Z. Krasińskis «Agaj-Han» und H. Rzewuskis «Listopad»

Rolf Fieguth, Freiburg/Schweiz

Zwei unterschätzte Romane der romantischen Epoche.

Zygmunt Krasińskis Agaj-Han(1834)und Henryk Rzewuskis Listopad (1846)[1]

Die polnische Prosa der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts ist im Allgemeinen in der polnischen Polonistik wissenschaftlich weniger gut erschlossen als andere Gattungen[2]. Dies wirkt sich verstärkt auf unser auslandspolonistisches Bild von der literarhistorischen Entwicklung im Bereich der erzählenden Literatur aus. Der vorliegende Beitrag zu zwei sehr unterschiedlichen Romanen der weit verstandenen romantischen Epoche will vor allem auf einen gewissen Nachholbedarf auf unserer Seite aufmerksam machen. Die beiden «kurzen Forschungsberichte» zu den Romanen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Agaj-Han und Listopad stammen von wichtigen Protagonisten der polnischen Literaturgeschichte und näherhin sogar der Stilgeschichte der polnischen Prosa. Zygmunt Krasiński steht mit seinen Prosadramen Nie-Boska Komedia und Irydion, mit seinem umfangreichen epistolarischen Werk sowie mit seinen weniger bekannten theologischen und philosophischen Traktaten im Zentrum der im engeren Sinne romantischen Prosa. Henryk Rzewuski hat mit seinen Pamiątki Soplicy die Karriere des gawęda-Stils in der polnischen Prosa des ganzen nachfolgenden 19. Jahrhunderts entscheidend in Gang gesetzt. Indessen wird Krasińskis Agaj-Han fast regelmäßig als juveniles Anfängerwerk unterschätzt, Rzewuskis Listopad als noch erträgliches Produkt eines aristokratischen Hyperkonservativen, Provokateurs und Nationalverräters marginalisiert. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Henryk Sienkiewicz beide eingehend studiert, ihren beträchtlichen literarischen Reiz erkannt und in seiner eigenen historischen Romanschriftstellerei gewissermaßen eine überzeugende stilistische Synthese aus beiden sehr konträren «Modellen» hergestellt hat.

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Wie schon angedeutet, können Krasiński und Rzewuski als Repräsentanten zweier großer Traditionslinien der polnischen Prosa angesehen werden, die in ihrer Konfrontation und Supplementarität ein differenziertes Gesamtbild der polnischen Prosa der Epoche der Romantik ergeben, wobei der Terminus «Prosa» hier alle denkbaren literarischen und außerliterarischen Gattungen umfassen sollte: Krasiński steht ab seinem Roman Agaj-Han für die im engeren Sinne romantische Prosa, die er danach in anderen Gattungen (Dramen, Traktate, Briefe) ausbauen  sollte[3]. Rzewuski dagegen vertritt die machtvolle und sehr variantenreiche Traditionslinie der Aufklärungsprosa[4], die ihren Anfang bei Ignacy Krasicki nimmt, sich im spätsentimentalistischen Roman des frühen 19. Jahrhundert fortsetzt und schließlich in den 1840er Jahren quasi an der Romantik vorbei allmählich in die Romanprosa des frühen Realismus übergeht[5]. Auch der gawęda-Stil entstammt dieser Traditionslinie (man kann ihn bereits in Krasickis Roman Pan Podstoli  identifizieren), obwohl er gerade auch die Romantiker entzückt und inspiriert hat. Selbstverständlich gibt es zwischen den beiden Traditionslinien zahlreiche Berührungspunkte, Neutralisierungseffekte und Überschneidungen, insbesondere im Bereich des gawęda-Stils. Dieser entsteht zwar im Bereich der „Aufklärungsprosa“, wird aber auch von den Romantikern sofort aufgegriffen. Andrzej Waśkos Konzeption einer «neosarmatischen Epik» in der polnischen Romantik ist darum nicht falsch, verdeckt aber die Rolle, die der „Neosarmatismus“ auch in der nicht-romantischen Prosa der Epoche spielt[6].

Wichtig ist auch noch die Beobachtung, dass Ende der 1830er/Anfang der 1840er Jahre die Roman- und Novellenproduktion deutlich stärker als in den vorigen Jahrzehnten in Gang kommt[7], wobei frührealistische und romantische Tendenzen sich wechselseitig dynamisieren. Seweryn Goszczyńskis und Narcyza Żmichowskas romantische Erzählwerke reagieren auf frührealistische Tendenzen namentlich bei Kraszewski und Korzeniowski. Die Erstauflage von Krasińskis Agaj-Han von 1833[8]  bildet danach den zunächst noch einsamen Beginn einer bestimmten Linie der Stilisierung und Rhythmisierung einer ausgeprägt romantischen narrativen Prosa, während Rzewuskis Roman Listopad (1845-46) trotz seinen teilweise archaischen Zügen vollauf in der gattungs- und stilgeschichtlichen Entwicklungsbewegung von der „Aufklärungsprosa“ über den Spätsentimentalismus zum Frührealismus liegt, die für seine Entstehungszeit charakteristisch ist[9].

Zygmunt Krasiński

Literaturlehrer des späteren Großromantikers Zygmunt Krasiński (1812-1859) war paradoxerweise Józef Korzeniowski (1797-1863), ein Repräsentant der zuletzt genannten Entwicklungsbewegung – zunächst war er mit dem Warschauer Klassizismus eng verbunden, später wurde er in Komödie und Roman zu einem der wichtigsten Vertreter des polnischen Frührealismus. 1830 publiziert Krasiński achtzehnjährig seinen ersten historischen Roman, Władysław Herman i dwór jego (1830). Thema ist die politische und charakterliche Schwäche eines polnischen Königs (1079-1102). Dieser war der Nachfolger einer großen, wenngleich problematischen Herrschergestalt, Bolesław Śmiały (reg. 1058-1079), und der Vorgänger einer ebenfalls problematischen und starken Herrschergestalt, Bolesław Krzywousty (1102-1138). Der schwache Herrscher, der durch seine Unentschiedenheit Unglück über sein Land bringt, und der starke Herrscher, der ein unmoralischer Tyrann ist — das war ein zentrales Thema der klassizistischen Literatur der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, an das dann auch die „große Romantik“ anknüpfen wird, insbesondere Słowacki und Krasiński[10]. Władysław Herman erzählt von einem flagranten Rechtsbruch, den der älteste Sohn des polnischen Herrschers Władysław Herman im Jahre 1089 im masowischen Płock begeht: der Königsbastard Zbigniew raubt aus Liebe und Machtanmaßung die Aristokratentochter Hanna, die dem Königsneffen Mieczysław zugedacht war, heiratet sie heimlich und versteckt sie zunächst auf seiner Burg in Płock. Der König versucht auf vielerlei Weise, bewaffnete Sanktionen gegen seinen Sohn zu hintertreiben, was nicht gelingt. Beim Endkampf gegen die Belagerer seiner Burg opfert Zbigniew seine treuesten Anhänger, flieht auf sein Schloss im fernen Pommern und zieht sich deprimiert zurück. Die Schwäche des Königs Władysław Hermans hat persönliche Gründen, hat aber auch mit der Labilität des politischen Systems zu tun; dagegen ist sein verbrecherischer Bastard Zbigniew heimlich als eine unausgeschöpfte Möglichkeit der polnischen Geschichte konzipiert. Dieser stilistisch noch sehr ungeschickte und in vielem auch noch reichlich knabenhafte Roman des knapp achtzehnjährigen Verfassers hat sicherlich auf die negative Einschätzung des zwei Jahre später angefertigten Romans Agaj-Han in der akademischen Polonistik abgefärbt:

Józef Kallenbach gibt 1904 den Ton an für die negative Einschätzung dieses Jugendwerks: „Der Roman ist von Beschreibungen überladen, und weil jegliche Abwechslung fehlt und dem Leser ständig Schlachtfelder, Brände, Blut, Leichen, menschliche Grausamkeit vorgeführt wird, weil die Hauptpersonen Maryna, Zarucki und Agay-Han nicht die geringste Sympathie im Leser erwecken können, erlahmt das Interesse beim Lesen…»[11].. . Insgesamt erkennt Kallenbach darin aber die erstaunlich schnelle künstlerische Reifung des Autors. Juliusz Kleiner widmet 1912 dem Roman nur einige wenige Sätze, nimmt aber das Thema der Todesfaszination von Marek Bieńczyk (s.u.) voraus[12]. Knapp oder gar nicht erwähnen die Literaturgeschichten den Roman, was erstaunlicherweise sogar für Zygmunt Szweykowskis «Rozwój powieści w Polsce: III. Powieść w latach 1776-1930»[13] gilt (1936); hier bezeichnet er den Roman als «Poem» und scheidet ihn daher aus der Betrachtung aus.

Eine Wende in der Bewertung des Werks versuchte in den 1960er Jahren Maria Janion herbeizuführen[14]. Den rhythmisierten, poetischen Stil bringt sie überzeugend in Zusammenhang mit der romantischen Verserzählung, deren wichtigste Verfahren hier auf die Romanprosa übertragen werden (S. 50); sie verweist dabei auf das Vorbild von Chateaubriand (50 f.). Janion spricht von einer „Revolution in der Prosa“ (51 ff.). Dafür stehen der – sehr heterogene – Orientalismus, die blühenden Metaphern im Munde Agaj-Hans, die Poesie der fremden geographischen und Eigennamen. (54 ff.), die Lexik der Ritter und ihrer Waffen (56 ff.), die zahlreichen Archaismen (58), einige Ukrainismen und sonstige Ostslavismen 58 f., der dynamisierende Einsatz von Verben und der Gebrauch des praesens historicum (59), dem man den stilisierenden und expressiven Gebrauch der perfektiven Präsensform hinzufügen sollte; ferner Effekte des Lichts und der Farben (60), leitmotivische Makabrismen (60 f.); fließende Übergänge zwischen der Rede der Figuren und des Erzählers (61 u.ö.); schließlich die Wirkung einer emotionalisierten Syntax mit ihren frappant asyndetischen Satzverknüpfungen (62 f.). Janion sieht Maryna als Verkörperung weiblicher Majestät und Erhabenheit auch im Unglück (69 ff.), Zarucki als Verkörperung einer „untergehenden Welt“; Agaj-Han als „Kind der Phantasie“. Wichtig ist der Übersprung vom walterscottschen „Realismus“ zu einer romantischen „Poesie der Geschichte“. (77).

Nur kurz, aber voller Begeisterung für den Roman und seine «thanatischen Extasen» äußert sich ca. 1990 Janions Schüler Marek Bieńczyk[15].

Die großen literarhistorischen Romantikdarstellungen sind knapp und eher reserviert in der Präsentation des Romans[16] Sehr viel ausführlicher als in seinem Beitrag zum Krakauer Romantikband äußert Andrzej Waśko sich in seiner selbstständigen Krasiński-Monographie[17]. Gegen die sonst üblichen Töne und Einschätzungen knüpft er in allen wesentlichen Punkten an Maria Janions Neubewertung an.

Nach längerer Pause erfolgte 2002 eine Neuauflage des Romans, und zwar bezeichnenderweise in der Serie «weniger bekannte Klassik»[18].

Zwischen der Fertigstellung von Władysław Herman im Jahre 1829 und dem Beginn der Arbeit an Agaj-Han  im Herbst 1831 vergehen knapp zwei Jahre außergewöhnlich intensiver Arbeit des Autors an seinen sprachlichen und narrativen Mitteln[19]. Verglichen mit Władysław Herman nimmt Agaj-Han  sich als historischer Roman von großer Eigenart und wirklich bemerkenswertem Format aus.

Agaj-Han erzählt in einer hochinspirierten poetischen Prosa die Geschichte vom Ende einer außergewöhnlichen historischen Gestalt, der Maryna Mniszchówna (1588/9-1614), die für einige Monate den Titel einer Zarin von Russland trug, und zwar als Gemahlin des sog. Pseudodemetrius. Der Roman setzt in dem Moment ein, als ihr zweiter pseudokaiserlicher Ehemann, der zweite falsche Demetrius, umgebracht worden ist und sie den letzten von drei Versuchen unternimmt, das Glück noch einmal zu wenden und den Zarenthron für sich und ihren kleinen Sohn zurückzugewinnen. Sie verbindet sich mit dem Kosakenführer Zarucki, einer historischen Gestalt, und muss sich zugleich der Liebe und des Hasses des jungen und feurigen Tataren Agaj-Hanerwehren, einer von Krasiński nach Walter Scottschem Rezept erfundenen Pagen- und Kriegerfigur. Die Abenteuer, die Maryna in ihren letzten Lebensjahren zu bestehen hat, finden in einer ordinären Umgebung von wilden Soldaten, Tataren, Kosaken und Polen statt. Doch statt der Geschichte einer Verwilderung und Verrohung erhalten wir die Geschichte einer paradoxen Wahrung der hohen weiblichen und monarchischen Würde, die diese Maryna gleichsam im Blut trägt. Krasińskis Maryna wird zum literarischen Inbegriff einer romantischen weiblichen Ausnahmeperson, die ihre kaiserliche Würde auch unter erniedrigendsten Umständen durchzuhalten weiß. Der Roman ist in seiner ganzen Machart romantisch zu nennen, aber man sieht auch noch, wie die schon erwähnte Thematik der starken Herrschergestalt hier auch in einen romantischen Kontext überführt wird[20].

Die anfangs des 17. Jahrhunderts spielende Geschichte der polnischen Maryna, die mit ihren immer weniger werdenden Getreuen im tiefsten Russland von ihren Gegnern immer mehr in die Enge getrieben und schließlich zur Strecke gebracht wird, sollte die zeitgenössischen Leser wohl zumindest unbewusst an die verzweifelten Heldentaten polnischer Freiheitskämpfer erinnern, die im Aufstand von 1830/31 von den russischen Einheiten schließlich geschlagen wurden. Insofern symbolisiert Maryna also auch die polnische Nation der Gegenwart. Russophobe Züge gehen dem Roman dennoch ab. Mit expliziter Zustimmung erzählt er vom Ende der polnischen Invasion im Russland des smutnoe vremja. Aber er verallgemeinert dieses Ende einer Invasion auf andere weltgeschichtliche Vorgänge, darunter die spanische Invasion Mexikos. Die Absicht ist deutlich: an einer Fallstudie soll der zyklisch wiederkehrende Verlauf der geschichtlichen Abläufe dargestellt werden, und zwar in folgendem Sinne: die polnische Invasion im Russland des frühen 17. Jahrhunderts war ein moralisches Verbrechen, und sie musste daher scheitern. Dies aber gilt für jede Invasion in einem fremden Land und in einer fremden Kultur – es gilt auch für die russische Invasion im gegenwärtigen Polen des 19. Jahrhunderts, und diese Invasion wird eines Tages ebenso enden wie seinerzeit die polnische Invasion im Russland des smutnoe vremja.

Krasińskis Erzählton und Erzählweise kennt in diesem Roman eine Vielfalt von Registern, Tönen und Techniken. Eine davon ist der Ton des epischen Geschichtsdichters. Dieser vermag Landschaften und Städte, Nationen und Völkerschaften, große historische Zusammenhänge und historische Kleinereignisse wie in einem großen Panorama aufzurollen, zu gliedern und zu vergegenwärtigen. Hierzu als Leseprobe der Beginn des Kapitels VI:

Nicht wenig Zeit ist verflossen seit jener Mondesnacht, als die Sandomirer Wojewodentochter aus dem Gefängnis entwich und im Kosakenboot von dannen fuhr.

Der große Moskauer Staat brennt noch immer und raucht durch die Brandschatzungen der Polen. Die Husaren sind auseinander gelaufen und fliegen nun flügelschlagend wie wütende Adler über den Trümmern und den dichten Leichenhaufen dahin. Wo sie am Kaukasus nicht zum Stehen gebracht wurden, haben sich die Desperados in die asiatischen Weiten vorgewagt, jeder strebt durch Plünderung nach Reichtum und durch ritterliche Tat nach Ruhm; eine Stadt zerstören, ein Dorf in Brand setzen ist ihr täglich Brot. Mit ihren Beutefrauen tanzen sie auf den Aschenhaufen, wärmen sich im Frost auf den Palasttrümmern, streichen sich Wein und Honig in den Bart, das klebt dann besser an den Lippen der Asiatinnen.

So wie ein Jahrhundert zuvor am anderen Ende der Welt die Spanier durch die entdeckte Welt stürmten, so ergießen sich heute die Polen in die Weiten der Moskau. Siehe: Cortez zieht Montezuma von seinem Thron, Żółkiewski führt die Szujskis am Gängelband; Mexiko brennt Fackeln in seinen schwarzen Teerseen und schreit nach Rache für seine beleidigten Götter, Moskau mit seinen tausend Kuppeln  empört sich wegen seiner Heiligen und seiner geschändeten Kirchen.

Dies war den Polen ihre neue Welt, östlich, weit, offen für hämmernde Pferdehufe. Was in Polen an harten Seelen und wilden Herzen schlief, das kam in die Gefilde von Moskau nach Astrachan, um aufzuwachen und gierig zu leben[21].

Vieles an Krasińskis Erzählmanier in Agaj-Han erinnert in starkem Maße an die Erzähltechniken und stilistischen Verfahrensweisen der romantischen sog. byronistischen Verserzählung. Dazu gehören in erster Linie die Arten und Weisen, wie sich der Erzähler sowohl den Figuren als auch den Lesern annähert. Dies geschieht durch sehr nuancierte und differenzierte Übergänge zwischen Erzählerrede und Figurenrede. Die orientalisch-geblümten Reden Agaj-Hans stehen jedenfalls in enger Nachbarschaft zur Rede des epischen Dichters selbst. Im ersten Kapitel ist Agaj-Hanauf weite Strecken selbst der Erzähler, der durch seine Berichte und Schilderungen sowohl die geliebte Maryna als auch uns Leser für sich zu gewinnen versucht. In einer Szene wird geschildert, wie die verführerisch schöne Maryna vor ihre Soldaten tritt, um später ganz im Stil einer Theaterheroine eine Rede vor ihnen zu halten:

Und die Zarin sah in dieser Nacht gerade so aus, wie es sich zur Aufreizung des Männerherzens gehört: Ihr Gewand hat sich durch das heftige Wallen ihres Busens gelöst, und nur noch ein Saum ist geblieben, weiß und durchsichtig, ein schwaches Hemmnis für entfesselte Augen. Und ihre Haare fließen auch langsam nach unten auf die Arme, die Schultern. Oh, wer sie anschaut, der wird diese Nacht lange in Erinnerung behalten[22].

Dieser zuletzt zitierte Ausruf des Erzählers wendet sich in einem sog. Appell unmittelbar an den Leser; zugleich aber ist er auch im leidenschaftlichen Tonfall dessen gesprochen, der diese Frau bewundert und begehrt – Agaj Han. Diese Passage antwortet überdies noch auf einen fremden Text, nämlich die Darstellung derselben Szene durch den Historiker Julian Ursyn Niemcewicz, die Krasiński seinem Roman als Motto voranstellt:

Indessen begibt sich Maryna auf die Nachricht von dem Mord hin, der sie zuerst keinen Glauben schenken will, selbst an die Stelle, findet dort nur zerhauene Gewänder und Glieder ohne Kopf, und kehrt gram- und verzweiflungsvoll in der Nacht nach Kaluga zurück. Im Tumult läuft sie mit der Fackel in der Hand, mit zerzausten Haaren, mit entblößtem Schoß die Reihen ihrer Soldaten ab, setzt sich das Schwert an die Brust und ruft mit markdurchdringendem Schrei nach Rache[23].

Wie man sieht, wird diese drastische Darstellung des Historikers von dem jungen Romantiker Krasiński stark veredelt und poetisiert.

Im zweiten Kapitel sucht Maryna das Zimmer ihres kürzlich ermordeten zweiten Mannes Dmitrij auf und ist entsetzt über das, was sie dort sieht: neben der Bibel liegen dort der Talmud und jüdische Gebetsriemen; der zweite falsche Demetrius ist also Jude gewesen. Im Moment, da Maryna diese «schreckliche» Entdeckung macht, wendet sich der Erzähler an den Leser:

Schau sie jetzt an, und du wirst nicht die stolze Königin sehen, nicht die harte Herrin, sondern eine in Tränen aufgelöste Frau, die an ihre Jugend denkt, an das Haus ihrer Väter, an ihr edles Geschlecht, an die Gefilde Polens, an ihre erste Liebe inmitten dieser stummen Zeugen ihrer Schande und Erniedrigung[24].

Gleich anschließend geht der Erzählmonolog in die erlebte Rede über, das heißt, der Erzähler ahmt den Stil und die Gedankenwelt der erzählten Figur Maryna selbst nach:

Es haben sich also die Gerüchte der Leute bestätigt, Agaj Hans Worte haben sich bestätigt. …Tausend Erinnerungen bedrängen ihr Herz…: an den ersten Mann, tapfer, freigebig, dem die Krone der Zaren so schön stand, …und die Hochzeit und die erste Hochzeitsnacht mit dem jungen, ritterlichen Bräutigam, dem Herrn eines weiten Landes, – und danach Verschwörungen und Morde! Ach, das war noch gar nichts – Gefängnis und Verbannung – ach, das war noch gar nichts – aber die zweite Heirat, der zweite Mann! Ach, diese Erinnerung zerschnitt ihr das Herz mit ihrer Schärfe[25].

Zusammenfassend lässt sich sagen: In Agaj-Han verbindet sich der hohe Ton des epischen Prosa-Dichters mit der Fähigkeit, die Gefühls- und Gedankenwelt der erzählten Figuren auch sprachlich in den Erzählbericht einfließen zu lassen. Im episch-poetischen Fluss des Erzählens werden die vielen anderen Stimmen der dargestellten Figuren hörbar und spürbar gemacht; auch kommen die Figuren im geeigneten Moment in ganz dramatischer Manier direkt zu Wort. Viel zu sagen wäre in diesem Zusammenhang über die Art, wie in diesem Roman sich das Dramatische in die epische Erzählung mischt. Es liegt auf der Hand, dass der Roman Agaj-Han gerade im stilistischen Bereich eine wesentliche Vorarbeit zu dem Prosa-Drama Nie-Boska Komedia darstellt.

Die geschilderte Erzähltechnik verbindet sich auf das engste mit der besonderen Komposition des Romans. Die Geschichte vom Ende der Maryna Mniszchówna ist in verschiedene Zeiträume und Stationen auf diesem letzten Lebensweg zerlegt, in Stücke, zwischen denen vieles ausgespart und ausgelassen ist. Jedes Kapitel schildert eine Station, jedes Kapitel ist durch markierten Anfang und markiertes Ende in sich abgeschlossen und erinnert dadurch mehr an die Strophen einer langen epischen Verserzählung als an die Handlungsstationen eines Romans oder an die Akte eines Dramas. Fast in jedem Kapitel haben wir auch den „rhythmischen“ Wechsel zwischen raffender und dehnender Erzählung. Aus alledem ergibt sich eine Art musikalisch-symphonischer Komposition des ganzen Romans.

Krasińskis wichtigste historiographische Quelle war, wie schon angedeutet, Julian Ursyn Niemcewiczs historische Darstellung der Epoche Zygmunts III, ein Werk übrigens, das einem späteren frührealistischen Romanstil entgegenkommt: es ist in der nuancenreichen und flexiblen Prosa aufgeklärter Geschichtswissenschaft geschrieben, schließt dabei aber subjektive Standpunkte und Wertungen nicht aus. Bei seiner nicht unkritischen Darstellung der Epoche und der Person Sigismunds III Vasa (1589-1632) verteilt der Historiker Licht und Schatten der polnischen Geschichte hier auf eine Weise, an der die verletzte patriotische Seele nicht übermäßig zu leiden braucht:

Das Schicksal (das uns leider heute nicht günstig ist), bescherte den damals lebenden Polen Triumphe, wie sie nur die alten Römer gekannt hatten […]. Diese Erinnerungen trösten die von späterem Unglück betrübten Herzen der Polen und lassen uns sagen: Nos quoque floruimus[26].

Kritik war allerdings angebracht: Sigismunds schwedische Thronansprüche lösen die polnisch-schwedischen Kriege aus, die zur wesentlichen Ursache für den Untergang des alten Polen werden sollten; indem er den Kurfürsten von Brandenburg als Herzog seines ostpreußischen Lehens akzeptiert, eröffnet er Brandenburg den Aufstieg zur Großmacht Preußen, die zu einem der drei Totengräber der Rzeczpospolita werden sollte; überdies hat der König im sog. „Moskauer Krieg“[27] durch die Beanspruchung des Moskauer Throns zuerst für seinen Sohn und dann für sich selbst die Erbfeindschaft mit Russland herbeigeführt.

Bei der Darstellung der Maryna Mniszchówna und ihres ersten kaiserlichen Gatten Dmitrij (regiert 1605-1606) vermeidet Niemcewicz auf weite Strecken schnelle moralische Verurteilungen. Er hält es für durchaus möglich und sogar für eher wahrscheinlich, dass „Demetrius“ tatsächlich der jüngste Sohn Ivans des Schrecklichen war, sammelt dafür Indizien, wo er kann, und kritisiert die zeitgenössischen Quellen, die vom falschen Dmitrij sprechen, als antipolnische schwedische Propaganda. Maryna hatte nach Niemcewiczs Einschätzung und Formulierung Charaktereigenschaften, die ihr unter günstigeren Umständen die Herzen ihrer russischen Untertanen hätten gewinnen können: sie war schön, zuvorkommend gegen Hoch und Niedrig (II, 144). Krasiński verstärkt die positiven Aspekte in Niemcewiczs Darstellung. In der erstaunlich moralfreien Optik seines Romans stellt er Maryna als eine Frau dar, die die Männer dazu benützt, auf den moskowitischen Zarenthron zu gelangen bzw. ihn wiederzugewinnen – zuerst den jungen und schönen Dmitrij, dann den ekligen kosakischen Dmitrij, und zuguterletzt den Kosakenhauptmann  Zarucki sowie den verliebten Tataren Agaj-Han – und bei alledem bleibt sie eine großartige Ausnahmegestalt.

Krasińskis Tendenz zur Veredelung Marynas im Vergleich mit der Darstellung bei Niemcewicz ist auch im Finale des Romans zu sehen. Der Historiker schildert in dürren Worten, wie Zarucki, Maryna und ihr kleiner Sohn von den Verfolgern auf dem Jaik-Fluss (Ural-Fluss) eingeholt und auf unterschiedliche Weise ums Leben gebracht werden: Zarucki wird gepfählt, Maryna wird unter dem Eis im Fluss ersäuft, und der kleine Dmitrij erwürgt (III, 34 f.). Krasiński überhöht Marynas Ende zu einer Art schaurig verklärtem Liebestod. Maryna wird von ihrem verräterischen früheren Liebhaber Agaj-Handen anderen moskowitischen Soldaten entrissen und in einer deutlich erotisch gefärbten Szene ins Wasser geworfen; Agaj-Han selbst treibt anschließend auf einer Eisscholle dem Tod entgegen. Das ganze findet vor einer erhabenen Naturkulisse statt. Am Ende spricht der Dichter Krasiński seine Figur Agaj-Han an: «Sei mir gegrüßt auf ewig, du Kind meiner Phantasie…“ Anschließend wendet er sich an die Gottesmutter mit einem kurzen Gebet für Maryna:

Königin Polens, lass sie niedersitzen zu deinen Füßen, denn die Krone der Zaren war ihr eine Dornenkrone, ihr ganzes Leben eine lange Pilgerschaft, fern der Heimat, unter Fremden und Neidern! Königin Polens, erbarme dich deiner Tochter[28].

Die Zarenkrone war für Krasińskis Maryna freilich keine Dornenkrone, sondern ihr allerhöchstes Begehren, der Zweck ihres Lebens gewesen; und ihr Leben war keine demütige Pilgerschaft, sondern ein leidenschaftliches und stolzes Ringen um die Macht. Sie lebte nicht unter Fremden und Neidern, sondern unter lauter Menschen, die sie für ihre Zwecke benutzte. Hier liegt also ein offensichtlicher Bruch vor. In eben diesem Bruch steckt indessen ein Signal für ein auf die Gegenwart gerichtetes symbolisches Verständnis der ganzen Geschichte, die Krasiński uns in diesem Roman erzählt hat. Maryna wird von vornherein veredelt, weil sie hier von allem Anfang ein eigentümliches Symbol polnischen Geistes und polnischen Stolzes sein sollte. Die Bitte um die Fürsorge der Gottesmutter für die Maryna-Figur bezieht sich demnach auf den Symbolgehalt, den diese Figur impliziert: mitgemeint ist das heutige Polen, das noch im Sterben stolz ist und das mit der Dornenkrone des Messias ausgestattet wird (in der Gestalt der Frau Maryna!).

Krasiński selbst hat seinen Roman übrigens auch nach der Fertigstellung von Nie-Boska Komedia und Irydion keineswegs als schmähliche Jugendsünde betrachtete, sondern ihn 1838 einer zweiten Auflage für wert gehalten. Agaj-Han sollte in der Polonistik und namentlich in jeder Geschichte der polnischen Prosa als erstes „geniales“ Werk des Autors der Nie-Boska Komedia gewürdigt und im Entwicklungsgang der Gattung gebührend positioniert werden.

Henryk Rzewuski

Henryk Rzewuski (1791-1866) ist nur als Autor der Denkwürdigkeiten des Herrn Severin Soplica (1839-41) ruhmreich in die polnische Literaturgeschichte eingegangen. Die Denkwürdigkeiten gelten als das prominenteste fiktionale Prosawerk der polnischen Literatur in der weit gefassten romantischen Epoche. Sie sind allerdings keineswegs zur romantischen Prosa im engeren Sinne zu zählen, vielmehr schreiben sie die aufklärerisch-satirische Prosatradition fort. Der Gesamtkonzeption der Pamiątki Soplicy ist freilich ein romantischer Grundzug nicht abzusprechen. Rzewuskis witzige Provinzgeschichten fallen in die Periode 1760-1790, die mit der fatalen Schlussepoche der polnischen Staatsgeschichte koinzidiert – und eben darin liegt eine besonders bittere Ironie. Bei Rzewuski ist diese Endzeit des polnischen Staates zur Tragik gar nicht fähig – die vermeintlich heroische Geschichte zerfällt zu einem Durcheinander scheinbar zusammenhangloser und scheinbar harmloser Provinz-Geschichten. Tatsächlich aber reflektieren sie, wenn man genauer hinschaut, unsägliche Zustände vor allem im Rechtswesen des alten Polen. Der Held Soplica ist nicht nur ein rechter Dummkopf, sondern auch keineswegs immer sehr charakterfest. Insbesondere bildet das anekdotische Chaos dieser Geschichten auf eine überhaupt nicht harmlose Weise den Zerfall des polnischen Geschichtskontinuums ab. Diese durch rein kompositorisch-literarische Mittel getragene Gesamtdiagnose polnischer Geschichte verleiht dem Werk eine Tiefendimension, die weit über den beschränkten Horizont des Erzählers Soplica hinausgeht.

Dieses Werk, auf dem der Segen des großen Adam Mickiewicz ruhte und das am Anfang einer ganzen Welle von gawęda-Prosa (und – poesie!) steht, hat Rzewuskis Listopad (1845-46)in der Wahrnehmung der Nachwelt verdunkelt. In diesem groß angelegten Roman wird am Schicksal der beiden ungleichen Brüder Michał und Ludwik Strawiński der Widerspruch zwischen „sarmatischer“ und „aufgeklärter“ Kultur im Polen der frühen Ära Stanisław Augusts abgehandelt. Aus dem Episodensammelsurium der Denkwürdigkeiten wird hier eine überzeugende große Romanform (in der die einzelnen Episoden und Skizzen immer eine kompositorisch sinnvolle Rolle spielen); die gawęda-Manier wird durch einen kunstvoll gehandhabten, variationsreichen Schriftstil ersetzt.

Die bisher ausführlichste Darstellung zu Listopad stammt von Zygmunt Szweykowski (1922)[29]. Er charakterisiert zunächst die nach Rzewuskis Pamiątki laut gewordenen Gattungserwartungen (Forderung nach der nationalen Geschichtsepopöe, Ablehnung der „frenetischen“ (szalona) französischen Literatur; Rousseau, Walter Scott und Homer als empfohlene Vorbilder (120-129). Mehrfach verweist er auf Rousseau-Anmutungen in Listopad[30]. Als polnische Vorläufer werden Ignacy Krasickis Mikołaja Doświadczyńskiego przypadki, und Pan Podstoli, Maria Wirtemberskas Malwina undElżbieta Jaraczewskas Zofia i Emilia (1827)[31] erwähnt. Den dritten Teil des Romans beurteilt er trotz dem Lob für vorzügliche Milieu- und Sozialporträtstudien kritisch (143 ff.): er zeige zu wenig Integration von Milieustudien und «Abenteuerhandlung», die Komposition zerfalle. Ludwiks Seelenkampf um seine Liebe interpretiert Szweykowski als Darstellung der Willenlosigkeit gegenüber den emotionalen Trieben, so sei auch Stanisław August geschildert (157): edle Anlagen würden durch Willensschwäche, Genuss- und Herrschsucht verdeckt. Szweykowski unterstellt Rzewuski eine moralistische Verurteilung der Liebe Zofias und Ludwiks (162 ff.)), Michał bleibe aber abstrakter Pedant, der kein überzeugender Liebender Zofias hätte sein können (164 ff.). Rzewuskis angeblicher Didaktismus führe zu ständigen Widersprüchen.

Relativ knapp fällt die Charakteristik von Rzewuskis «ehrgeizigstem Roman“ Listopad  in Witkowska/Przybylski aus[32]; Andrzej Waśko, op. cit., 199-202, bleibt in Bezug auf Listopad ebenfalls kurz, vergleicht aber immerhin dessen Bedeutung als Porträtierung der polnischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts immerhin mit Bolesław Prus´ Schilderung der polnischen Gesellschaft nach 1863 in Lalka.

Der bekannte Historiker Janusz Tazbir kämpft in seinem ausführlichen Vorwort zu der ersten Nachkriegsausgabe von Rzewuskis Roman (2000) gegen dessen Verdrängung aus dem allgemeinen literarischen Bewusstsein an[33].

Rzewuskis Roman gehört eigentlich in eine Reihe mit Krasickis Mikołaja Doświadczyńskiego przypadki (1778)und Klementyna z Tańskich Hofmannowas Dziennik Franciszki Krasińskiej (1825). Alle drei schildern das 18. Jahrhundert unter dem Aspekt des Gegensatzes zwischen Aufklärungswelt und Sarmatismus. In Krasickis Mikołaja Doświadczyńskiego przypadki (1778) wird der Sarmatismus durch einen auktorialen Ich-Erzähler sehr kritisch, wenngleich mitunter nicht ohne humoristisches Augenzwinkern dargestellt. Hofmannowas Dziennik Franciszki Krasińskiej  (1825) stellt den Gegensatz anhand einer nuancierenden Schilderung des Schicksals zweier ungleicher Schwestern dar und baut dabei die früher übliche einseitige Kritik am Sarmatismus und an der vermeintlich unaufgeklärten Sachsenzeit ab. Rzewuskis lenkt die Schicksale der Brüder Michał und Ludwik so, dass es zu einer moralischen Verteidigung des Sarmatismus gegen die Vertreter der vollkommen amoralischen und prinzipienlosen Aufklärung kommt. Insofern hält Rzewuskis Roman, trotz seinem unzweideutig un-romantischen stilistischen Profil, auch durchaus Kontakt mit der Romantik, denn es war ja gerade die Romantik in Europa überhaupt und in Polen insbesondere, die die Aufklärung kritisierte und die Feinde der Aufklärung aufwertete.

Es handelt sich um ein ausladend umfangreiches Werk, in der Originalausgabe drei Bände à ca. 250 Seiten. Es wird darin ein panoramatisches Bild der Epoche des letzten polnischen Königs Stanisław August gezeichnet, und zwar in der Form des durchkomponierten Romans. Bindeglied der oftmals sehr unterschiedlichen und disparaten Episoden des Romans ist eine durchgehende Handlung mit zahlreichen abenteuerlichen Verwicklungen. Tragende Elemente dieser Handlung sind die geheime Mission, die den französisch erzogenen königstreuen Bruder Ludwik als Spion und verdeckten Unterhändler in das litauische Oppositionsmilieu seines Bruders Michał führt, und die geheime Mission, die den Königsgegner Michał in der Endphase des Romans in die königliche Hauptstadt Warschau bringt. Bei Rzewuskis Listopad kommt der Roman als spannender, abenteuerlicher Roman gattungsmäßig auf einem beträchtlichen literarischen Niveau zu sich selbst.

Die Brüder sind beide tief in der Sachsenzeit geboren (1740er Jahre). Ihr Vater Wojciech Strawiński, ein konservativer reicher litauischer Hochadliger von altem Schrot und Korn, war mit einer schönen Frau verheiratet, die sich wegen eines eleganten und «europäischen» anderen Mannes von ihrem Gatten trennte und den jüngeren der beiden Söhne mitnahm. Der Vater verschärft seinen Widerstand gegen alle fremden Einflüsse und europäischen Neuerungen und lässt den unter seiner Obhut verbleibenden Sohn Michał stockkonservativ erziehen, während der bei der Mutter verbliebene Sohn Ludwik ganz und gar unter französischen Kultureinfluss kommt. Es scheint Rzewuskis Absicht gewesen zu sein, seine Parteinahme für die konservative polnische Adelskultur nicht allzu früh deutlich werden zu lassen, ja er behauptet sogar explizit im Vorwort, dass es ihm auf eine objektive Darstellung beider Arten von Kultur ankomme. Das klingt zwar grotesk angesichts der massiven Parteinahme des Autors für die konservativen Rebellen gegen den König. Dennoch  wendet er zahlreiche andere Mittel an, die eine gleichsam poetische Überparteilichkeit herstellen; eines davon ist die Darstellung der Erziehung beider Brüder als einer Fehlerziehung.

In folgender Romanpassage wird die unsägliche Kindheit des positiven Helden Michał nach der Trennung seiner Eltern dargestellt:

Herr Strawiński brach seine Amtsgeschäfte ab, zog sich beleidigt aufs Land zurück, und verfluchte den Fürstbischof mitsamt seinem ganzen Konsistorium, und noch  mehr all diejenigen, die französisch sprechen und sich französisch kleiden. Jedoch ward er in seinem Unglück vom Fürsten Feldhauptmann getröstet und erhielt auf dessen Fürsprache hin vom König sogar die Würde eines Grenzwächters von Słonim. Er hatte sich kaum auf dem Lande niedergelassen, da ließ er als erstes seinem Sohne Michaś, der gerade vier Jahre alt geworden war und nach dem Willen der Mutter lange, ringförmig fallende Haare trug, den Kopf scheren, und zwar so, dass ihm nur noch ein paar Haare auf dem kleinen Scheitel übrig blieben, auf dass er ein wahres Polenkerlchen sei, ohne diese ausländischen Erfindungen, die zu nichts Gutem führen, und dass er einen Hofmeister verdingte, für 60 Silbergroschen polnisch im Jahr, der sollte den Junker im Katechismus unterweisen, ihm das Lesen, das Schreiben und die Anfänge des Latein beibringen und dabei die Rute nicht sparen…[34]

(Aus Kapitel I, 2. „Altpolnische Erziehung“; zu diesem Kapitel gibt es das Kontrastkapitel I, 5. „Ausländische Erziehung“)

Die konservative Erziehung des Sohnes Michał hat auch aus der Sicht des konservativen Erzählers (und Autors) sehr negative Seiten. Der Vater Strawiński ist ein Mensch ohne jedes Herz und ohne jeden Takt gegenüber dem Sohn, der ihm geblieben ist (die tiefe Verehrung, die der Sohn dem Vater gleichwohl entgegenbringt, gehört zu den weniger glaubhaften Momenten des Romans). Die Folge davon ist, wie mehrfach betont wird, dass Michał sein ganzes Leben lang unglücklich bleibt. Als kleinen Knaben schmerzt ihn die Trennung von der Mutter und von dem Bruder; als er nach einigen Jahren dem Bruder im Warschauer Collegium Nobilium wiederbegegnet, geht ihm das Herz auf, denn die beiden verstehen sich prächtig. Als aber der Vater dahinterkommt, nimmt er Michał aus dem Collegium fort und lässt ihn in der litauischen Provinz ohne jeden Kompromiss mit der neuen Zeit erziehen. Michał wächst also erschreckend lieblos auf, und das ist vermutlich auch der Grund, warum er später die Frau, die er liebt, nicht an sich binden kann — es handelt sich um die schöne Nachbarstochter Zofia Kunicka, mit der er einige Zeit verlobt ist. Zofia fürchtet sich explizit vor einer Ehe mit ihm und zieht ihm schließlich Ludwik vor. Im Lauf der Jahre bildet Michał zwei Eigenschaften besonders aus: eine große juristische Geschicklichkeit und Kühnheit, die er viele Jahre zugunsten des Vaters und des gemeinsamen Vermögens einsetzt, ohne dafür viel Anerkennung vom Vater zu erhalten, und eine große, traditionelle Frömmigkeit. Rzewuski erhebt ihn am Schluss zu einem veritablen Heiligen, als er wegen Hochverrats gegen den König Stanisław August hingerichtet wird.

Der Bruder Ludwik dagegen gelangt nach Lothringen an den Hof des dort residierenden ehemaligen polnischen Königs Stanisław Leszczyński und wird in Lunéville wie im Versailles Ludwigs XV zum Modegecken und typisch französischen Offizier erzogen. Wegen seiner männlichen Schönheit ist er der Abgott der adligen Damen. Überhaupt wird uns Ludwik zunächst nur als seelenloser Boudoir-, Pistolen- und Degenvirtuose und später als skrupelloser Intrigant im Dienste eines charakterlosen Königs dargestellt. Aber obwohl Ludwik sich schließlich an seinem Bruder versündigt, indem er ihm die schöne Zofia ausspannt, entwickelt er mit der Zeit dennoch ein Bedürfnis nach moralischen Lebensgrundsätzen (nicht zuletzt unter dem Einfluss seiner hochmoralischen Frau). Zwar stirbt er am Ende als Selbstmörder, aber aus Motiven, die ihm aus der Sicht des Autors Ehre machen: Er hat im Dienst für den König seinen hochverräterischen Bruder festgesetzt; es gelingt ihm jedoch nicht, den König zu einer Begnadigung Michałs zu bewegen. Damit hat er nach eigenem Verständnis seine Ehre verloren, und nicht zuletzt auch den Glauben an die moralische Berechtigung der Sache seines aufgeklärten Königs.

Eines der „Geheimnisse“ dieses Romans ist die komplexe Art der Darstellung des negativen Helden, des jüngeren Bruders Ludwik, die auch die Erzählkonstruktion betrifft. Einen ersten Eindruck davon gibt Kapitel I, 9, bestehend aus einem Brief Ludwiks, neuerdings Starost von Wieluń, an den Fürstgeneral der podolischen Lande (offenbar Adam Jerzy Czartoryski). Nach jahrzehntelanger Abwesenheit in Lothringen und Frankreich sowie im kosmopolitischen Warschau ist Ludwik wieder nach Litauen geraten und schildert seine gemischten Gefühle folgendermaßen:

Unter dem Strohdach des Hauses meiner Familie, wo sich ohne jeden Abstand an den Geist der Zeit die sarmatischen Sitten erhalten haben, schreibe ich Euerer Fürstlichen Durchlaucht. Auf Befehl seiner Majestät des Königs nach Litauen gereist, bin ich bei meinem Bruder zu Gast, dem Wojski von Słonim, seit langer Zeit begnadeter Jurist, eine Zeitlang bewaffneter Parteigänger der Sache des Fürsten Herr Lieberchen[35], jetzt aber musterhafter Landwirt, Kornsäer, Groschenjäger, zwar ein Litauer, wie er im Buche steht, aber summa summarum ein höchst biederer Mensch. Man sage, was man will, es muss ein Reiz in der Tugend liegen, dass ich, von klein auf an das Denken und die Eleganz der aufgeklärten Welt gewöhnt, ich Sybarit in allen meinen Lastern, in einer lehmverstunkenen oder litauisch teerberäucherten Hütte wohne, jede Nacht durch das Heulen aus dem Hundezwinger meines Bruders geweckt werde, mich vom Barszcz und einer Tatarenmahlzeit ernähre, welche hier «wereszczaka» genannt wird[36], kein anderes französisches Wort höre als nur das, was aus dem Munde meines Lafler kommt, – und bei alledem verspüre ich einen unwillkürlichen Neid auf meinen Bruder und darauf, dass eine innere Einrichtung ihn zu einer solchen Lebensweise befähigt[37].

Der laut den bisherigen romanesken Auskünften völlig französisierte Ludwik schildert hier und im weiteren Verfolg des Briefes mit nicht geringer Selbstironie, wie die litauische Lebensweise und die konservativ katholische Moral seines Bruders ihn zu seinem tiefen eigenen Erstaunen anzieht und anheimelt. In diesem Brief ist er sich noch nicht bewusst, dass hier nicht nur die immer wieder bestätigte wechselseitige Sympathie zum Bruder aus ihm spricht, sondern auch bereits die Liebe zu Michałs Verlobter Zofia Kunicka in ihm wirkt. Dass er dies alles im kräftigen, ganz leicht „sarmatisch“ angehauchten Polnisch des Erzählers schildert, könnte dem Autor Rzewuski als Mangel an stilistischer Nuancierungsfähigkeit angekreidet werden. Sehr viel mehr spricht dafür, dass gerade dies einer wohldurchdachten auktorialen Strategie folgt. Sobald nämlich Ludwik selbst auf den Plan tritt, d.h. selbst das Wort erhält, erweist er sich zumindest in seiner polnischen Ausdrucksweise als der gleiche litauische Edelmann, wie der Erzähler und sein Bruder Michał einer ist. Aber während Michał, der positive Held, unter den Unglücksschlägen, die ihn treffen, seelisch mehr oder weniger erstarrt, erlebt der negative Held Ludwik eine psychische und moralische Neubelebung, die das Interesse des Lesers wach hält. Diese Metamorphose vollzieht sich zunächst unter dem Einfluss seiner authentischen großen und erwiderten Liebe zur Verlobten seines Bruders und seiner späteren Ehefrau; Jahre später setzt sie sich dann fort unter dem Druck seiner Schuldgefühle als moralisch Verantwortlicher für die Exekutierung seines Bruders, die er nicht abzuwenden vermag.

Etwa in der Mitte des Romans (Band II, Kap. 8) werden Auszüge aus Ludwiks Tagebuch eingeschoben, die er während seiner Genesung nach einem Duell mit Zofia Kunickas Bruder niederschrieb:

Auf dem Lager meiner Schmerzen, die ich nicht mehr fühle, da ich nur dafür Gefühl bewahre, was irgendeinen Bezug auf den Gegenstand meiner Liebe hat, rufe ich mir manchmal jene seligen Momente in Erinnerung, die wir gemeinsam am Cembalo verbrachten, als unsere Seelen sich im Gesang ergossen. Die Musik ist das einzige sinnliche Zeichen, in dem wahre Liebe sich aussprechen kann. Wer die Musik nicht fühlt, dessen Herz wird für die Liebe immer verschlossen sein. Es ist dies eine besondere Sprache, aber auch ein Meister in der Kunst wird sie nicht verstehen, wenn er beim Vernehmen ihrer Laute nicht von heftiger Leidenschaft geschüttelt wird. Wenn aber zwei Liebende ihren Seelen im Gesang verbinden, wird dieser Gesang zum wirklichen Gespräch zweier Herzen; sie werden einander verstehen, durchdringen und dennoch in Worten nichts davon auszudrücken vermögen. Es ist dies eine geheimnisvolle Zauberkunst; und es nimmt nicht Wunder, dass das Christentum sie als einzige unter allen anderen in seinen Himmel versetzt hat[38].

Diese sicherlich sentimentalste Passage des ganzen Romans wird sofort relativiert durch die von Ludwik in selbstironischer Absicht angeführte Anekdote von der Versailler Hofdame Comtesse de Jarnac, die in völlig haltloser Liebe zu dem Sänger Geliot entbrannte und dafür von ihrer Familie ins Kloster verbannt wurde. Dennoch ist hier eine Tür zu Ludwiks emotionalem Leben und damit auch zu einem beträchtlichen menschlichen Wert dieses negativen Helden geöffnet. Michał wird dagegen so gut wie immer rein von außen betrachtet und charakterisiert.

Gerade in dieser Hinsicht kommt nun aber den Briefen und Tagebucheintragungen des eine ganz besondere Funktion zu – der negativ Held Ludwik wird zum durchaus glaubwürdigen Neben- und Miterzähler: Ludwik charakterisiert nämlich das Leben und Verhalten seines Bruders in einer Mischung aus Kritik und großer sympathischer Anteilnahme. Seine Brief- und Tagebuchtexte (Kapitel I, 9, 10 und 15; II, 8) bieten bemerkenswerterweise nicht das Zerrbild einer «aufgeklärten» Mentalität und Gesinnung wie die eingeschobenen Briefe anderer Personen (die Kasztelanowa und Gintowt in II, 6 und II, 9). Vielmehr sind sie Zeugnisse des unbewussten oder auch bewussten emotionalen und moralischen Potentials, das bei aller französischen und aufgeklärten Witzigkeit in dieser Person steckt.

Der positive Held Michał spielt zwar nie die Rolle eines Neben-Erzählers, aber auch ihm wird eine emotionale Aura verliehen. Sie ist durch eine Verdüsterung seiner Gefühlswelt bestimmt. Er leidet unter dem persönlichen Unglück, das ihn von Kindesbeinen an systematisch befällt, und der Roman heißt Listopad, „November“, weil Michał als Privatmensch oder als polnischer Staatsbürger immer im November von großem Unglück befallen wird. Offenbar rettet ihn nur seine tiefe Religiosität vor seinen Depressionen. Zu Beginn der Schlussphase des Romans (III, 1 Wjazd do Warszawy) verhält er sich sentimental: der auf geheimer Mission befindliche verkleidete Konföderierte Michał erlebt in einer Warschauer Kirche seine frühere Verlobte und hat selbstverständlich melancholische Gefühle; er gefährdet seine Aktion, indem er Zofia ihren Verlobungsring überbringen und den seinen zurückfordern lässt[39]. –

Rzewuskis Roman hat beträchtliche Qualitäten. Es gibt hier zwei Episoden, die auch kompositorisch aufeinander bezogen sind und die dem Autor Gelegenheit geben, sein glänzendes Talent als Charakterschilderer und Erfinder spannender Episoden auszuspielen: das eine ist die Geschichte der Befreiung Michałs aus kurzfristiger Gefangenschaft bei den königlichen Truppen[40] — diese Geschichte mit all ihren Tricks und Umständen ist zugleich auch die Geschichte eines analphabetischen, aber ungeheuer umsichtigen und listigen Altadligen namens Skołuba, der die Befreiung mit List und Tücke durchführt. Die andere Episode ist die kurzfristige Gefangenschaft von König Stanisław August bei den Aufständischen und die Umstände seiner Befreiung — hieran sind einige Nebenfiguren beteiligt, darunter eine Prostituierte und ihr Geliebter, ein Schwerverbrecher. Das sind spannende Geschichten, und zugleich prachtvolle Milieustudien aus der damals nahen Vergangenheit. Listopad ist nämlich – und das ist nicht seine geringste Tugend – eine sehr gelungene Mischung aus historischem Roman und Gesellschaftsroman. Insbesondere die Milieustudien zur Großstadt Warschau, in der zwei Kneipen und ihre Besitzer samt Umfeld, sowie das Warschauer Hof- und Palais-Milieu geschildert werden, stehen in offenkundigem Kontakt zum modernen Sozialroman der 1840er Jahre.

Listopad überragt die meisten anderen polnischen Romane seiner Zeit insbesondere durch die souveräne stilistische Handhabung der Sprache und der weit gespannten Romankomposition. Was die Stilistik des Romans betrifft, so ist ihr die Verwandtschaft zu den Pamiątki Soplicy  zwar anzumerken, aber Rzewuski vermag hier auch andere, weniger „stilisierte“ Sprachregister anzuschlagen, von denen einige auch auf Rousseau, Sophie Cottin und Richardson verweisen. Die bemerkenswerte künstlerische Leistung liegt hier darin, dass die unterschiedlichen Stilregister nicht auseinander fallen, sondern eine sinnvolle, kohärente Stilkomposition ergeben.

Hier kam es in allererster Linie auf die Konstruktion des auktorialen Erzählers an. Dieser geriert sich sprachlich als galliger, witzig-scharfzüngiger und sprachmächtiger Aristokrat. Mit selbstsicherer Willkür schiebt er Briefe und Tagebuchauszüge handelnder Personen ein, lässt narrative Passagen in dramatische Episoden übergehen[41], arbeitet mit Parallelgeschichten, kontrastiven Charakterstudien und ausführlichen Kommentaren (in der Rolle des Psychologen, des Geschichtsforschers, des konservativen «soziologischen» Gesellschaftsschilderers und -kritikers und des konservativen Geschichtsphilosophen), er bewegt sich in Rückblenden und Vorausdeutungen zielstrebig im weiten zeitlichen Raum der Romanhandlung. Solche Souveränität und Stilkompetenz der Erzählerinstanz vermisst man in den meisten anderen polnischen Romanen jener Zeit (Goszczyński, Kraszewski, Korzeniowski). Dieses positive Bild des Erzählers wird indessen gelegentlich von den zahlreichen, nicht immer lakonischen Fußnoten gestört, mit denen der Erzählmonolog garniert wird. Sie irritieren und intrigieren gleichermaßen. Wollte der Autor seinem „fiktionalen Erzähler“ systematisch ins Wort fallen, weil er ihm in seinen Wertungen und Einschätzungen nicht eindeutig konservativ genug ist? Oder wollte er als Reflex der Erzählweisen Laurence Sternes und Denis Diderots die Fiktionalität seines Erzählers hervorkehren? Aber trotz diesem Schönheitsfehler muss die ungewöhnliche stilistische Souveränität des Romans hervorgehoben werden, die erst wieder von den reiferen Werken der Positivisten Bolesław Prus und Henryk Sienkiewicz wieder erreicht wird.

In Stil und Gesamtzuschnitt ist Listopad, wie eingangs gesagt, Teil eines Komplexes der «Aufklärungsprosa», die sich in den 1840er Jahren mit frührealistischen Tendenzen amalgamiert. Mit der Romantik verbindet ihn gleichwohl manches – die Polemik gegen die Aufklärung, die Wahl der Konfederacja Barska als wichtigstem Stoff der «Gegenwartshandlung» (vgl. Słowacki und auch Mickiewicz), und schließlich ein depressiver Fatalismus, der bei aller Polemik gleichwohl den ganzen, melancholisch gefärbten Roman durchzieht

Listopad beginnt mit einer knappen philosophischen (von Hegel inspirierten) Abhandlung über die Grundidee des Romans. Der Autor will die polnische Gesellschaft für ein antinationalistisches Denken gewinnen, im Interesse einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem großen Protektor Russland, und zugleich für ein polnisches Geschichtsbewusstsein werben, in dem die Kultur und Moral des altpolnischen Adels nicht nur – wie im Gefolge der Aufklärung üblich geworden – als Karikatur wahrgenommen, sondern als wesentlicher Punkt des polnischen Nationalcharakter akzeptiert wird. Die Menschheit, so Rzewuski, ist als solche Subjekt der Geschichte; das Allgemeinmenschliche an der Menschheit ist  die Synthese aus dem Widerstreit der nationalen Unterschiede zwischen den Menschen, die in der Allmenschlichkeitssynthese dialektisch aufgehoben sind: die nationalen Unterschiede sind politisch nicht mehr relevant und dürfen keinen Grund für nationalen Hass unter den Völkern mehr liefern, sie sind aber auch aufbewahrt, und sie bleiben dem betreffenden Volk unter allen Umständen als Zeichen seiner nationalen Individualität erhalten. In diesem Sinn sei jede Verunstaltung der nationalen Physiognomie eines Volkes ein Anschlag auf seine Existenz. Grundlage des Romans sei, so das Vorwort, die Geschichte zweier Kulturen, der europäischen Aufklärungskultur und der eigenen polnischen sarmatischen Adelskultur, wobei die Aufklärungskultur die sarmatische Kultur förmlich verschlungen habe. Hier wird, so soll man den Autor verstehen, nun poetische Gerechtigkeit geübt, indem die unterlegene polnische Adelskultur in ihrer moralischen Überlegenheit dargestellt wird. Der Roman idealisiert also die unterlegene Kultur, deren Andenken es poetisch zu retten gilt – obwohl oder weil, so muss man ergänzen, eben diese sarmatische Adelskultur in den 1840er Jahren ihre reale Autorität in der polnischen Gesellschaft bereits unwiederbringlich eingebüßt hatte.

Ich denke, der entscheidende Grund für die allseits gestörte Wahrnehmung dieses Romans ist das Profil seines Autors als eines unerträglichen, bei allen Parteien geradezu verhassten Publizisten, das er sich redlich verdient hat. Rzewuskis zahlreiche hyperkonservative Provokationen der patriotischen political correctness seiner Zeit lassen in Polen offenbar bis heute nicht genügend Raum für eine empathische Lektüre seines bedeutendsten literarischen Werks. Es ist aber vorstellbar, dass einige polnische Autoren anders gelesen haben. Stefan Żeromski als Autor des historischen Romans Popioły war vermutlich empfänglich für Rzewuskis Werk; Stanisław Brzozowski als Autor seines bitteren Romans Sam wśród ludzi  (und als Opfer der öffentlichen Meinung in Polen) hat vermutlich die verkappte Melancholie erkannt, die Rzewuskis Roman prägt. Listopad gehört zu den wenigen überragenden Romanwerken der ersten polnischen Jahrhunderthälfte wegen seiner hohen Stilisierungs- und Kompositionskunst, aber auch dank der Tatsache, dass er aus seiner Melancholie kein weinerliches Lamento macht.

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Das Wesentliche über die Bedeutung der beiden hier vorgestellten Romane als modellartige Vertreter zweier verschiedener Stiltraditionen und Stillinien der polnischen Prosa ist eingangs bereits gesagt worden. Die wichtigste These dieser Studie ist aber die, dass es sich entgegen weit verbreiteten Anschauungen bei diesen Romanen um ganz vorzügliche, weit über den Durchschnitt der sonstigen polnischen Romanproduktion jener Jahre herausragende Exemplare ihrer Gattung handelt. Es besteht Grund zu der Annahme, dass manche späteren polnischen Autoren, darunter Henryk Sienkiewicz, Stanisław Brzozowski, Stefan Żeromski und Wacław Berent, mit dieser Tatsache leichter umgehen konnten als viele Literarhistoriker.


[1] Ich beziehe mich auf die Ausgaben Zygmunt Krasiński, Pisma Zygmunta Krasińskiego : wydanie jubileuszowe, t. 2, Władysław Herman ; Agaj-Han , Kraków : Gebethner i Spółka ; Warszawa : Gebethner i Wolff, 1912; und [Henryk Rzewuski] , Listopad: romans historyczny z drugiej połowy XVIII wieku / przez autora «Pamiątek starego szlachcica» , tt. 1 – 3, S.-Petersburg: w Drukarni Wojennej, 1846 [in Freiburg vorhanden SLS PO-Rzew-1/1-3]. Es existieren deutsche Übersetzungen bzw. „Nachdichtungen“, die mir aber nicht zugänglich waren: Agay-Han : Roman nach dem Polnischen des A. K. ;  Emil Brachvogel, Leipzig : Einhorn, 1840; W.Bachmann, Der Fürst «Mein Liebchen» und seine Parteigänger : historischer Roman aus der letzten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, – Berlin : M. Decker, 1856. Die Übersetzungen aller polnischen Zitate stammen von mir.

[2] Vgl. K. Bartoszyński, «Proza okresu romantyzmu – proza zapomniana?», in: Zofia Trojanowiczowa, Zbigniew Przychodniak (wyd.), Zapomniane wielkości romantyzmu, Poznań Wyd. PTPN 1995, S. 37-66.

[3] Die rhythmisierte Prosa des Romans ist in einen stilgeschichtlichen Zusammenhang mit Mickiewiczs Księgi Narodu i Pielgrzymstwa Polskiego und Słowackis Anhelli zu setzen.Maria Janion lancierte den «Stil eines romantischen Expressionismus», (Dominik Magnuszewski und Krasińskis Agaj-Han), für den u.a. Chateaubriand, Victor Hugo, Jules Janin und Charles Nodier das Vorbild abgegeben hätten – s. Maria Janion, Zygmunt Krasiński. Debiut i dojrzałość, Warszawa Wiedza Powszechna 1961, 186 – 190. Es wäre ferner näher zu untersuchen, in welchem Verhältnis Krasińskis «Traktat-Stil» zu Maurycy Mochnacki und weiter zum Stil der „Nationalphilosophen“ (August Cieszkowski, Bronisław Trentowski) steht.

[4] „Aufklärungsprosa“ ist hier rein stilgeschichtlich gemeint, nicht ideengeschichtlich. Genetisch gehört auch die Linie des «Sternismus» zur „Aufklärungsprosa“; seine Anverwandlung innerhalb romantischer Romanprosa steht auf einem anderen Blatt. Die mächtige Position des ganzen Komplexes der «Aufklärungsprosa» auch in der Romantik-Epoche hängt unter anderem mit ihrer Verankerung im gängigen Stil der Geschichts- und anderen Wissenschaften zusammen.

[5] Józef Korzeniowski, Fryderyk Skarbek, Józef Ignacy Kraszewski. Ein vergleichbares «Vorbeigehen an der Romantik» ist bei dem Dramatiker Aleksander Fredro zu verzeichnen, dessen sehr eigenwillige und „sarmatisch“ angehauchte Prosa (Trzy po trzy – entstanden vor 1848, Erstdruck 1917) ebenfalls dem nicht-romantischen Stilkomplex zuzuordnen ist.

[6] Andrzej Waśko, „Romantyczna epika neosarmacka“, in: Historia literatury polskiej w dziesięciu tomach. T. V. Romantyzm, część druga, Bochnia-Kraków-Warszawa Wydawnictwo SMS [2003], 195 – 222.

[7] Vgl. hierzu die Bemerkung über die quantitative Entwicklung der polnischen Romanproduktion in Józef Bachórz, «Powieść», in: Słownik literatury polskiej XIX wieku, Wrocław etc. Ossolineum 1991, S. 735.

[8] Agay-Han: Powieść historyczna oryginalnie napisana / przez A. K., Wrocław u Wilhelma Bogumiła Korna 1834 [recte 1833]; die 2. Auflage ist leicht verändert ebendort erschienen.

[9] Willkürlich eingefügte Briefe, Tagebuchauszüge, Fußnoten zum Erzählermonolog und anderes mehr verleihen diesem Roman der 1840er Jahre eine mimikryartige Stilisierung auf Erzählmethoden des 18. Jahrhunderts. Dem widerspricht nicht die Gestaltung mehrerer Kapitel im Geist der zur Entstehungszeit modernen „physiologischen Skizze“.

[10] Im Warschauer Klassizismus sind hier die „Nationaltragödien“ von Alojzy Feliński, Antoni Hoffman, Franciszek Wężyk, aber auch Niemcewiczs Tragödie Zbigniew zu nennen, die denselben Stoff verarbeitet wie Krasińskis Roman (s. Maria Janion, Zygmunt Krasiński. Debiut i dojrzałość, Warszawa Wiedza Powszechna 1961, S. 69).Słowacki kritisiert die Schwäche der polnischen Führungspersonen in Kordian und in Lilla Weneda (dem schwachen Wenederkönig Derwid wird die grausam entschlossene Roza Weneda gegenübergestellt); Krasińskis Graf Henryk in der Ungöttlichen Komödie wird als grausamer und harter Führer ebenso verurteilt wie verklärt.

[11] Józef Kallenbach, Zygmunt Krasiński. Życie i twórczość lat młodych (1812-1838), Lwów Nakładem księgarni polskiej B. Połonieckiego…1904, Bd. II, S. 43

[12] Juliusz Kleiner, Zygmunt Krasiński. Dzieje myśli, Lwów E. Wende 1912, Bd. I, 78 ff.

[13] In: Dzieje literatury pięknej w Polsce, wyd. II, cz. II, Kraków PAU 1936., 559-648

[14] „Agaj-Han jako romantyczna powieść historyczna“, in: eadem, Romantyzm: studia o ideach i stylu,  Warszawa: Państwowy Instytut Wydawniczy, 1969, 49-79), woraus im Folgenden zitiert wird. S. auch Zygmunt Krasiński. Debiut i dojrzałość, Warszawa Wiedza Powszechna 1961, 180 ff.

[15] Czarny człowiek. Krasiński wobec śmierci, Warszawa IBL s.a.

[16] Alina Witkowska, Ryszard Przybylski, Romantyzm, Warszawa PWN 1997, S. 384 f.; sowie  Andrzej Waśko, «Zygmunt Krasiński», in: Historia literatury polskiej w dziesięciu tomach. T. V. Romantyzm, część druga, Bochnia-Kraków-Warszawa Wydawnictwo SMS [2003], 35-56.

[17] Zygmunt Krasiński. Oblicza poety, Kraków Arcana 2001, 90-108

[18] Zygmunt Krasiński, Agaj-Han: powieść historyczna, Kraków: TAiWPN Universitas, 2002. (Klasyka mniej znana)

[19] Erwähnenswert ist die – sehr narrative – Darstellung von Krasińskis Werdegang in Józef Kallenbach, Zygmunt Krasiński. Życie i twórczość lat młodych (1812-1838), Lwów Nakładem księgarni polskiej B. Połonieckiego…1904. Eine hohe Bedeutung für den Stil dieses Romans kommt Krasińskis intensiver Auseinandersetzung mit der englischen und insbesondere mit der französischen Sprache und Literatur zu. Juliusz Kleiner, Zygmunt Krasiński. Dzieje myśli, Lwów E. Wende 1912, t. II, 265, erwähnt Victor Hugo, Lamartine, Balzac und Lamartine.

[20] Thema und Problem der starken Herrscher- oder Führergestalt wirken auch noch im Zentrum der polnischen Romantik nach, in Krasińskis Ungöttlicher Komödie, aber auch in mehreren Dramen Juliusz Słowackis, namentlich in Lilla Weneda (Roza Weneda).

[21] Krasiński, op. cit., 461 f. – Ausführlich schildert Niemcewicz, Dzieje panowania Zygmunta III, Warszawa, tt. I – III: Kraków, Biblioteka Polska 1860 [1. Aufl. 1819] die wirren Auseinandersetzungen zwischen den Kriegs- und Bürgerkriegsparteien in Russland, den polnischen Truppen, den Verbänden des Moskowiter Zaren Vasilij Šujskij und seinen schwedischen Alliierten. Was bei Niemcewicz als leicht durchschaubares Spiel der verschiedenen politischen und nationalen Interessen dargestellt wird, erscheint bei Krasiński als das Chaos wildgewordener, zügelloser Massen, die sich in den Weiten des europäischen und asiatischen Russlands rücksichtslos gegen sich selbst und gegen andere austoben.

[22] Krasiński, op. cit., 412 f.

[23] Niemcewicz, op. cit., II, 264

[24] Krasiński, op.cit., 418

[25] ibidem, 419

[26] Niemcewicz, op. cit., t. III, 299 f.

[27] Niemcewicz führt seine Darstellung des «Moskauer Krieges» wie folgt ein: „Wir gehen heute zu einem Krieg über, durch den Hochmut einiger Mächtiger unternommen, von König Sigismund läppischermaßen und darüber hinaus ungerechterweise unterstützt; in dem die polnische Waffenherrlichkeit durch die Schwäche des Königs, die Uneinigkeit der Feldherren und die entfesselte Willkür unserer Ritterschaft verdunkelt ward; in dem zwar Unentschlossenheiten und das Fehlen tapferer Stärke die großartigsten Absichten vernichteten und unserem Lande Verwüstungen und Niederlagen eintrugen, uns aber dennoch bedeutenden Nutzen einbrachten. Smolensk, eine Menge bewaffneter Burgen, fruchtbare Provinzen von 100 Meilen Ausdehnung, schließlich unsterblicher Ruhm, dies war der Lohn für das in diesem Feldzuge vergossene polnische Blut“. (II, 117 f.)

[28]  Krasiński, op. cit., 554

[29] Zygmunt Szweykowski,Powieści historyczne Henryka Rzewuskiego, Warszawa Książnica Polska 1922 S. 118-192.

[30] Szweykowski, op. cit., S. 138, Anm. 2; S. 141 f.

[31] Szweykowski, op. cit., 134 f.

[32] Witkowska, Przybylski, Romantyzm, op. cit. 522 f.

[33] Janusz Tazbir, «Wstęp», in: Henryk Rzewuski, Listopad. Wstęp i opracowanie Janusz Tazbir, Kraków Wyd. Universitas 2000 (Biblioteka Polska)

[34] Rzewuski, op. cit., I, S. 9. Vgl. dazu das Kontrastkapitel I, 5 „Ausländische Erziehung“, S. 33 ff.

[35] «Panie Kochanku» – wäre auch mit dem ostpreußisch und deutschbaltisch klingenden «Herr Trautester» übersetzbar.

[36] «wereszczaka“ – frischer Speck, an einer Zwiebelsoße gebraten.

[37] Rzewuski, t. I, S. 81 ff.

[38] Ibidem, t. II, S. 110

[39] Ibidem, Kap. III, 2 „Wielki świat”

[40] Ibidem  II, 14 „Uwolnienie“.

[41] Ganz szenisch ist Kap. II, 1; ferner eine Passage in III, 7.