mit dem Verfahren der Erlebten Rede – beide zitierten Passagen lassen sich problemlos in direkte Levinsche Rede «übersetzen»[27].

Die vermittels Erlebter Rede dargestellte formulierte Gedankenarbeit Levins bringt ihm zu Bewußtsein, daß die Rede der «inneren Stimme» oder des Unfehlbaren Richters sich nicht formulieren läßt. Zwar steht die Erlebte Rede hier nicht in einem Wahrheitswiderspruch zur «inneren Stimme», sie ist aber in ihrer begrifflichen Hilflosigkeit eindeutig der begriffslosen «inneren Stimme» untergeordnet. Bei Levin ist übrigens die von der «inneren Stimme» vermittelte ausdrücklich irrationale, begriffsfremde Wahrheit auf einen ebenso irrationalen, offensichtlich aufklärungsreligiös oder sogar kirchenchristlich gefärbten Begriff des «Lebens» bezogen.

Einen völlig anderen Begriff vom Leben vermittelt die – inexplizite – «innere Stimme», die dem Ehebrecher Stiva Oblonskij am Eingang des Romans Antwort auf seine Frage gibt, was denn nun zu tun sei:

«…No çto Ωe delat´?» Otveta ne bylo, krome togo obwego otveta, kotoryj daet Ωizn´ na vse samye sloΩnye i nerazre‚imye voprosy. Otvet qtot: nado Ωit´ potrebnostämi dnä, to est´ zabyt´sä. Zabyt´sä snom uΩe nel´zä, po krajnej mere do noçi, nel´zä uΩe vernut´sä k toj muzyke, kotoruü peli grafinçiki-Ωenwiny; stalo byt´, nado zabyt´sä snom Ωizni (Û, 2; t. 18, 6).

Diese Antwort auf Oblonskijs Frage steht zwischen der autosuggestiven Erlebten Rede des Verdrängungsvirtuosen Oblonskij, seinem erlebten Bewußtsein vom Unrecht dieser Verdrängung, das ihm sein Gewissen vermittelt, und ironisierendem auktorialem Kommentar.

Es liegt am Tage, daß diese beiden Stellen aufeinander bezogen sind, und zwar thematisch, über das Motiv des Lebens, das von beiden Personen sehr unterschiedlich aufgefaßt wird, aber auch narrativ in der Verbindung der Erlebten Rede mit dem Problem des Erlebten Gewissens.

Diese Verbindung liegt auch in einem Passus vor, den wohl erstmals Efim Etkind als deutliches Beispiel für Erlebte Rede in Anna Karenina identifiziert hat (Etkind 1984):

Die Passage schildert Annas Seelenzustand, nachdem sie ihrem Mann das ehebrecherische Verhältnis zu Vronskij gestanden hat. Sie ist sehr niedergeschlagen, und für sie, die sie nie Zweifel am Glauben hatte, ist der Trost der Religion versagt – sie weiß genau, daß sie dann auf ihr Glück mit Vronskij verzichten müßte. Aber da wird sie an ihren Sohn erinnert.

Napominanie o syne vdrug vyvelo Annu iz togo bezvyxodnogo poloΩeniä, v kotorom ona naxodilas´. Ona vspominala tu, otçasti iskrennüü, xotä i mnogo preuveliçennuü rol´ materi, Ωivuwej dlä syna, […] i s radost´ü poçuvstvovala, çto […] u nej est´ derΩava, nezavisimaä ot poloΩeniä, v kotorom ona stanet k muΩu i k Vronskomu. Qta derΩava – byl syn. V kakoe by poloΩenie ona ni stala, ona ne moΩet pokinut´ syna. Puskaj muΩ opozorit i vygonit ee, puskaj Vronskij oxladeet k nej i prodolΩaet vesti svoü nezavisimuü Ωizn´ ([…]), ona ne moΩet ostavit´ syna. U nej est´ cel´ Ωizni. I ej nado dejstvovat´, dejstvovat´, çtob obespeçit´ qto poloΩenie s synom, çtoby ego ne otnäli u nej. DaΩe skoree, kak moΩno skoree nado dejstvovat´, poka ego ne otnäli u nej. Nado vzät´ syna i uexat´. Vot odno, çto ej nado teper´ delat´ (ÛÛÛ, 15).

Die Stelle vermittelt gewiß einen der eindrucksvollsten Einblicke in das Gefühlsleben Annas und ist darauf berechnet, den Leser für die Figur einzunehmen. Das Mittel der Erlebten Rede, das hier besonders effektvoll eingesetzt wird, spielt dafür eine wesentliche Rolle. Wahrscheinlich haben zahlreiche Leser die Formulierung Ona vspominala tu, otçasti iskrennüü, xotä i mnogo preuveliçennuü rol´ materi, Ωivuwej dlä syna als moralinsauren Einschub des auktorialen Erzählers empfunden. Ich denke, was wir jetzt über die «innere Stimme» beim Aufbau Tolstojscher Figuren wissen, berechtigt uns zu der Vermutung, daß sich in dem fraglichen Einschub ein Selbstzweifel Annas äußert. Sie empfindet es wohl selbst so, daß sie in diesem Augenblick ihr Muttergefühl überanstrengt – doch stellt die besonders lebhafte Erlebte Rede dar, wie Anna über diesen Einwand ihrer «inneren Stimme» hinwegredet, ihre «innere Stimme» hier zeitweilig zum Verstummen bringt.

Soweit ich Tolstojs Menschenbild richtig verstehe, ist die «innere Stimme» ein Teil des Selbst eines jeden Menschen, und zwar Teil seines spontanen Bewußtseinslebens. Sie ist bei jedem Menschen persönlich gefärbt. Bei Kitty ist es eine «innere Stimme», über die sie weiter nicht nachdenkt, sondern die sie einfach hört. Levin, der nichts unreflektiert lassen kann, ernennt sie gleich zum «unfehlbaren Richter». Jedenfalls ist die «innere Stimme» offenbar als die Stimme des Gewissens gedacht; nach alter Auffasung ist das Gewissen das Organ, welches das Göttliche wahrnimmt. Wie weit sich hier bereits Tolstojs spätere Auffassung ankündigt, wonach das Göttliche im Menschen selbst beschlossen liegt, müssen wir nicht entscheiden. Wichtig ist, daß die in diesem Roman häufig beschworene «innere Stimme» auf irgendeine Weise mit Glaubensthematik in Verbindung gebracht wird.

Résumé

Wesentliche These meines Beitrags ist, daß die «innere Stimme» gleichsam die Achse ist, um die sich die gesamte Erzählstruktur des Romans dreht. Die Bewußtseinsdarstellung in Tolstojs Anna Karenina kreist um die Konzeption einer «inneren Stimme» des Gewissens oder des Bewußtseins, die jedem menschlichen Individuum innewohnt, und die auf mehr oder weniger vage Vorstellungen von den Idealen eines unverkürzten menschlichen Lebens und zugleich einer höheren menschlichen Moralordnung bezogen ist. Die «innere Stimme» kann vom Individuum nicht in klare, bewußte Gedanken gefaßt und darum auch sprachlich nie angemessen ausgedrückt, sondern immer nur indirekt zur Geltung gebracht werden. Sie ist heimlich in den meist unangemessenen direkten Dialogen sowie in den berühmten wortlosen Kommunikationsakten anwesend. Sie kommt im Romantext vor allem auch in dem ungemein proteischen und wandlungsfähigen Tolstojschen Erzählmonolog auf die unterschiedlichste Weise, in unterschiedlichster individueller Färbung und in unterschiedlichstem Verhüllungs- und Verfälschungsgrad in den Gedankenströmen der einzelnen Figuren zum Ausdruck, Gedankenströmen, denen der Erzähler – häufig im Modus der erlebten Rede – seine anverwandelnden Formulierungen leiht. Das, was wir als das Gesetz der «inneren Stimme» umschreiben können, umfaßt und vereinheitlicht bei aller weit getriebenen Individualisierung sowohl die dargestellten Figuren, als auch den Erzähler sowie den impliziten Autor, verstanden als übergeordnete semiotische Position im Bedeutungsaufbau des Texts. Das Hörbarmachen der «inneren Stimmen» steht hier sicherlich im Zusammenhang mit Restbeständen der Idee vom göttlich inspirierten Dichter.

Auf einen weiteren Zusammenhang sei am Schluß hingewiesen: auf den Zusammenhang der hier aufgezeigten komplexen Erzählstruktur mit Tolstojs hochgradig perspektivierender Darstellung der menschlichen Innenwelt. Die narrative Perspektive des realistischen Romans ist ein heikles Ding; sie beruht nicht wie bei der Zentralperspektive in der Malerei auf der Konstruktion des einen Fluchtpunkts, von dem aus gesehen alle gezeichneten Linien den Gegenstand in den korrekten perspektivischen Verkürzungen abbilden. Die narrative Erzählperspektive des Realismus beruht vielmehr u.a. auf der Gestaltung von Räumen, deren vorstellungsmäßige plastische Erfahrbarkeit im konkretisierenden Lesen durch fortwährende nachvollziehbare Bewegungen des Erzählerstandpunkts und der Personenstandpunkte in diesen Räumen gesichert wird – zusammen mit dem Erzähler und zusammen mit den Figuren sehen wir einen solchen Raum bald in seiner weiten Ausdehnung, indem wir einen Gegenstand aus den Augen des Erzählers von oben und von ferne wahrnehmen; bald sehen wir denselben Raum von den Standpunkten einer oder mehrerer dargestellter Personen aus. Tolstoj, so will mir scheinen, erreicht einen perspektivischen Effekt bei der Darstellung von Bewußtseinsvorgängen, indem er die Innenwelt einer Person gleichsam verräumlicht. Die Bewegungen der Gefühle und auch der Gedanken werden bei Tolstoj in quasi räumlichen Kategorien dargestellt – sie kommen aus einer Tiefe an eine Oberfläche, sie breiten sich in immer stärkeren wellenartigen Bewegungen aus; oft genug sind sie mit körperlichen Bewegungen der Figuren verbunden (Karenins Wandern in der Wohnung). Der perspektivierenden Darstellung derartiger Gedanken- und Gefühlsbewegungen dient das beständige Gleiten der Erzählerstimme zwischen auktorialer Erzählerrede, Direkter Figurenrede, Direkter Gedankenrede, Indirekter Rede, Erlebter Rede und «innerer Stimme». Das Gleiten zwischen diesen Redeformen weist übrigens in den verschiedenen Situationen durchaus unterschiedliche Gestaltformen auf; hier tut sich zusätzlich ein weites, noch so gut wie unbeackertes Feld komplexerer narrativer Äquivalenzen auf[28].

Man sieht: dem Schriftsteller Tolstoj gelingt die Transformierung eines ursprünglich aufklärungschristlichen Begriffs zum «reinen» Verfahren der Erzähl- und Kompositionstechnik, wobei es als poetisches Äquivalent dargestellter thematischer Problemkomplexe[29] fungiert. In welchem Zusammenhang die «innere Stimme» und die Erlebte Rede samt verwandten Phänomenen bei früheren Schriftstellern steht, bleibt zu untersuchen.


Anmerkungen

[1] Die «skandalöse» thematische Äquivalenz zwischen Levins Gottsuche und Annas Liebe zu Vronskij bleibt auch dann erhalten, wenn man Annas Liebe mit Dmitrij Merezˇkovskij als «dämonische, «unmenschliche» Leidenschaft» verstehen will; vgl. Busch 1966, 24

[2] Bereits in Radisˇcˇevs Reise von Petersburg nach Moskau läßt sich eine Verbindung von Vorformen der Erlebten Rede mit dem Konzept der «Stimme der Natur» im Menschen (das bei Radisˇcˇev sicher nicht allein auf Rousseau zurückgeht) nachweisen – vgl. meine Studie Fieguth 1995.

[3] Aus Anna Karenina wird zitiert nach der Ausgabe Tolstoj 1934; Hervorhebungen in den Zitaten sind von mir – R.F.

[4] Die folgenden Bemerkungen verdanken sich freundlichen Hinweisen meines Kollegen Prof. Ruedi Imbach, Fribourg.

[5] Platon 1974, 233 «Der Grund dazu liegt in dem, was ihr mich oft […] habt sagen hören: daß etwas Göttliches und Dämonisches in mir vorgeht […]. Schon von Kindheit an habe ich das: irgendeine Stimme, die mich jedesmal, wenn sie sich hören läßt, von dem abmahnt, was ich gerade tun will, die mich aber nie zu etwas auffordert.»

[6] Historisches Wörterbuch der Philosophie.1974. Bd. 3 G-H, Sp. 574-592.

[7] Zur biblischen und moraltheologischen Tradition des Gewissensbegriff vgl. zusätzlich den Artikel «Gewissen» im Lexikon für Theologie und Kirche 1960, 4. Band.

[8]  An Literatur zu Rousseau habe ich verwendet: Masson 1916; Markovitch 1928; Starobinski 1971, hier vor allem «Rousseau et l’origine des langues» (Erstpublikation 1966), 356-379; Trousson 1971; Jacquet 1975; de Man 1979.

[9]  Zur Funktion der Widersprüche in diesem Text vgl. de Man 1979, 221-245

[10]  Die zeitgenössischen Vertreter dieser Kirchen haben es genau so gesehen, s. Trousson 1971, 41-43; bedeutend nuancierter stellt dagegen die Dinge dar Masson 1916.

[11] Zitiert nach der Emile-Ausgabe in Rousseau 1905, vol. 2; zur jüdischen und christlichen Tradition der Buchstabenmystik, die bei Rousseau offenkundig nachklingt, vgl. Averincev 1977 (inbesondere das Kapitel «Slovo i kniga»).

[12] La conscience est la voix de l’âme, les passions sont la voix du corps. Est-il étonnant que souvent ces deux langages se contredisent? et alors lequel faut-il écouter? (Emile, 258)

[13] Auch hierfür lassen sich gewisse Vorbilder in den antiken und jüdischen sowie christlichen Gewissenstheorien finden – die innere Sprache als das von Gott inspirierte Gewissen; die äußere Sprache als Menschenwerk. S. hierzu bei Hennigfeld 1994 die Kommentare zu Augustinus und inbesondere auch zu Thomas von Aquin («VIII. Thomas von Aquin. 3. Das innere Wort: Super evangelium S. Ioannis lectura – 223-228). Vgl. auch Borst 1957-1963.

[14] «Rousseau et l’origine des langues»: Starobinski 19712, 356-379

[15] Quelle que soit la cause de notre être, elle a pourvu à notre conservation en nous donnant des sentiments convenables à notre nature; et l’on ne saurait nier qu’au moins ceux-là ne soient innés. Ces sentiments, quant à l’individu, sont l’amour de soi, la crainte de la douleur, l’horreur de la mort, le désir du bien-être. Mais si, comme on n’en peut douter, l’homme est sociable par sa nature, ou du moins fait pour le devenir, il ne peut l’être que par d’autres sentiments innés, relatifs à son espèce; car, à ne considérer que le besoin physique, il doit certainement disperser les hommes au lieu de les raprocher. Or c’est du système moral formé par ce double rapport à soi-même et à ses semblables que naît l’impulsion de la conscience. Connaître le bien, ce n’est pas l’aimer: l’homme n’en a pas la connaissance innée; mais sitôt que sa raison le lui fait connaître, sa conscience le porte à l’aimer; c’est ce sentiment lui est inné. (Emile, 261 f.).

[16] Hierzu jetzt in bequemer Zusammenfassung Hennigfeld 1994, VI.Augustinus, 2. Die Abwertung der Sprache: De magistro , 133-146; 3. Das Wort Gottes: De trinitate, 146-167; VIII. Thomas von Aquin. 3. Das innere Wort: Super evangelium S. Ioannis lectura – 223-228.

[17] Vgl. dazu folgende, in ihrer Verbindung von Schlichtheit, Rhythmisierung und Eindringlichkeit besonders überzeugende Passage aus dem Emile: «Je n’ai qu’à me consulter sur ce que je veux faire: tout ce que je sens être bien est bien, tout ce que je sens être mal est mal: le meilleur de tous les casuistes est la conscience; et ce n’est que quand on marchande avec elle qu’on a recours aux subtilités du raisonnement. Le premier de tous les soins est celui de soi-même: cependant combien de fois la voix intérieure nous dit qu’en faisant notre bien aux dépens d’autrui nous faisons mal! Nous croyons suivre l’impulsion de la nature, et nous lui résistons; en écoutant ce qu’elle dit à nos sens, nous méprisons ce qu’elle dit à nos cœurs: l’être actif obéit, l’être passif commande» (Emile  257 f.).

[18] Mit dieser These geraten wir in die Zone einer früher leidenschaftlichen, heute eher halbherzigen Polemik um Tolstoj, die sich erst in den allerletzten Jahren von neuem ein wenig belebt. Die einen, von Lukács bis Thomas Mann, rühmten ihn als den großen Dichter, der seine Figuren und ihre Seelen in ihrer menschlichen Einzigartigkeit plastisch machen kann, und zwar letztlich unabhängig von seinen «ideologischen» Affinitäten. Andere, von Anna Achmatova bis Michail Bachtin und weit darüber hinaus fühlen sich von seinem rigiden Moralismus unangenehm berührt. C∏udakov 1992, 139 formuliert: «Sposob organizacii fenomenov vnutrennego mira celikom «avtorskij» – und er zitiert B. Ejchenbaum mit den Worten «Tolstoj vedet sebä so svoimi personaΩami kak vlastitel´, kak despot, – on zastavläet ix dumat´, on sly‚it vse, çto oni dumaüt, podvergaet ix pytke, poka oni ne skaΩut vsego, i qto potomu, çto on – nad nimi, on stra‚en im, on imeet pravo videt´ ix naskvoz´» (Qjxenbaum 1928, 177). C∏udakov 1992, 144 f. bringt diese Meinungsverschiedenheit dann aber auf die schöne Formel: «Mir Tolstogo avtorski ävlen (pervaä toçka zreniä). No odnovremenno – s drugoj toçki zreniä – on i samoävlen. Tol´ko oba utverΩdeniä vmeste sposobny dat´ kartinu, risuüwuü opredeläüwie svojstva ego xudoΩesstvennoj sistemy, odnoj iz samyx original´nyx v mirovoj literature». Diesen Standpunkt teilt auch Durey 1992, 362: «[…] Tolstoj can be both monologic and dialogic.»

[19] Soweit ich sehe, ist das Problem der Erlebten Rede in Anna Karenina aus folgenden Gründen bisher nicht recht zum Zug gekommen. Zum einen wurde es durch die Konzepte Dialektik der Seele (C∏ernysˇevskij), Innerer Monolog, Bewußtseinsstrom, die alle auf Tolstoj Anwendung fanden (s. Aucouturier 1957) gleichsam verschlungen; ferner ging es auch in der bereits von den ersten Kritikern bemerkte Technik der Beschreibung von Situationen aus der Perspektive einer dargestellten Figur auf; und schließlich und endlich schien das Konzept der Erlebten Rede seit Bachtin gleichsam für Dostoevskij reserviert. Den ersten expliziten Hinweis auf die erlebte Rede in Anna Karenina finde ich denn auch erst bei Etkind 1984, dessen Entdeckung aber durch die abwegige Übersetzung von nesobstvenno prämaä reç´ mit «discours direct impersonnel» (richtig: style indirect libre) stark beeinträchtigt wird.

[20] Mit vollem Recht weist Balalykina 1993, 113 darauf hin, daß der Einschub «(«refleksy golovnogo mozga» – podumal Stepan Arkad´iç, kotoryj lübil fiziologiü)» in die Erlebte Rede Oblonskijs einen Akzent grober auktorialer Ironisierung enthält, insbesondere im Doppelsinn des Wortes «fiziologiä».

[21] Bei dem Satz «On ne mog teper´ raskaivat´sä v tom, çto on, tridcatiçetyrexletnij, krasivyj, vlübçivyj çelovek, ne byl vlüblen v Ωenu, mat´ päti Ωivyx i dvux umer‚ix detej, byv‚uü tol´ko godom moloΩe ego.» ließe sich einwenden, daß das Syntagma Ωenu, mat´ päti Ωivyx i dvux umer‚ix detej, byv‚uü tol´ko godom moloΩe ego aufgrund der unterstrichenen hochgradig schriftsprachlichen Formulierungen nicht als Erlebte Rede hingehen könne. Aber die geschilderte Pascha-Logik prägt dem Satz dermaßen die Wertungsperspektive der dargestellten Figur auf, daß er dennoch als Erlebte Rede gewertet werden muß. Auch läßt sich hier ein feines Tolstojsches Spiel mit den spontanen Sprach- und Denkreaktionen von leitenden Beamten ansetzen, zu denen nicht nur Karenin, sondern eben auch Stiva Oblonskij gehört.

[22] Eine wichtige Rolle spielt in dem ganzen Abschnitt die auffallend häufige Verwendung von Vor- und Vatersnamen. Bei der ersten Verwendung anscheinend unverfänglicher Bestandteil der auktorialen Erzählerrede, wird im Verlauf des ganzen Kapitelchens die in grotesker Häufung auftretende Formel Aleksej Aleksandrovicˇ zum Pro-Nomen der Erlebten Rede für das «ich» Karenins.

[23] Eine thematische Äquivalenz des Kontrasts besteht zwischen dem Ehebrecher Oblonskij und dem gehörnten Ehemann Karenin. Sie wird flankiert durch eine narrative Äquivalenz, welche durch ein charakteristisches Gleiten zwischen den Redeformen in beiden Passagen hergestellt wird. Zum Begriff der thematischen und der narrativen Äquivalenz s. Schmid 1984.

[24] Halbe Formulierungen, mit denen Kitty auf die Innere Stimme reagiert, werden uns in einer Redeform mitgeteilt, die hart auf der Grenze zwischen Indirekter und Erlebter Rede steht: V tom li ona raskaivalas´, çto zavlekla Levina, ili v tom, çto otkazala, – ona ne znala. No sçast´e ee bylo otravleno somnieniämi.

[25] Es ist nicht unabdingbar, aber doch interessant, dies mit einer Formulierung Rousseaus in Verbindung zu bringen: «J’aime mieux m’en rapporter à ce juge intérieur et incorruptible qui ne passe rien de mauvais et ne condamne rien de bon, et qui ne trompe jamais quand on le consulte de bonne fois» (Lettre à M. Perdriau, 26 septembre 1754; zitiert nach Markovitch 1928, 133, Anm. 4). Vgl. auch Roussau, Emile 22 «Conscience! conscience! instinct divin, immortelle et céleste voix; guide assuré d´un être ignorant et borné, mais intelligent et libre; juge infaillible du bien et du mal, qui rends l´homme semblable à Dieu!». H. Reiner gibt in seinem gehaltvollen Lexikonstichwort «Gewissen» interessante Hinweise auf Vorläufer dieser spezifischen Gewissensmetaphorik; Seneca bezeichnet demnach das Gewissen als inneren Beobachter und Wächter («observator et custos»; Ep. 41,2 – 577); Philon spricht ähnlich vom «inneren Ankläger» bzw. «Richter» (eautou kathgoro», Det. pot. insid. 23; dikasth», Fug. 118 – 578); so auch Johannes Chrysostomos (580); für Calvin ist das Gewissen ein den Menschen «quasi adiunctus testis, qui sua peccata eos occultare non sinit quin ad iudicis tribunal rei pertrahantur»; in dieser Tradition steht Kant, wenn er formuliert: «Hiermit stimmen auch die Richteraussprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen, vollkommen überein. Ein Mensch mag künsteln, soviel als er will, um ein gesetzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen, als bloße Unbehutsamkeit, die man niemals gänzlich vermeiden kann, folglich als etwas, worin er vom Strom der Naturnotwendigkeit fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber für schuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Advokat, der zu seinem Vorteil spricht, den Ankläger in ihm keineswegs zum Verstummen bringen könne […]» – Kant 1922, Bd. V, Kritik der praktischen Vernunft, 107.

[26] Vgl. auch Markotvitch 1928, 147: «La raison leur paraît un danger pour la vie religieuse. Devant «l’insuffisance de l’esprit humain» et l’ignorance des hommes, Rousseau s’abandonne «à la lumière intérieure plus qu’à la raison» [La Nouvelle Heloïse, éd. Garnier, 380]. Pour lui «les idées générales et abstraites sont la source des plus grandes erreurs des hommes» [ibidem, 602-603], et il s’éloigne avec horreur des «ces abîmes de métaphysique». De même Tolstoï croit que «les conclusions directes de la raison sont erronées» [Journal intime (1853-1865, 24 août 1854, I, 199] .Vgl. zu Levins Geisteszustand auch ein Zitat aus Emile. 248: J’apperçois Dieu partout dans ses œuvres; je le sens en moi, je le vois : J’apperçois Dieu partout dans ses œuvres; je le sens en moi, je le vois tout autour de moi; mais sitôt que je veux le contempler en lui-même, sitôt que je veux chercher où il est, ce qu’il est, quelle est sa substance, il m’échappe, et mon esprit troublé n’apperçoit plus rien.

[27] Transformation beider Passagen in Direkte Rede: Kogda ä  dumaü o tom, çto ä  takoe i dlä çego ä  Ωivu, ä ne naxoΩu  otveta i prixoΩu v otçaän´e; no kogda ä perestaü spra‚ivat´ sebä ob qtom, ä  kak budto znaü , i çto ä  takoe i dlä çego ä Ωivu, potomu çto tverdo i opredelenno dejstv i Ωivu; daΩe v qto poslednee vremä ä gorazdo tverΩe i oprdelennee Ωivu, çem preΩde. (◊ÛÛÛ, 10).

RassuΩdeniä privodät  menä  v somneniä i me‚aüt  mne  videt´, çtó dolΩno i çtó ne dolΩno. Kogda Ωe ä  ne dumaü, a Ωivu, ä  ne perestavaä çuvstv v du‚e svoej prisutstvie nepogre‚imogo sud´i, re‚av‚ego, kotoryj iz dvux vozmoΩnyx postupkov luç‚e i kotoryj xuΩe; i kak tol´ko ä postupaü  ne tak, kak nado, ä  totças Ωe çuvstv qto.(◊ÛÛÛ, 10).

[28] Einige von ihnen habe ich in den obigen Darlegungen angedeutet; eine entsprechend verfeinerte Kompositionsanalyse des Romans und einer Figuren müßte aber erst noch geleistet werden.

[29] Die philosophischen und eventuell theologischen Implikationen und Hintergründe derartiger perspektivierender Darstellungen von Außen- und metaphorischen Innenräumen im Realismus, in der ja ein Moment der Seinsanerkennung einer nicht vom Menschen geschaffenen Welt liegt, sind nicht mehr Thema dieses Beitrags.

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