Rolf Fieguth (Fribourg)
Osip Mandel´štams literaturwissenschaftliches Prosa-Poem Gespräch über Dante (1933). Eine Lektüreempfehlung.[1]
Motti:
– Undenkbar, Dantes Gesänge zu lesen, ohne sie zur Gegenwart hinzulenken. Dazu sind sie geschaffen. Sie sind Geräte zum Einfangen der Zukunft. Sie erfordern einen Kommentar im Futurum.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 67)
– Wenn Dante zum Thema dieses Gesprächs gewählt wurde, so nicht, weil ich etwa vorschlagen wollte, man möge ihn im Sinne des Lernens bei den Klassikern beachten und ihn zusammen mit Shakespeare und Lev Tolstoj an etwas wie eine Kirpotinsche Table d´hôte[2] setzen, sondern weil er der größte und unstrittigste Herr der ein- oder mehrfach wandelbaren poetischen Materie ist, der früheste und zugleich stärkste chemische Dirigent einer lediglich in Fluten und Wellen, in Aufschwüngen und lavierenden Zickzackbewegungen existierenden poetischen Komposition.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 83)
Was macht uns eigentlich Lust und Freude am theoretischen Nachdenken über Literatur und am Interpretieren von Werken? Unsere theoretisch-wissenschaftlichen Antriebe sind seit dem Verhallen der heftigen Diskussionen vergangener Jahrzehnte ein wenig erschlafft, wir weichen gern den Geröllhalden der Texte aus und wandeln lieber auf den fußfreundlicheren Gründen des biographischen, politisch-historischen oder philosophischen Kontexts. In dieser etwas müden Stimmungslage ist der Hinweis auf eine vollkommen unkonventionelle, scharfsinnige, erregende und anregende literaturwissenschaftliche Gedankendichtung nicht verkehrt, wie Osip Mandel´štamsGespräch über Dante eine ist. Es soll hier Vorfreude auf die Lektüre dieses Werks erzeugt werden.
Man merkt seiner avantgardistischen Lebhaftigkeit, dem fast übermütigen Gedankenreichtum und kompositorischen Virtuosentum nicht an, dass es 1933 in einer Epoche der kulturpolitischen Lähmung in der Sowjetunion geschrieben wurde[3]. Es bezieht sich implizit polemisch auf eine kulturpolitische Situation der Sowjetunion, da die Avantgarden abgewürgt und mit der Idee einer bevorstehenden Weltrevolution auch die fruchtbar begonnene Erarbeitung einer modernen, revolutionären Perspektive auf die Weltkultur verabschiedet wurde. Wenn Mandel´štam ganz überwiegend einige Gesänge des Inferno ins Bild bringt, Dantes Eigenschaft als Verbannter hervorhebt und nicht versäumt, auf die gegenseitige Durchdringung von Gefängniswelt und normaler Welt im Italien des 14. Jahrhunderts zu verweisen[4], so sind dies auch Kommentare zur sowjetischen Wirklichkeit um 1930. Zum anderen bezieht es Stellung gegen die theologisch-geistesgeschichtliche Tradition des Schreibens über Dante (vgl. dazu insbesondere das IV. Kapitel). Mandel´štams neues Reden über Dantes Dichtung schließt vor allem kühn an das konkret Handwerkliche sowie an die moderne Naturwissenschaft an, was nachstehend näher illustriert werden soll. Neu will aber in demselben Zusammenhang auch Mandel´štams Reden über die Person Dantes sein. Sie wird aus der abstrahierenden Verklärung späterer Jahrhunderte herausgeholt und in ihrer konkreten Menschlichkeit, ihrem Sinn für das Materielle am Prozess der Entstehung von Malerei und Poesie, und mit ihrer spezifischen, lebensnahen ›Unkultiviertheit‹ beleuchtet. Mandel´štam sieht Dante als den »Raznočinec« [5], den »Kulturparvenü«, der sich oft »nicht zu benehmen weiß«, grobe Wörter in seiner Dichtung verwendet und sich einen Sinn für das handgreiflich Konkrete bewahrt.
Im Zusammenhang des vorliegenden Bandes interessiert das Gespräch als hochmoderne, insbesondere aber auch hoch lebendige Gedankendichtung über Poesie, Kunst und weltkulturelle Tradition, und somit als poetische Literaturtheorie oder Autorpoetik. Zwar wäre es schöner gewesen, wenn die vorliegende Hinführung auf Mandel´štams ungewöhnlichen Text auch sachkundige Kommentare zu den darin vorgetragenen speziellen Interpretationen der Göttlichen Komödie enthielte; dafür fehlt mir aber die Kompetenz.
1. Das Gespräch über Dante als literaturwissenschaftliches Poem in Prosa
Der Anfang des Gesprächs erinnert an den Stil (nicht unbedingt an die Konzeptionen) der russischen Formalisten:
Das dichterische Sprechen ist ein gekreuzter Prozess, und zwar setzt es sich aus zweierlei Klängen zusammen: Der erste dieser Klänge ist die für uns hörbare und spürbare Veränderung der Instrumente des dichterischen Sprechens, die mitten in dessen leidenschaftlichem Ausbruch entstehen; der zweite Klang ist das eigentliche Sprechen, das heißt die von den genannten Instrumenten geleistete Intonations- und phonetische Arbeit.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 7).
Solchem Stil zum Trotz ist das Ganze aber – nach meiner Einschätzung, und wie schon angedeutet – eine Gedankendichtung in Prosa, die sich die Freiheit nicht nur zu lockerer, unakademischer Themen- und Gedankenführung nimmt[6], sondern eine förmliche Kultur des Gedankensprungs bzw. des künstlerisch geplanten Gedankenfluges in alle Richtungen praktiziert. Statt wie üblich die nervenschonende logikgefestigte Gedankenstrickleiter zu knüpfen, konfrontiert uns der Dichter mit dem poetischen Wort in Aktion, er spricht uns über die besagten Probleme an – was macht uns überhaupt Spaß am Lesen, Nachdenken und Reden über Literatur? – durch das poetische Tun, das er uns vorführt.Er beseitigt die beruhigende Distanz zwischen Meta- und Objektebene und zieht uns in den schönen Wirrwarr der letzteren hinein, indem er die Objektebene zur Metaebene macht, und umgekehrt.
Dies vollführt er unter anderem durch die verblüffende, frei assoziierende Verwendung einer technisch-handwerklichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit und Metaphorik, die zum einen die ›Modernität‹ der Danteschen und der eigenen Dichtung hervorhebt, die aber zum anderen und vor allem in ihrer frappierenden Konkretheit jeder gedankenblassen Abstraktion ein Schnippchen schlägt, und zwar dergestalt, dass der Text auch dadurch zur ›dunklen‹ und ausdeutbaren modernen Gedankendichtung, zu einem »Poem« wird.
Der russische Dichter kommt also Dantes »Poem«[7] nicht mit einem logikgefestigten Traktat, sondern mit einem eigenen »Poem«, wenngleich in Prosa. Dahinter steckt eine besondere Strategie, von der noch die Rede sein wird.
Zunächst aber: Was ist ein Poem?
Das narrative Poem, zumindest in seiner romantischen, symbolistischen oder klassisch-modernen Version, benutzt als Folie die Struktur der Novelle, deformiert deren Erzählzusammenhang und schwächt überhaupt die Dominanz des narrativen Prinzips zugunsten anderer, assoziativer und poetisch-lyrischer Kohärenzprinzipien. Das ›philosophische‹ Poem benutzt analog dazu als Folie den Aufbau des philosophischen Traktats, deformiert dessen thematische Schrittfolge bei der Entwicklung einer gedanklichen Konzeption und schwächt die klare Dominanz einer einheitlichen gedanklichen Sinnlinie gleichfalls zugunsten der Spürbarkeit poetisch-assoziativer Zusammenhänge. In beiden Typen des Poems wird der hierarchische Unterschied zwischen Abschweifung und Hauptlinie minimalisiert oder sogar aufgehoben, daher die herausragende Rolle der Abschweifungen oder Digressionen in den Poemen der genannten literarhistorischen Situationen. Mandel´štams stark vom klassisch-modernen Akmeismus[8] geprägtes Gespräch kreiert den Subtypus des ›literaturwissenschaftlichen Poems in Prosa‹[9].
Hier dominiert die Abschweifung auf allen Ebenen. Das Einzelwort wird durch – paronomastische oder andere – Abschweifungen zum lautlich-semantischen metamorphotischen »Zyklus«[10] erweitert: Das »Zitat« (citata) wird zur ununterbrochen zirpenden »Zikade« (cikada); das »Redeorgan« gerät zum »Redewerkzeug« und schließlich zum modernen Gerät oder Apparat (snarjad), zum Beispiel zum Fluggerät (samolet); der Versrhythmus wird über den metrischen Versfuß zum Werkzeug des Gehens und »bringt« die Poesie und das dazugehörige Denken »auf die Beine«; die Schreibfeder (pero) wird auf den Vogel (ptica) und damit auf den Begriff des Fluges (lët) weiter geführt und mit dem Stab in der Hand des Dirigenten in Verbindung gebracht, und vieles andere mehr. Abschweifungen sind auch die zahlreichen Metaphern und Vergleiche mit ihren charakteristischen »Ausflügen« in verschiedenste Bereiche der Technologie und Naturwissenschaften.
Nach analogem Abschweifungs-Prinzip wird die Satzverknüpfung, der Aufbau des Absatzes und des Kapitels geregelt. Auch bei der Verkettung der elf Kapitel ist das Prinzip der Abschweifung nicht außer Kraft gesetzt. Das alles hat mit der schon angedeuteten Strategie zu tun. Hier wird nämlich ein Poem, Dantes Göttliche Komödie, in seiner radikal zentrifugalen Dynamik sichtbar gemacht durch ein anderes »Poem«, dasjenige Mandel´štams, das selbst durch zentrifugale Dynamik gekennzeichnet ist. Folgende zentrale Passage des Gesprächs bezieht sich ebenso gut auf Dantes wie auf Mandel´štams Poem:
Ich will sagen, dass die Komposition sich aus keiner Anhäufung von Einzelteilen ergibt, sondern daraus, dass sich ein Detail nach dem andern von der Sache losreißt, von ihr weggeht, davonflattert, sich vom System abspaltet, in einen eigenen funktionalen Raum oder funktionale Dimension abgeht, aber jeweils zu einem streng vorgeschriebenen Zeitpunkt und unter der Voraussetzung einer dazu herangereiften und einmaligen Situation.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 17f. )
Man kann hier aber noch einen Schritt weiter gehen. Im V. Kapitel lanciert Mandel´štam den Begriff der »heraklitischen Metapher«, der Metapher, die ihren Gegenstand flüssig oder überflüssig macht, ihn »durchstreicht« (perečerkivaet) und seine Hierarchie und Struktur vernichtet, indem sie seinen Prozesscharakter, sein unabgeschlossenes Werden hervortreibt:
Manchmal vermag Dante eine Erscheinung so zu beschreiben, dass nicht das Geringste von ihr übrig bleibt. Dazu bedient er sich eines Verfahrens, das ich ›heraklitische Metapher‹ nennen möchte: Sie unterstreicht die Fluidität eines Phänomens mit derartiger Kraft und durchstreicht es dann mit derartig schwungvollen Strichen, dass der direkten Anschauung, ist das Werk der Metapher getan, im Grunde nichts mehr zu beißen übrig bleibt.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 59)
Analog hierzu sehe ich das Verhältnis des Mandel´štamschen zu dem Danteschen Werk: Das Gespräch ist gleichsam selbst eine »heraklitische Metapher« für Dantes Göttliche Komödie. Diese wird hier mehr oder weniger heimlich »durchgestrichen«, indem das moderne Gesprächspoem deren dynamisch-zentrifugale Dynamik poetisch vor Augen führt.
Die Kultur der Abschweifungen hat also durchaus Methode. Auch eine eigenwillig gebaute und geformte Sinnlinie des Gesprächs lässt sich sehr wohl sichtbar machen.
2. Die elf Kapitel und ihre merkwürdige Verkettung
Mit fortschreitender Lektüre wird die Verwirrung über all die Gedankensprünge zur Einsicht, dass in spannender endloser Variation immer dieselben Grundgedanken veranschaulicht, von jedem kleinen Einzelaspekt aus stets auch die Gesamtproblematik des Kunstwerks anvisiert werden – des Kunstwerks, das keine statische Struktur sein soll, sondern ein Energieausbruch, der sich unter immer neuen Energieausbrüchen beständig nach allen Seiten hin ausbreitet und sich durch diese Bewegung seinen eigenen Raum und seine eigene Zeitlichkeit schafft. Und dennoch schält sich wohl bei jedem Kapitel ein verborgenes Hauptthema heraus, das gewissermaßen musikalisch ins nächste Kapitelchen und ins nächste Hauptthema transformiert wird; diese Hauptthemen bilden in ihrer seltsamen Verkettung eine rekonstruierbare Sinnlinie, die allerdings nicht imperativisch dominiert.
Im ersten Kapitel kommen wie in einer »Ouvertüre« die wichtigsten Themen und Motive des Gesprächs vor. Kurz angerissenes Thema des Kapitelbeginns ist die Phonetik der poetischen Rede; dieses wird sogleich in einen poetischen Konflikt mit dem viel allgemeineren Problem der Künstlichkeit oder »Technizität« der poetischen Kunst gebracht, die in die Natur der Sprache eindringt. An die Stelle der herkömmlichen fertigen »[dichterischen] Bilder« treten die besonderen Umstände ihrer Herstellung, die »Werk(zeug)mittel« und die Strategie des Verwandelns und Kreuzens. Dante sei kein »Bilderfertigsteller« sondern ein »Werkzeugmeister der Poesie« und ein »Stratege der Verwandlungen und Kreuzungen«. Für den Sachkenner (der ich nicht bin) anschaulich ist hier der Vergleich mit der Technik des Teppichwebens, wo durch Kreuzung vieler verschiedener Webstrukturen (Kettfäden) unregelmäßige Ornamente, nicht aber wiederkehrende Muster entstehen sollen. Nicht die Materie als Materie ist wichtig (diese kann auch »Wasser« sein), sondern die sich kreuzenden Musterimpulse. Da aber die Materie die italienische Sprache ist, wird ihr hier mit der amüsanten Festlegung auf »infantilen, dadaistischen Klang« (schon im Mittelalter!) eigenwilliger Respekt gezollt, und zwar mit dem schönen Zitat
Е consolando usava l’idioma
Che prima i padri e le madri trastulla;
[…]
Favoleggiava con la sua famiglia
De’Troiani, di Fiesole, e di Roma.
(Par., XV, 122-123, 125-126)
Und brauchte, lullend, jene Redeweise,
An der zuerst sich Väter freun und Mütter;
[…]
[Die andere] Erzählte Märchen in der Ihr´gen Mitte,
Von Rom und Fiesole, und den Trojanern
(Dante: Göttliche Komödie, S. 343)
Als Hauptgedanke des Kapitels kann festgehalten werden: Das Metrum, der Versfuß, setzt das Werk in Bewegung.Poetische Kunst ist nicht Abbildung von statischer oder bewegter Wirklichkeit, sondern sie schafft sich ihre eigene technisch-werkzeugbezogene Wirklichkeitsbewegung, und damit auch ihren eigenen mehrdimensionalen Raum und ihre eigene Zeit. Bemerkenswert ist die Digression über die »Magnetisierung« der Verben durch ihre verschiedenen Tempusformen (darunter imperfetto, passato rimoto, perfetto composito).
Ausgehend von einer eigenartigen Verschränkung von Averroes und Aristoteles in Inferno IV, v. 144 kommt es in diesem Kapitel auch zu einem berühmt gewordenen Exkurs über die Funktion der Zitate:
Der Schluss des vierten Gesanges des Inferno ist eine wahre Zitatenorgie. Hier finde ich die reine und unvermengte Demonstration von Dantes Anspielungsklaviatur.
Eine Klaviertastenwanderung über den gesamten Gesichtskreis der Antike hin. Etwas wie eine Chopinsche Polonaise, wo der bewaffnete Cäsar, mit den blutunterlaufenen Augen eines Greifes, und Demokrit, der die Materie in Atome zerlegte, nebeneinander herschreiten.
Zitate sind keine Exzerpte. Zitate sind Zikaden. Unaufhörliches Zirpen ist ihnen eigen.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 17)
Der Fluss der Assoziationen setzt sich über Musik und Orgelbau sowie Medizin fort bis zur Geologie und Kristallographie – alles Vergleiche und Metaphern für den dynamischen, zentrifugalen Bewegungszustand des literarischen Werks und der vieldimensionalen Raumzeitlichkeit, die es sich schafft –, nicht nur als Ganzes, sondern auch in den Teilbereichen seiner »Bildlichkeit«. Bilder, Vergleiche und Metaphern sind nicht beschreibend bei Dante, sondern versinnbildlichen die Struktur des Gegenstandes, der selbst ganz unwesentlich werden kann.
Dieser Gedanke wird nun im kurzen dritten Kapitel in geradezu logischem Anschluss vertieft – und zwar im Wesentlichen mit Hilfe der Metapher der Kristallographie, einer Wissenschaft, die es mit Gestaltungen zu tun hat, welche die Vorstellung des dreidimensionalen Raums sprengen müssen – ähnlich den Waben der Bienen.
Nicht weniger logisch setzt das 4. Kapitel diesen Gedankengang fort mit einer polemischen Wendung gegen die, wie Mandel´štam meint, einseitig christliche Allegorisierung von Dantes Dichtung und ihrer »Bildlichkeit«. Der russische Dichter sieht hier einen Einsatz von lebendigen, kräftigen Farben, ja sogar der chemischen Komponenten der Malerfarben, und begründet von hier aus sein Postulat und seinen Versuch, für Dante einen naturwissenschaftlich geprägten Interpretationszugang zu erarbeiten.
Der Vorgang der chemischen Reaktion verschafft ihm die Idee der »(ein- oder mehrmaligen) Verwandelbarkeit der poetischen Materie« (obratimost’ / obraščaemost’), die er bei Dante beständig praktiziert sieht und die er gegen die Allegoriebildung setzt. Das atomare bzw. molekulare Wesen der Materie bringt ihn zu der Vorstellung, dass in der Materie – wie auch im Kunstwerk – im wesentlichen ›nur‹ Energien und Bewegung wirksam sind.
Einen Höhepunkt erreichen dieseGedankenflügein dem utopischen Bild vom Flugzeug, das während des Fluges neue Flugzeuge produziert und diese gezielt zu deren selbstständigem, eigenem Flug aussetzt – eine der eindrucksvollsten Mandel´štamschen Metaphern für seine Sicht der zentrifugalen Bewegungsenergie des literarischen Kunstwerks.
*
Die erste Hälfte des Gesprächs endet im V. und VI. Kapitel mit der Theorie der »heraklitischen Metapher« (s.o.) und der unzerstörbaren Prozessualität des unendlich »werdenden« Werks (die Kunst kennt keine fertigen Sachen und keine festen Sinnstrukturen) sowie mit einer an der Relativitätstheorie anknüpfenden Theorie von literarischem Raum und literarischer Zeit, die durch die Bewegungen des Kunstwerks erst geschaffen werden. Es liegt am Tage, dass Mandel´štam aus Dantes Göttlicher Komödie die hochmodernen Konzeptionen von Entstehung (»Urknall«) und unendlich dynamischer Ausbreitung des Weltalls ablesen und diese auf das Wesen des Kunstwerks projizieren möchte. Dass hier zugleich auch wieder die Geologie, die Mineralogie, die Kristallographie zu Ehren kommen, sei nur am Rande vermerkt.
Mustert man nun die zweite Hälfte des Gesprächs, macht man eine überraschende Entdeckung: Es geht gewissermaßen noch einmal von vorne los, wenn auch mit womöglich noch höherer poetischer Intensität. Ich hege die Vermutung, dass Mandel´štam hier gewissermaßen im Flug ein zweites Flugzeug produzierte und es auf den Flug schickte – oder, modern raketentechnisch gesagt: Er zündet hier eine zweite Stufe.
Wieder sind es einfache, ›niedrige‹ Aspekte des literarischen Werks, die zu immer neuen Ausgangspunkten für metaphernreiche Veranschaulichungen der Werkkomposition und der literarischen Raum- und Zeitbildung verwendet werden, aber es sind nicht genau dieselben Aspekte, wie zuvor. Nunmehr ist es das Timbre (die Klangfarbe) der Wörter und Sätze mit großartigen Ausflügen in die Klangfarben der Musikinstrumente (Kap. 7), ferner die Sprechwerkzeuge des Dichters (die Bewegung der Sprech- und Essmuskeln; Kap. 8 und 9), seine Schreibwerkzeuge mit eindrucksvollen Digressionen zur »chemischen Musik« und zur Geschichte und Rolle des Dirigierstabes (Kap. 10). Sie alle sind maßgeblich an der Werkkomposition und der Erzeugung der literarischen Raum- und Zeitgebilde (Kap. 11) beteiligt, und erneut, wie schon am Ende der ersten Hälfte, wird dem modern naturwissenschaftlichen Konzept von Zeit und Raum ein Hinweis auf ältere, romantische Erkenntnisse der Kristallographie und der Gesteinskunde (Stein und Zeit) mit ausdrücklichem Verweis auf Novalis[11] hinzugefügt.
Mit verstärktem Schwung und Nachdruck wird für den Mut auch zur literaturwissenschaftlichen Anleihe bei modern naturwissenschaftlichen Konzeptionen sowie bei der Orgelmusik und der symphonischen Musik plädiert und eine Konzentration nicht auf die »Formbildung« (formoobrazovanie), sondern auf die »Impulsbildung«[12] (poryvoobrazovanie) im literarischen Kunstwerk gefordert.
Den Abschluss bildet ein deutlich revolutionärer Protest gegen die ordnende Syntax, der bereits im 10. Kapitel gestartet wurde:
Die alte italienische Grammatik ist, ebenso wie unsere russische, immer derselbe aufgeregte Vogelschwarm, dieselbe bunte toskanische »schiera«, das heißt die florentinische Menge, die die Gesetze wechselt wie Handschuhe und gegen Abend die am Morgen desselben Tages für das Allgemeinwohl erlassenen Anordnungen vergessen hat.
Es gibt keine Syntax. Es gibt einen magnetisierten Energieausbruch/Impuls, eine Sehnsucht (toska) nach dem Schiffsheck (korabel´naja korma), eine Sehnsucht nach Wurmgehäck (červjačnyj korm), eine Sehnsucht nach dem noch nicht erlassenen Gesetz, eine Sehnsucht (toska) nach [dem toskanischen] Florenz.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 111f.).
Mit anderen Worten – die Syntax bringt uns durcheinander. Alle Nominative müssen durch richtungsanweisende Dative ersetzt werden. Das ist das Gesetz der ein- oder vielfach wandelbaren dichterischen Materie, die nur im Energieausbruch/Impuls der Ausführung existiert. […]
Hier ist alles umgekehrt: die Substantive sind nicht Subjekt, sondern Ziel des Satzes. Gegenstand der Dantewissenschaft wird eines Tages, wie ich hoffe, die gegenseitige Unterordnung von Energieausbruch/Impuls und Text sein.
(nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 125).
Ich habe zu zeigen versucht, dass Mandel´štams literaturwissenschaftliches Poem in Prosa seine zentrifugale Struktur ganz methodisch bildet und einsetzt und dabei auch eine – quasi in zwei Stufen beschleunigte – Entfaltung einer Sinnlinie bewerkstelligt. Zu den Kompositionsgeheimnissen dieses Werks wäre noch viel zu sagen: Die meist sehr kurzen Absätze ähneln Strophen, die Kapitel sind gleichsam technologisch-literaturwissenschaftliche ›Gesänge‹, manche Kapitelschlüsse stehen zu anderen Kapitelschlüssen in einem Verhältnis thematischer Äquivalenz.
Ferner ist die naturwissenschaftlich-technische Metaphorik, nach meiner Einsicht, über das Gespräch hin so aufgebaut ist, dass ein hoch modernes thematisches Zentrum mit Metaphern älterer Techniken eingekreist wird. Von »Werkzeugen, Schreibutensilien, Kettfäden, Farbenherstellung, Orgelbau, Segeltechnik, Mineralogie und Kristallographie« ist viel die Rede, aber fast noch mehr von der modernen Physik und Mathematik mit ihrer neuen Kosmologie und ihren neuen Konzepten zu Materie, Energie, Bewegung, Raum und Zeit sowie zur Entstehung und Ausbreitung des Universums. Und eben hier liegt das Zentrum dieser gesamten Metaphorik, die vom mathematisch-naturwissenschaftlichen Standpunkt aus höchstwahrscheinlich (ich kann es nicht beurteilen) recht willkürlich aus Einzeltheoremen verschiedener seinerzeit aktueller mathematischer und physikalischer Konzeptionen zusammengesetzt ist, und doch ihre eigene Kohärenz entwickelt. All diese Theoreme verwendet Mandel´štam neben vielen anderen Metaphern und Vergleichen zur Charakteristik von Dantes Göttlicher Komödie, eine Charakteristik, die mindestens ebenso gut eine Charakteristik seiner eigenen Poetik ist.
Wollte ich zum Abschluss Mandel´štams Konzeption des literarischen Kunstwerks in den wissenschaftshistorischen Kontext (russischer Formalismus, Croce, Vossler) einordnen, käme ich mir vor wie ein Schmetterlingsforscher, der seine schönen Objekte nicht im Flug beobachten kann und sie daher erst tötet, dann aufspießt und schließlich in diesem Zustand beschreibt und in ein Ordnungssystem bringt. Was aber bleibt, ist die wohl heftigste Provokation des Dichters gegenüber uns Literaturwissenschaftlern: Die Schrift, der geschriebene Text, auf den es mir, auf den es uns in erster Linie immer angekommen ist und ankommt, ist, so sagt es Mandel´štam wiederholt, künstlerisch und poetisch selbst ein Nichts – wichtig sind allein die Kräfte, Bewegungen, Impulse, Energieausbrüche, die – vom Künstler womöglich streng kontrolliert – dahinter stehen, sich dahinter ereignen. Aber es ist manchmal sehr fruchtbar, anregend und geradezu ermutigend, sich so herausgefordert zu sehen.
Literaturliste
Primärliteratur
Dante Alighieri: Dantes Göttliche Komödie. Mit Bildern von Gustav [sic!] Doré. Übersetzt von Philalethes [König Johann von Sachsen]. Erläutert von Edmund Th. Kauer. Berlin: Th. Knaur Nachfahren o.J. [ca. 1927]
Mandelstam, Ossip: Gespräch über Dante. Russisch und deutsch. Aus dem Russischen übertragen von Norbert Randow. Mit einem Nachwort von Leonid E. Pinski. Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer 1984 (Gustav Kiepenheuer Bücherei; 43)
Mandelstam, Ossip: Gespräch über Dante. Übersetzt und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich: Ammann 1991 (O.M.: Gesammelte Essays, Band 2)
Sekundärliteratur
Dutli, Ralph: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Zürich: Ammann 2003
Mierau, Fritz: Russische Dichter. Poesie und Person. Dornach: Pforte 2003
[1] Das Gespräch entstand 1933 und wurde erstmals 1965 in einer englischen Übersetzung, 1967 erstmals in russischer Sprache publiziert. Ins Deutsche übersetzt wurde es bisher zweimal, unter schwierigen Bedingungen in der DDR von dem hier kaum bekannten Norbert Randow (Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow,), und von dem bei uns zu Recht berühmten Ralph Dutli (Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Dutli). Bei deutschen Zitaten aus dem Gespräch lege ich, als Hommage für eine besondere geistige Tat, die Übersetzung von Norbert Randow zugrunde, verändere sie aber stillschweigend da, wo es mir angezeigt scheint (daher: »nach Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow«). Der Name des russischen Dichters erscheint in meinem eigenen Text in wissenschaftlicher Transkription (»Mandel´štam»), bei Zitatangaben in der Schreibung der Vorlage (»Mandelstam«). – Die vorliegende Studie wurde zuerst im März 2004 in Lausanne am 3e cycle »Poétique et science« (organisiert von Leonid Heller) als Vortrag in russischer Sprache gehalten und wird in stark überarbeiteter Form hier erstmals publiziert.
[2] Anspielung auf V.A. Kirpotin (1898–1997), 1932–1936 Literatursachwalter beim ZK der KPdSU.
[3] Zu den biographischen und kulturpolitischen Umständen der Entstehung des Gesprächs vgl. Dutli: Mandelstam, S. 394– 401. Ein schöner kleiner Essay über Mandel´štam findet sich in Mierau: Russische Dichter, S. 173–177 (»Häuslicher Hellenismus«).
[4] Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, Kap. VII, insbesondere S. 87
[5] Ebd. Kap. II, S. 25f. – Aus den »Raznočincy« [wörtlich: »Angehörige diversen Standes«] speiste sich das Gros der russischen Bildungsträger im 19. Jahrhundert. Bedeutende »Raznočincy« waren F.M. Dostoevskij (Enkel von Popen und Kaufleuten), und A.P. Čechov (Sohn eines Krämers und Enkel von Leibeigenen). Mandel´štam, Kind einer nicht völlig assimilierten jüdischen Familie, sah sich selbst in der Tradition der »Raznočincy«.
[6] Dies wäre indiziert durch die Gattungsbezeichnung Gespräch (»razgovor« klingt konkreter als das üblichere »beseda«, beide wohl Lehnübersetzungen von frz. »causerie«); gemeint ist ein besonders hörerfreundlich, in Stil und Gedankenführung locker gestalteter Vortrag in oraler oder schriftlicher Form.
[7] Nach russischem Sprachgebrauch ist auch Dantes Göttliche Komödie ein »Poem« im weiteren Sinne.
[8] Der Akmeismus, ca. 1910 – ca. 1925, ist, in Konkurrenz zum Futurismus, die früheste nachsymbolistische russische Avantgarde-Dichter-Gruppe. Von der Wolkigkeit des Symbols wollte er zurück zur Konkretheit des poetischen Wortes und der dargestellten Dinge; den »Adamismus« (den Rückgang auf das nicht von falscher Bildung verformte Menschentum) verband er mit dem Respekt vor den Höchstleistungen (»akmé« – gr. »die Blüte«) der Menschheitskultur und vor dem Handwerklichen an der Dichtung. Der Gruppe gehörten als heute bekannteste Dichter Nikolaj Gumilëv, Anna Achmatova und Osip Mandel´štam selbst an.
[9] Eine Übertragung von Strukturelementen des narrativen Vers-Poems auf novellistische Prosawerke ist in der russischen Literatur gang und gäbe (Gogol´, Odoevskij, Dostoevskij); Nachforschungsbedarf besteht für die Beziehungen zwischen Verstraktat (›philosophisches‹ Poem) und Prosatraktat.
[10] Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 31f.
[11] Mandelstam: Gespräch über Dante, übs. Randow, S. 115
[12] Eines von vielen Übersetzungsproblemen schafft das Wort »poryv«. Randow übersetzt es relativ konsequent und etwas illegal mit »leidenschaftlicher Ausbruch«, was zu einseitig die Emotion des Autors hervorhebt, während Mandel´štam offenkundig namentlich die – vom Autorsubjekt auch einmal losgelösten – heftigen Energieausbrüche und Bewegungsanstöße in der dynamischen Werkstruktur meint. Ich entscheide mich für eine übersetzerische Arbeitslösung: »Energieausbruch/Impuls«, gelegentlich auch nur »Energieausbruch« oder nur »Impuls«.