Letzte Haltungen. Hans Urs von Balthasars „Apokalypse der deutschen Seele“ – neu gelesen, hg. Barbara Hallensleben, Guido Vergauwen, Fribourg 2006 (Studia Oecumenica Friburgensia 48), 159-178
Rolf Fieguth. Universität Freiburg/Schweiz
Dostoevskij bei Hans Urs von Balthasar. Eine Erkundung[1]
Sinn dieses Beitrags eines der Gäste im Kreis der Verehrer Hans Urs von Balthasars ist die Herstellung einer Passerelle zur Außenwelt. Balthasars Dostoevskij-Kommentar ist in der Slavistik völlig unbekannt. Auch die vorliegende Studie ist das Ergebnis einer Neubegegnung. Die mangelnde Wahrnehmung Balthasars in meinem Fach liegt sicherlich an der theologischen und konfessionellen Orientierung dieses Autors; überdies ist sein Dostoevskij-Kommentar Teil eines Werkes mit dem Titel Apokalypse der deutschen Seele, der für Leser gegenwärtiger Generationen nichts Anziehendes hat. Schließlich und endlich ist Balthasars großer Kommentar zu Dostoevskij anscheinend kein selbstständiger Ansatz, sondern Teil eines Kommentars zu Nietzsche. Er sagt ganz explizit, dass er Dostoevskij als den Hintergrund benützt, vor dem sich Nietzsches Positionen besser illustrieren und charakterisieren lassen:
[…] Nietzsches gesamtes Denken ist so auf dialektische Wechselrede angelegt, dass es nur in einer solchen steten Vergleichung und Abscheidung seinen Wesenscharakter offenbart. […] Hier […] muss einer einspringen, der ihm noch näher steht, ihm bis in die Einzelheiten seiner Fragestellung nachgeht und in einem Zweikampf von noch quälenderer Ungewissheit und Länge sich mit ihm misst. Er ist der einzige, mit dem der reife Nietzsche noch einen lebendigen Dialog unterhält (HUB II, 207)
Dostoevskij wird hier also gewissermaßen durch die Brille Nietzsches gesehen, und dabei stützt Balthasar sich unter anderem auch auf Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck und Georg Brandes[2]. Die Nietzschesche Perspektivierung Dostoevskijs in Balthasars Darstellung muss in der vorliegenden Studie zu kurz kommen[3], obwohl Nietzsche Hauptthema des betreffenden Bandes ist. Nietzsche wird hier in verschiedenen Kontexten dargestellt, zunächst in demjenigen seiner frühesten Leser (darunter Henri Bergson, Ludwig Klages, Carl Spitteler, Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Rilke), und erst dann, wenngleich mit besonderer Intensität, in der bereits erwähnten Gegenüberstellung mit Dostoevskij, in einem eigenen Kapitel «Nietzsche und Dostojewskij» (HUB 202 – 419), welches zugleich den Hauptteil des Bandes ausmacht. Sieben große Abschnitte gliedern das Kapitel: 1. «Spiegel und Fenster», ein synthetisierendes Proömium alles Folgenden, 2. «Lüge» – zu Nietzsches und Dostoevskijs paradoxen Wahrheitstheorien, 3. «Krankheit» – die Krankheit als Bewusstseinssteigerung bei beiden Autoren; 4. «Jenseits von Gut und Böse» – die Einbeziehung des Bösen in die Konzeptionen beider Autoren; 5. «Die Botschaft des Propheten» – über die Einstellung beider Autoren zum Verhältnis von Geist und Volk oder Nation, zur sozialistischen oder christlichen Utopie sowie zum Schönen; 6. «Metaphysik des Apokalyptischen» – mit Abschnitten «Gericht über Dostojewskij» und «Gericht über Nietzsche»; 7. «Erfassung der Notwendigkeit» – zum «Synthesisproblem» bei beiden Autoren.
Balthasars Gedankengänge zu Nietzsche und Dostoevskij können hier nicht annähernd resümiert werden. Es sei aber doch kurz auf die paradoxe Pointe verwiesen, die Balthasars Darstellung der beiden Autoren gewissermaßen einfärbt. Dostoevskij erklärt sich selbst als Christ, Nietzsche ist der Philosoph des Todes Gottes. Der Christ Dostoevskij ist aber vor dem letzten Sprung in das „Eschaton“ durch anhaltende Zweifel gehemmt, stößt ständig an eine Wand oder Mauer[4] – das Wand-Motiv bei Dostoevskij wird uns noch beschäftigen – , während der Atheist Nietzsche das, wie Balthasar sich ausdrückt, „Herzgeheimnis des Christentums“ versteht und zum Ausdruck bringt[5] – nämlich „das Geheimnis des Durstes Gottes nach Armut und „Vergeblichkeit“ – und das heißt, Gottes Durst nach Liebe“[6]. Balthasar weist sich mit dieser Pointe als Denker in Paradoxen aus, zumindest in seiner damaligen Phase der 1920er Jahre; ein solches Denken erleichtert ganz sicherlich den Zugang zu Dostoevskij.
Werfen wir aber einen Blick auf die zeit- und literarhistorische Situation von Balthasars Begegnung mit dem russischen Schriftsteller. Diese fällt in eine zweite Phase der allgemeinen deutschen Dostoevskij-Rezeption. Die erste Phase[7] war in den 1880er Jahren von dem bedeutenden internationalen Literaturkritiker Georg Brandes im Zusammenhang mit der Frühphase des deutschen und internationalen Nietzsche-Kults lanciert worden und stützte sich auf die zahlreichen Dostoevskij-Ausgaben des Berliner Otto Janke Verlages und des Leipziger Friedrich-Verlageszwischen ca. 1880 bis ca. 1895. Schuld und Sühne wurde bereits 1882 erstmals in deutscher Übersetzung publiziert (unter dem Titel Raskolnikow) und von den jungen Naturalisten als Inbegriff des radikalen naturalistischen Romans gelesen; es folgten Die Gebrüder Karamasow, 4 Bde., 1884, Walfriede Steins Übersetzung des Jüngling unter dem Titel: Junger Nachwuchs, 3 Bde., 1886,Aus einem todten Hause 1886[8], Die Besessenen 1888, Idiot 1889. Dostoevskij war also bereits in den 1880er Jahren in Deutschland bekannt und trug zu einer literarischen Atmosphäre bei, an der auch August Strindberg, Stanislaw Przybyszewski und Richard Dehmel teilhatten. Vom Bekanntheitsgrad Dostoevskijs in jener Zeit zeugt auch das Reclambändchen Erzählungen (1886)[9]. Genau in dieser Phase der deutschen Dostoevskij-Rezeption hat ja auch Friedrich Nietzsche Dostoevskij und seine Aufzeichnungen aus dem Untergrund entdeckt[10].Rilkes und Thomas Manns Wahrnehmung der russischen Literatur und damit auch Dostoevskijs fällt in diese Phase der Dostoevskij-Rezeption[11]. Balthasar blendet sie völlig aus; ganz unbekannt kann sie ihm schwerlich gewesen oder geblieben sein.
Allerdings stand in jener ersten Phase der andere Gigant der russischen Literatur noch stark im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, Lev Tolstoj, mit seiner erbarmungslosen Kritik am kirchlichen und überhaupt irgendwie formalisierten Christentum, an Staat und Gesellschaft[12]. Dostoevskijs nicht weniger radikale Einstellung zu diesen Fragen lief demgegenüber nicht auf eine äußerliche Vernichtung von Kirche, Staat und verfasster Gesellschaft hinaus, sondern eher auf eine charismatisch-konstruktive Kritik am Bestehenden. Wir haben heute so gut wie vergessen, einen wie großen Einfluss Lev Tolstoj und nicht Fedor Dostoevskij auf einen großen Teil der anti-traditionalistischen Avantgarden Russlands und Europas ausübte, und wie stark gerade Tolstojs religiöse Vorstellungen und Überzeugungen seinerzeit provozierten und ausstrahlten[13]. Im Vergleich zu Tolstoj, den die russische Kirche exkommunizierte, nahm Dostoevskij sich allzu kirchen- und zarennah aus. Überdies wirkte der machtvoll empörte, in russische Bauernkittel gewandete Graf Tolstoj dank seiner überragenden Fähigkeit zur Gestaltung plastischer Roman- und Dramenfiguren immer irgendwie vornehm. Dostoevskij, Sohn einer Kaufmannstochter und eines Popensohns, nahm sich trotz Vaters spät erdientem Adel demgegenüber nicht recht salon- und satisfaktionsfähig aus. Er bediente und bedient bis heute mit seinen schrillen Tönen und konvulsivischen Figuren bei aller unbestreitbaren Größe eine Kleinbürger- und Angestelltenmentalität, – zweifellos einer der tieferen Gründe für seinen späteren Welterfolg.
Dostoevskijs Ruhm gewann noch vor dem 1. Weltkrieg eine neue Qualität und trat in seine zweite Phase ein, und zwar durch seine Herauslösung aus dem bisherigen Zusammenhang mit Naturalismus und «jüngstdeutscher» Kulturrevolte. Es gelang nunmehr seine Eingemeindung in die vornehmeren Gefilde der wilhelminischen Kulturatmosphäre der Jahrhundertwende, aber auch des frühen Expressionismus, sowie nicht zuletzt auch in den Umkreis des seinerzeit so genannten „völkischen“ Denkens. Zu alledem trug Nietzsches bekannte Wertschätzung für Dostoevskij zweifellos bei. Ein besonders wichtiger Ausdruck dieses neuen Dostoevskij-Interesses wird die bereits 1907 gestartete, von Dmitrij Merežkovskij (1866-1941) und Arthur Moeller van den Bruck (1876 – 1925) betreute Ausgabe sämtlicher Werke Dostoevskijs im Piper-Verlag.Für heutige Beobachter mag die Tatsache, dass ausgerechnet Moeller van den Bruck führend an dieser Ausgabe beteiligt war, das ganze damalige Dostoevskij-Unternehmen eindeutig in die rechtsradikale Ecke rücken; auch Dmitrij Merežkovskij, ein hochfliegend idealistischer religionsphilosophischer Denker, Romanschriftsteller und Autor mäßiger Lyrik, ist nicht gerade der Prototyp des europäischen Aufklärers. Aber eben diese Ausgabe erscheint von nun an in zahlreichen Neu- und Einzelausgaben und prägt das Dostoevskij-Bild von Generationen deutscher Dostoevskij-Leser, darunter sowohl Franz Kafkas, als auch eben Hans Urs von Balthasars. Die neue Welle der Dostoevskij-Rezeption erreichte ihren deutschen und europäischen Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit, und Balthasars spezifische Dostoevskij-Rezeption fällt in diese Phase.
Wie nimmt sich nun seine Dostoevskij-Darstellung aus der Warte des Fachslavisten und Literaturwissenschaftlers aus?
Balthasar hat sich, wie ich bei meiner Lektüre feststellen konnte, mit Dostoevskij außerordentlich seriös auseinandergesetzt und geht auf eine Vielzahl literarischer und nicht-literarischer Texte des russischen Autors ein. Er konnte eine so umfängliche Leseerfahrung ansammeln, weil mit der erwähnten Edition des Piper Verlags eine Dostoevskij-Ausgabe verfügbar war, die in ihrer Vollständigkeit, auch was die postumen und nichtedierten Schriften betraf, auf lange Jahre hinaus bedeutend umfangreicher und ausführlicher war als jede russische Ausgabe. Immerhin gehörte ja Dostoevskij nach der Revolution von 1917 zu den vom Sowjetregime bekämpften und daher wenig publizierten Autoren (was wohl wesentlich zu seinem Ruhm im Westen beitrug). Balthasar konfrontiert seinen Leser also mit einer recht erstaunlichen Fülle von Werken Dostoevskijs, nämlich mit den Aufzeichnungen aus dem Untergrund, den Romanen Die Erniedrigten und Beleidigten, Schuld und Sühne, Dämonen, Der Jüngling[14], Die Brüder Karamazov,– ganz zu schweigen von zahlreichen nichtliterarischen Äußerungen des Russen. Der Dostoevskij-Leser kann in Balthasars Beobachtungen viele wesentliche Eigenarten von Dostoevskijs Werk durchaus wiedererkennen. Balthasar ist jedenfalls deutlich textnäher als der russische Dichter, Altertumswissenschaftler und Religionsphilosoph Vjačeslav Ivanov, Autor des bedeutenden und berühmten Buches Dostojewskij. Tragödie – Mythos – Mystik (dt. 1932)[15]. Balthasar ist in den 1920er Jahren kein „frommer“, „einfältiger“ Dostoevskij-Leser, sondern er bewahrt sich einen scharfen Blick für die Brüche und Zweifel in Dostoevskijs Denken und Werk. Das erwähnte Buch von Ivanov zeigt demgegenüber einen derartigen Fortschritt an katholischer und orthodoxer Frömmigkeit und mystischer Vertiefung, dass es heute entschieden schwerer verdaulich ist als Balthasars Dostoevskij-Kommentar.
Besonderen Respekt nötigt dem Literaturwissenschaftler Balthasars Streben nach einem multiperspektivischen Erfassen von Dostoevskijs Welt- und Realitätssicht ab. Den Multiperspektivitätsgedanken leitet der Schweizer Autor natürlich von Nietzsche ab. Nun lässt sich Balthasars nietzscheinspirierte Multiperspektivitätskonzeption aber durchaus mit der berühmten Polyphonietheorie Michail Bachtins zusammenhalten, die aus derselben Periode stammt wie Balthasars Kommentar, und ferner darf ausgeschlossen werden, dass Bachtin Nietzsche und dessen Multiperspektivitätskonzeption nicht kannte. Man darf also annehmen, dass Bachtin und Balthasar unabhängig voneinander in Nietzsche eine gemeinsame Inspirationsquelle für ihre Dostoevskij-Sicht fanden[16].
Michail Bachtin[17] ist heute weltbekannt als prominentester und interessantester Dostoevskij-Kommentator, der den großen russischen Autor nicht unter religiösen Gesichtspunkten interpretierte. Bachtin war ein philosophisch und kulturhistorisch glänzend gebildeter Kopf, der unter anderem auch eine vielbeachtete Studie über Rabelais und die Lach- und Karnevalskultur des 16. Jahrhunderts vorgelegt hat[18]. Bachtin und einige seiner Freunde wie Pavel Medvedev und Valentin N. Vološinov waren sicherlich keine Gefolgsleute des bolschewistischen Regimes, versuchten aber, eine Art geistige Opposition innerhalb des Marxismus aufzubauen. Man kann dies an dem unter dem Namen Valentin N. Vološinovs erschienenen Werk Marxismus und Sprachphilosophie[19]studieren, das als subtile Polemik gegen die monologischen Befehle und Losungen der Partei gelesen werden muss und mit marxistischen Termini eine Kommunikationskultur des unabschließbaren Dialogs einfordert. Eben dies ist auch eine Grundidee von Bachtins Dostoevskij-Buch[20]. Dostoevskij, so Bachtin, sei der Erfinder des polyphonen Romans, in klarem Gegensatz zu den monologischen Romanen Tolstojs. Bei Dostoevskij stehe jede Figur im Widerspruch zu ihrem Autor und zu ihrem Erzähler; Autor und Erzähler seien der Figur nicht übergeordnet, sondern stünden zu ihr auf gleicher Augenhöhe und diskutierten miteinander von gleich zu gleich. Dadurch habe jede Figur, auch der Erzähler, eine je eigene Stimme, die nicht im Gesamt der Romanintention aufgehe, keine Harmonie bilde, sondern eben eine Polyphonie von untereinander gleichberechtigten Stimmführungen. Diese Polyphonie oder Vielstimmigkeit überschreite auch die Grenze des einzelnen Werks, denn dieses stehe darüber hinaus auch in einem unabschließbaren Dialog mit anderen Werken fremder Autoren[21] – hieraus hat dann in den 1960er Jahren die bulgarische Wissenschaftlerin Julia Kristeva das sehr erfolgreiche Prinzip der Intertextualität entwickelt[22].
Bachtins These vom originellen Polyphoniecharakter der Romane Dostoevskijs erhebt einen sozusagen universellen Anspruch, wonach Dostoevskij in jeder historischen und literaturgeschichtlichen Situation als Polyphoniker zu lesen sei. Aber bezogen auf den historischen Moment des Erscheinens dieses Buchs, Ende der 1920er Jahre, hatte es noch eine besondere Intention: es wollte Dostoevskij von dem Ruch befreien, der vom „revolutionären“ Standpunkt aus eindeutige Vertreter einer «feindlichen», zaristischen und kirchlichen Ideologie zu sein. Bachtin macht aus Dostoevskij, dem resoluten Vertreter einer bestimmten christlichen, nationalrussischen und sogar monarchistischen Denkrichtung, den Erfinder eines originellen, modernen und höchst aktuellen Kunstprinzips der Vielstimmigkeit. Dieser Ansatz einer Dostoevskij-Interpretation ist und bleibt anregend und fruchtbar, auch wenn man vom reifen Dostoevskij nicht behaupten kann, er habe sich mit seinen literarischen und publizistischen Werken nicht auf die Seite von ganz bestimmten gesellschaftlichen Positionen gestellt.
Balthasar kommt in seinen Dostoevskij-Kommentaren zu einer Einschätzung Dostoevskijs, die von derjenigen Bachtins nicht allzu weit entfernt ist: er bescheinigt ihm nämlich, wie bereits gesagt, einen im Nietzscheschen Sinne multiperspektivischen Zugang zur Realität und zur Wahrheit. Mit Bezug auf beide «Denker» sagt er:
Hier […] wird das Perspektivische selbst, die Gebrochenheit der Wahrheit in personale Facetten, als ein Ausdruck der Dürftigkeit verstanden, Irrtum und Verstrickung als zum Wesen der Existenz gehörig angesehen. (HUB 216)
Noch ausführlicher formuliert er dies an einer späteren Stelle:
Auf einer vordersten Ebene treten alle Hauptgestalten mit dem von Dostojewskij unterstrichenen Anspruch auf Begründetheit ihrer Perspektive auf. Jeder hat in seiner Sicht recht. […]. Auf einer zweiten Ebene enthüllt sich aber das „Tendenziöse” und „Polemische“ in der Auslegung Dostojewskijs, das umso verhüllter ist, je weniger es sich in abstrakten Sätzen, je mehr es sich in lebendigen Ereignissen und Charakteren ausspricht. Auf einer hintersten Ebene verschwimmt aber auch dies Tendenziöse noch einmal, um einer reinen existentiellen Beschreibung der Widersprüche zu weichen, die Dostojewskij in sich findet und denen er in seinen Gestalten Selbständigkeit verleiht. Auf dieser Ebene darf man sagen, dass hinter aller, auch widersprechenden Wahrheit, die von seinen Gestalten ausgesprochen wird, Dostojewskij selbst steht. (HUB 233)
Dies Letztere scheint nun zwar Bachtins Polyphoniekonzeption auf das Empfindlichste zu widersprechen – allerdings nur, solange man „Dostoevskij“ als eine in sich ungebrochene gedankliche Einheit sieht. Wenn man aber Dostoevskij selbst als Paradoxalisten[23] betrachtete, als in seinem Denken und Empfinden radikal uneinheitlichen Menschen, der als „unzuverlässiger Autor“ [24] seinen „Paradoxalismus“ in seine Figuren legt, dann wäre die so hoch geschätzte Bachtin-Nähe wieder hergestellt. Eben in diesem Sinne verfährt Balthasar:
Dostojewskij, der auf allen Standpunkten zugleich steht, ist Meister darin, eine Sphäre durch eine andere hindurch zu schildern. Der ganze «Jüngling» ist eine unendlich mannigfache und unterschiedene Welt seelischer Monaden, alle gebrochen durch das eine Medium des halbreifen, komplizierten, zugleich idealen und neurotisch-egoistischen Arkadi Dolgoruki. Dostojewskij kennt Wahrheit nur in dieser approximierenden Gebrochenheit. […] In diesem Sinne ergeben die zwei Extreme des «Besten» und «Bösesten» den einen dostojewskijschen Innenraum in seiner Dimension. Es ist die karamasofsche Dimension, wie der Rechtsanwalt sie erklärt: «Fähig, alle möglichen Gegensätze in uns zu vereinigen und gleichzeitig beide Abgründe anzuschauen: den Abgrund über uns, den Abgrund der höchsten Ideale, und den Abgrund unter uns, den Abgrund des allerniedrigsten und stinkenden Falles». Die Mitte der Scheinbarkeit, die für Nietzsche sich ergab, vermag bei der Dämonie dieses Widerspruchs hier noch im Sinne einer betonten Un-wahrheit als Wahrheit des Ganzen zu bestehen. Diese Unwahrheit ist es, in der also die Gestalten Dostojewskijs als in ihrem gemeinsamsten Medium existieren, und diese Unwahrheit legen sie jede in ihrer Weise aus […] (HUB, 232 f.)
Balthasar versteht aber die Dostoevskijsche Multiperspektivität vor allem philosophisch; als genuin literarisches Phänomen interessiert sie ihn eigentlich nicht. Er hat im Unterschied zu Bachtin wenig Sinn für die Semantik von Form und Stil. Als methodischen Fehler muss man ihm – aus heutiger literaturwissenschaftlicher Sicht – jedenfalls ankreiden, dass er für seine Argumentationen (die immer auch auf Nietzsche bezogen sind) Dostoevskij-Stellen aus dem publizierten und nichtpublizierten Gesamtoeuvre aussucht und einsetzt, ohne immer den unterschiedlichen Diskursstatus (literarisch-fiktional, Figuren- oder Erzählerrede; publizistischer Text, „philosophische“ Reflexion, Brieftext, usw.) dieser Zitate genügend zu reflektieren. Es scheint manchmal, Balthasar sei der Meinung, der wahre Inhalt der literarischen Äußerungen Dostoevskijs werde in nichtliterarischen Äußerungen offenbart. Tatsächlich aber muss man aber wohl Austausch, Dialog und Polemik auch zwischen literarischen und nicht-literarischen Äußerungen eines (ein und desselben!) Autors annehmen, und namentlich bei Dostoevskij ist dies die geeignetste Arbeitshypothese. Diese, wie mir scheint, Balthasarsche Fehleinschätzung wird in ihrer Wirkung dadurch verstärkt, dass der Schweizer, wie oben bereits erwähnt, Dostoevskijs so genanntes Denken als Kontrasthintergrund für die Darstellung einer anderen Denkweise benützt, nämlich derjenigen Nietzsches.
Balthasar sieht die Romanfiguren Dostoevskijs zwar durchaus differenziert, charakterisiert und zitiert sie aber eben doch sehr weitgehend als Sprachrohre ihres Autors in weltanschaulichen und Glaubensdingen. Er bringt allerdings nicht nur die bekanntesten Hauptfiguren ins Spiel, sondern auch wichtige Nebenfiguren. Unter diesen sei Myškins Vermieter Lebedev aus Der Idiot erwähnt, eine pralle Fallstaff-Gestalt[25], ferner Svidrigajlov, der prekärste aller Doppelgänger Raskol’nikovs aus Schuld und Sühne, sowie der mit Svidrigajlov «verwandte» Versilov, der eigenartige Vater des jugendlichen Helden Arkadij Dolgorukij in Der Jüngling. Svidrigajlov und Versilov sind in einem weiteren Sinne „Verwandte“ Stavrogins, der wichtigsten Figur in dem Roman Dämonen. Aber der Stavrogin der eigentlichen Romanhandlung in den Dämonen «gerinnt» Balthasar unter den Händen (HUB 274 ff.), weil er zwei, wie mir scheint, wichtige Fehler macht. Zum einen legt er Stavrogin im Sinne von Dostoevskijs postumen Bemerkungen und Kommentaren aus, die ebenso gut auf ein Weiterdenken und Weiterplanen dieser Figur hinauslaufen können wie auf eine Auslegung der Romanfigur selbst. Zum anderen stellt Balthasar alles, was uns im Roman selbst überhaupt zu Stavrogin mitgeteilt wird, auf eine einzige Stufe: Balthasars Stavrogin besteht aus allen verschiedenen Phasen seines Lebens gleichzeitig, aus den Phasen seiner Vorgeschichte und den Phasen der „gegenwärtigen“ Romanhandlung. Was wir nun aber über den vergangenen Stavrogin erfahren, ist bei Dostoevskij hochgradig multiperspektivisch, es ist nämlich aus den völlig auseinanderstrebenden Perspektiven seiner früheren oder jetzigen Freunde, Freundinnen und Geliebten erzählt, deren Perspektiven ihrerseits noch durch die Perspektive des Chronisten oder „Chroniqueurs“ Anton G-vnov gebrochen sind, der den ganzen Roman erzählt oder schreibt. Aus diesen lebendigen und verschiedenartigen Berichten über Stavrogins Vorleben geht hervor, dass früher eine Energie von ihm ausgegangen ist, die seine Freunde, Gefährten und Geliebten noch heute bewegt. Aber während der „aktuellen“ Romanhandlung selbst ist Stavrogin ein Mensch, der vor sich selbst und vor allen anderen Stück um Stück scheitert. Entscheidungsfreiheit und Entscheidungskraft simuliert er nur noch durch unvorhersehbare skandalöse Streiche und Capricen, da er seine eigentlichen und wesentlichen Dramen längst hinter sich hat – ohne sie verwunden zu haben. Stavrogin ist als eine Art menschliches simulacrum zu betrachten (möglicherweise heimlich als Blendwerk des Teufels, wobei sein Familienname Stavrogin in christlicher oder anti-christlicher Manier auch noch das Kreuz – stavros – , sowie das Teufelshorn – ‑ rog – assoziiert). Dieser Verlaufscharakter der inneren Geschichte Stavrogins kommt bei Balthasar sicherlich zu kurz. Generell ist ihm hier mit allem Respekt vorzuwerfen, dass er Stavrogin zum Kronzeugen seiner allgemeinen These zurechtbiegt, wonach Dostoevskij und seine Figuren bei ihrer Annäherung an Gott immer an einer letzten Mauer oder Wand scheitern, wobei diese Wand in Gestalt von Schuldstolz, Glaubensstolz oder aber Nicht-Glaubensstolz daherkomme. Was sich hinter dieser Wand oder Mauer verbirgt, das „Herzgeheimnis des Christentums“, ist aber laut Balthasar gerade die Befreiung von allem Stolz, die „Armseligkeit“ des nie genug Geliebt-Seins.
Einer der Haupttexte des Dostoevskijschen Oeuvres sind die Aufzeichnungen aus dem Untergrund (1864), diese eigenartige Prosa, die Nietzsche wohl im Jahre 1886 entdeckte und aus der er sein gesamtes Dostoevskij-Bild bezog. Es scheint, dass Nietzsche sich gerade an der Widerborstigkeit und Ruppigkeit dieses Textes entzückt hat. In einem von HUB zitierten Brief an Franz Overbeck schreibt Nietzsche:
Ein Buch, das man in einem Buchladen aufschlägt, Unbekanntschaft bis auf den Namen – und der plötzlich redende Instinkt, hier einem Verwandten begegnet zu sein. (nach HUB 208).
Ein wahrer Geniestreich der Psychologie – ein schreckliches und grausames Stück Verhöhnung des γνωθι σαυτον, aber mit einer Kühnheit und Wonne der überlegenen Kraft hingeworfen, dass ich vor Vergnügen dabei ganz berauscht war. (nach HUB 208)
Balthasar kommentiert dies unter anderem mit folgenden Formulierungen, die eine Verbindung zwischen Nietzsches erklärtem «Höhlenmenschentum» und Dostoevskijs «Untergrundmenschen» aufzeigen wollen: „Der Abstieg in die Höhle, in welcher Nietzsche und Dostojewskij das Wesen des Menschen überhaupt erforschen wollen, wird aber dann auch notwendig zu einer inneren Höllenfahrt in die eigene Person: die Seelen-Unterwelt liegt ja nicht öffentlich und objektiv zutage. Die Schächte der „christlichen Seele“, die Nietzsche unterwühlt, sind seine eigenen Tiefen, die Verstecke des „atheistischen“ Geistes, die Dostoevskij durchspürt, sind in ihm selbst verborgen» (HUB 214).
Dies alles liest sich bei Balthasar sehr existenzdramatisch, und das ist es sicherlich auch. Aber die ganz besondere literarische Atmosphäre von Dostoevskijs Text kommt bei ihm dennoch etwas zu kurz, und darum soll sie hier etwas genauer beleuchtet werden[26].
Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund sind 1864 in der Zeitschrift Epocha erschienen; sie bestehen aus einem ersten Teil, betitelt «Untergrund», sowie aus einem zweiten Teil, «Aus Anlass des nassen Schnees». Der erste Teil ist eine Art freier Monolog eines Mannes, der sich als «Paradoxalist» bezeichnet, im zweiten gibt er mehrere besonders peinliche Episoden aus seinem Vorleben zum Besten, um, wie er ausdrücklich sagt, auszuprobieren, inwieweit er wenigstens sich selbst gegenüber ehrlich sein kann. Ein anonymer vierzigjähriger Mann hat bis zum vorigen Jahr als Beamter gedient, dann ein kleines Erbe erhalten, daraufhin sofort den Dienst quittiert und lebt nun nur noch in seinem Kellerloch. In einer anderen Version sagt er von sich
Ich lebe schon lange so – an die zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig. Früher war ich Beamter, jetzt bin ich kein Beamter mehr. Ich war ein bösartiger Beamter. Ich war grob und fand darin meine Befriedigung. Schließlich nahm ich ja keine Schmiergelder an, also musste ich mich wenigstens damit schadlos halten. (Der Witz ist schlecht; ich streiche ihn aber nicht aus. Ich habe ihn hingeschrieben, weil ich dachte, dass der Witz sehr scharf wird; aber jetzt, wo ich selbst sehe, dass ich bloß widerlich großtun wollte, streiche ich ihn erst recht nicht aus.) (I. «Untergrund», I).
Er ist, vom Standpunkt der Normalmenschen aus betrachtet, ohne Zweifel ein höchst lästiger Sonderling, getrieben von wollüstigem Hass auf sich selbst, vor allem aber voller Hass auf die Welt der Gesunden, Normalen, Tätigen. Diesen wirft er Stumpfsinn und Beschränktheit vor; sie könnten eigentlich nur um den Preis für die blödsinnige Beglückung der Menschheit wirken, dass sie ihr Bewusstsein abstumpfen. Ein geistiger Mensch, der alle seine Bewusstseinskräfte mobilisiere, könne gar nicht tätig sein, und er könne vor allem auch nicht gesund sein — denn Bewusstsein macht krank. Mit dieser Grundeinstellung wird der anonyme Paradoxalist zum frühen Kameraden all jener einsamen, bewusstseinskranken Menschen, die die Literatur von Nietzsche über Huysmans A rebours bis hin zu Kafkas Josef K. aus dem Prozess und den Figuren Camus bevölkern werden[27].
Eine weitere Leseprobe aus dem ersten Kapitelchen des ersten Teils soll den mündlichen Tonfall des einsamen paradoxen Geredes illustrieren, das sich beständig ein imaginäres Zuhörerpublikum schafft:
Ich bin ein kranker Mensch…Ich bin ein bösartiger Mensch. Abstoßend bin ich als Mensch. Ich glaube, meine Leber tut mir weh. Übrigens verstehe ich einen Dreck von Medizin, und ich weiß nicht sicher, was mir wehtut. Ich bin nicht in Behandlung und war nie in Behandlung, obwohl ich die Medizin und die Ärzte durchaus schätze. Außerdem bin ich aber abergläubisch bis zum Äußersten; na jedenfalls soweit, dass ich die Medizin durchaus schätze. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch). Nee nee, ich will mir meine Bösartigkeit nicht wegbehandeln lassen. Sehen Sie, das werden Sie nun nicht verstehen wollen. Na schön, ich versteh’s jedenfalls. Ich kann Ihnen natürlich nicht erklären, wem ich denn nun überhaupt mit meiner Bösartigkeit die Suppe versalzen soll; ich weiß nur zu gut, dass ich den Ärzten gar nicht «die Tour vermasseln» kann, bloß weil ich mich nicht behandeln lasse; ich weiß besser als jeder andere, dass ich damit bloß mir selbst schade und niemandem sonst. Aber trotzdem, wenn ich mich nicht behandeln lasse, dann ist es aus Bösartigkeit. Mein Leberchen tut mir weh, dann soll es doch noch viel ärger wehtun! (I. «Untergrund», I)
Die Geisteskrankheit des Beamten Goljadkin aus Dostoevskijs frühem Roman Der Doppelgänger, der noch stark in der romantischen Tradition erzählt worden war, wird hier entscheidend modifiziert: zu einer frühexistenzialistischen, frühmodernen Krankheit an überscharfem Bewusstsein:
Also kann denn, kann denn etwa ein Mensch Selbstachtung aufbringen, der es geschafft hat, dass er sogar im bloßen Gefühl der Selbsterniedrigung Genuss findet? Ich spreche hier durchaus nicht aus irgendeinem Reuegefühl heraus. Ich hab es nie leiden können, zu sagen: «Verzeih, Papa, ich will es auch nie wieder tun» – nicht etwa, weil ich vielleicht nicht fähig gewesen wäre, diesen Satz zu sagen, sondern ganz im Gegenteil, vielleicht gerade deshalb, weil ich dazu nur immer allzu leicht fähig gewesen bin, und zwar wie. Ich habe mich in solchen Fällen manchmal ganz besonders dann hervorgetan, wenn ich überhaupt keine Schuld hatte, im Traum nicht und in Gedanken nicht. Das war das Allerekelhafteste. Ich habe mich dann seelisch so richtig hineingekniet in meine Reuebezeigungen, dicke Tränen geweint und mich dabei natürlich selbst angeführt, obwohl ich mich überhaupt nicht verstellte. Ich habe solche Widerwärtigkeiten vielmehr von ganzem Herzen gemacht…Hier konnte man nicht mal mehr die Naturgesetze verantwortlich machen, obwohl doch die Naturgesetze mir mein ganzes Leben lang ständig und am allermeisten zuwider waren. […] Sie werden nun fragen, zu was ich mich denn so verhunzt und gequält habe? Antwort: Weil es eben furchtbar langweilig war, da so mit den Händen im Schoß dazusitzen. Da habe ich mir dann eben solche Grillen geleistet. Echt, so ist das. Achten Sie mal ein bisschen genauer auf sich selbst, meine Herren, dann werden Sie schon verstehen, dass es so ist. (I. «Untergrund», v).
In all diesen Passagen wird keine nacherzählbare Handlung dargeboten, d.h. es fehlt das tragende Kompositionsgerüst, das wir normalerweise von narrativen Texten erwarten. Dieses wird durch andere Momente ersetzt, die dem Text eine ganz eigentümliche Kohärenz verleihen, eine Art von Argumentationszusammenhang, den man als «bewusste Anti-Logik» bezeichnen kann. Solche anti-logischen Momente durchziehen ganz konsequent und sozusagen systematisch diesen anti-systematischen und anti-theoretischen Text und verleihen ihm einen eigentümlichen kompositorischen Zusammenhang. Sie erinnern in vielem an die Verfahrensweisen der Lyrik, die ja ebenfalls kein Handlungsgerüst hat. Ich verweise hier nur auf einige wenige lautlich-semantische Assoziationen. Solche bestehen etwa zwischen dem Untergrund, podpol´e, und dem Schlüsselwort bol´noj, krank. Ferner assoziiert der „Untergrund“ das stinkende Mauseloch, myšinaja ščeločka, in dem der Untergrundmensch wie eine myš´ , Maus, sitzt, v myšlenii upražnjaetsja[28], sich im Denken übt, und auf mščenie, auf Rache sinnt – und das alles endet dann in myl´nyj puzyr´ i inèrcija, in Seifenblase und Trägheit (vgl. I. «Untergrund», v).
Eines der auffälligsten Wortmotive unseres Texts ist nun dasjenige der Wand (stena), und es ist sehr anerkennenswert, dass Balthasar die Bedeutung dieses Motivs durchaus sieht, auch wenn er es in allzu “monologischer” Weise für seine Grundanschauung über die letzte Hemmung Dostoevskijs und seiner Figuren vor dem Schritt zu Gott ausdeutet. Das Motiv kommt übrigens nicht nur in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund vor, sondern beispielsweise auch im Idioten, wo der blutjunge Doppelgänger des Fürsten Myškin, der tuberkulosekranke Ippolit, in seinem Bett in Todesgedanken beständig auf eine Ziegelwand schaut. Das Motiv war Dostoevskij offenbar wichtig, es hat eine geradezu metaphysische Färbung. Das Motiv der Wand wird eingeführt an der Stelle der Aufzeichnungen aus dem Untergrund, wo der Untergrundmensch sich darüber auslässt, wie gesunde Normalmenschen und wie ein bewusstseinskranker Mensch wie er selbst Rachegefühle erleben und Rachepläne betreiben:
Also bei Leuten, die sich rächen können und überhaupt für sich einstehen können – wie geht das, zum Beispiel, bei denen? Also wenn die mal von einem Rachegefühl erfasst werden, dann bleibt in der Zeit in ihrem ganzen Wesen für gar nichts anderes mehr Raum als bloß für dieses Gefühl. Ein solcher Herr rennt dann direkt auf sein Ziel zu, wie ein wildgewordener Stier, mit gesenkten Hörnern, und höchstens vielleicht eine Wand kann ihn aufhalten. (Übrigens: vor der Wand kapitulieren diese Herren höchst aufrichtig, diese Herren, das heißt diese unmittelbaren Menschen und Tätigen. Für sie ist die Wand keine Ablenkung, wie zum Beispiel für uns denkende und demzufolge nichtstuenden Menschen; sie ist kein Vorwand, von ihrem Weg abzugehen, ein Vorwand, an den unsereins meist selbst nicht glaubt, der ihm aber immer sehr zupass kommt. Nein, sie kapitulieren vor der Wand in aller Aufrichtigkeit. Die Wand hat für sie etwas Beruhigendes, sittlich Entscheidendes und Endgültiges, und wohl sogar etwas Mythisches…(I. «Untergrund», iii)
Die Wand, die steinerne Wand, ist das Unmögliche, die Grenze, die den Gesunden, Normalen und Nervenstarken durch die Naturgesetze, die Naturwissenschaft, durch die Mathematik, durch die hässliche Formel «zweimal zwei ist vier» gesetzt ist, und die ihrer nervlichen Beruhigung dient. Anders der ungesund denkende, überbewusste Mensch – er will sich von solchen Gesetzen und Formeln weder beruhigen noch eingrenzen lassen, er rebelliert dagegen in völliger Aussichtslosigkeit und genießt die Schmerzen, die ihm diese Aussichtslosigkeit bereitet. Denn erst diese Schmerzen machen ihm bewusst, dass er keine Klaviertaste ist und auch kein Orgelwalzenstift, sondern ein Mensch. Er weiß aber, dass die Wand, die naturgesetzliche Notwendigkeit, auch die Gesunden schmerzt wie ein Zahnschmerz, und dass auch die Gesunden diesen Schmerz genießen.
An dieser Stelle der anti-logischen «Argumentation» unseres Anti-Helden wird das literarische Bild der Naturnotwendigkeit, die Wand, stena, lautlich-semantisch in die stony, das Stöhnen und Ächzen ob der Zahnschmerzen, transformiert – und das gehört zu jenen «unwesentlichen» Details, die einen Nietzsche lebhaft interessiert haben würden, wenn er Russisch verstanden hätte. In diesem Stöhnen, den stony, das aus der stena, der Wand, entwickelt wurde, drückt sich, wie es im Text heißt, «die ganze Naturgesetzlichkeit aus», der Wunsch, sich durch Faustschläge an die Wand der Naturgesetze noch mehr wehzutun, aber auch die Boshaftigkeit des vor Zahnschmerzen Stöhnenden gegenüber seinen Mitbewohnern:
Sein Stöhnen wird allmählich irgendwie garstig, unanständig-bösartig und geht über Tage und Nächte hin. […] er weiß selbst, dass sogar das Publikum und die ganze Familie ihm und seinen Kunstübungen mit zunehmendem Ekel lauscht,[…] insgeheim findet, dass er eigentlich auch anders und schlichter stöhnen könnte, ohne Koloraturen und Geschraubtheiten […]. Und dass er sich all das bewusst macht und die Schäbigkeit seines Stöhnens empfindet, das bereitet ihm Wollust. (I. «Untergrund», iv)
.
Es überrascht nicht, dass der «Paradoxalist» von einer förmlichen Wut gegenüber allem Hohen und Schönen erfüllt ist. In Kapitel I,6 spricht er davon, dass er überhaupt nichts in seinem Leben getan, und vor allem, dass er nicht einmal irgendeine Form oder Rolle für sein Dasein gefunden hat. Selbst die Rolle des Faulpelzes, sagt er hier, sei eine für ihn unerreichbare Karriere gewesen. Das ist natürlich eine Anspielung auf Ivan Gončarovs berühmten Roman Oblomov (1859), eine Art idealisierendes Loblied auf den Typus des verträumten, in Gedanken den höchsten Idealen nachhängenden russischen Faulpelzes. Bei Dostoevskij nun imaginiert sich der Untergrundmensch die hypothetische Karriere eines faulen Betrachters von allem «Schönen und Hohen».
Dieses «Schöne und Hohe» ist mir mit meinen vierzig Jahren ziemlich heftig aufs Genick geschlagen; aber das ist jetzt, wo ich vierzig bin, aber damals – oh, damals wäre es etwas ganz anderes gewesen! […] Ich hätte mich an jeden Zufall gekrallt, hätte zuerst eine Träne in meinen Pokal geweint und ihn dann auf alles Schöne und Hohe geleert. Ich hätte damals alles in der Welt in das Schöne und das Hohe verwandelt; im widerlichsten, eindeutigsten Dreck hätte ich das Schöne und das Hohe gefunden. […] Ein Schriftsteller schreibt «wie es wem beliebt»[29]; gleich trinke ich auf das Wohl von «wem es beliebt», denn ich liebe alles «Schöne und Hohe». Dafür fordere ich Respekt vor mir […]. Ich lebe friedlich, sterbe feierlich – ist doch herrlich, ganz einfach herrlich. Und einen Bauch hätte ich mir wachsen lassen, ein Dreifachkinn mir zugelegt, eine rote Sandelholznase mir erarbeitet, dass jeder Passant bei meinem Anblick gesagt hätte: «Also das ist ein Plus! Also das ist das echte Positive». Sagen Sie, was Sie wollen, sowas hört man doch gern in unserem negativen Jahrhundert, meine Herren. (I. «Untergrund», vi).
Die Wut auf das Hohe und Schöne umfasst auch die pure Vernünftigkeit, die auf Vermeidung von Schaden für die eigene Person ausgeht:
Ich fürchte, meine Herren, Sie schauen mich mitleidig an; Sie sagen mir erneut, ein aufgeklärter und entwickelter Mensch, einer wie der Zukunftsmensch, könne gar nicht bewusst etwas für sich Unvorteilhaftes wollen, das sei mathematisch klar. Völlig einverstanden, das ist mathematisch klar. Aber ich sage Ihnen erneut und zum hundertsten Mal, es gibt nur einen Fall, einen einzigen Fall, wo der Mensch absichtlich und bewusst sich etwas ganz Schädliches, Dummes, sogar Oberdummes wünschen kann: nämlich um sich sogar was Oberdummes wünschen zu dürfen und um nicht an die Pflicht gebunden zu sein, sich bloß was Vernünftiges wünschen zu müssen. Denn gerade dieses Oberdumme, denn gerade die eigene Caprice, kann für unsereins das Vorteilhafteste von der Welt sein, besonders in bestimmten Fällen. (I. «Untergrund», viii).
Mit der Erfindung dieses Paradoxalisten protestiert Dostoevskij gegen alle europäisch getönten Fortschrittsideen für eine Umgestaltung der russischen Gesellschaft, ob sie nun von Liberalkonservativen kommen oder von radikalen Linken wie dem Kreis um Černyševskij, oder möglicherweise auch von den antiquierten gesellschaftspolitischen Ideen der echten Slavophilen, von denen einige mit Hilfe des regierenden Zaren gerne sogar die Reformen Peters des Großen rückgängig gemacht hätten.
Was nun Nietzsche an Dostoevskijs Anti-Helden gefallen haben wird, das ist die vulgäre kleinbürgerliche Vitalität dieses paradoxen Widerlings. Er wird in ihm ein geradezu humorvolles Gegenstück zu seinem allzu erhabenen Übermenschen gesehen und in Dostoevskij überhaupt ein Gegenstück zum eigenen widerwilligen Verhaftetsein in einem wilhelminischen Pathos erkannt haben. Immerhin hat Balthasar die geradezu übermütige Freude Nietzsches an Dostoevskijs Untergrundmenschen und seiner Suada seinem Leser keineswegs vorenthalten, wie wir gesehen haben.
Es sei übrigens noch angemerkt, dass Dostoevskij den, sagen wir, Paradoxiediskurs der Aufzeichnungen aus dem Untergrund fortschreibt, und zwar in seinen Romanen, namentlich im Jüngling, aber auch in seiner Publizistik. Ein Beispiel sind die Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke. Diese Feuilletons von einer Westreise, 1863 zuerst erschienen, sind ein Pamphlet auf Westeuropa und namentlich Frankreich und Paris, zugleich aber auch der Ort, wo Dostoevskij seine nationalreligiöse Konzeption des „russischen Bodens“ (počva) entwickelt, zu dem die europäisierten russischen Gebildeten den Kontakt verloren hätten. In den Winteraufzeichnungen lesen wir folgende Passage, welche gleichsam die Synthese von Dostoevskijs Paris-Eindrücken geben soll. Auffällig daran ist die außergewöhnliche Dialogisierung, die eine große Dynamik in den Text hineinbringt:
Nämlich: das ist die moralischste und tugendhafteste Stadt auf dem ganzen Erdball. Welche Ordnung! Welche Vernünftigkeit, welch bestimmte und fest eingespielte Beziehungen; wie ist alles so abgesichert und abgezirkelt (разлиновано); wie sind alle zufrieden und völlig glücklich, und wie haben alle es schließlich mit ihren Anstrengungen dahin gebracht, dass sie sich auch wirklich davon überzeugt haben, dass sie zufrieden und völlig glücklich sind, und…und… da sind sie stehen geblieben. Weiter führt kein Weg. Sie werden es nicht glauben, dass sie dabei stehen geblieben sind; Sie werden schreien (Вы закричите), dass ich übertreibe, dass das alles nur gallige patriotische Verleumdung ist, dass dies alles in Wahrheit unmöglich ganz und gar stehen bleiben konnte. Aber, meine Freunde, immerhin habe ich Sie schon im ersten Kapitel dieser Bemerkungen vorgewarnt, dass ich vielleicht eine Menge zusammenlügen werde (что, может быть, ужасно навру). Also stören Sie mich bitte nicht. Sie wissen sicher auch, dass wenn ich auch lüge, so lüge ich eine Menge in der Überzeugung, dass ich nicht lüge (если я и вру, то навру, будучи убежден, что не вру). Und nach meiner Meinung ist das schon genug. Also lassen Sie mich jetzt mal machen (Ну так и дайте мне свободу)[30].
In diesem publizistischen Text kommt der ganz eigentümliche Dostoevskij-Ton sehr deutlich zur Geltung; hier ist der Autor dialogisch und polyphonisch ganz im Sinne der Theorien Bachtins, und es ist dem Herrn Dostoevskij ganz egal, ob er hier fiktionale Prosa schreibt, oder publizistische. Ungefiltert durch literarische Fiktionalisierungsanteile und Erzählerinstanzen kommt hier der «unzuverlässige Autor» zum Vorschein, den man mutatis mutandis und mit allem gehörigen Respekt vor diesem ungewöhnlichen Schriftsteller in allen seinen Verlautbarungen anzusetzen haben wird. Nietzsche, so steht zu vermuten, wird gerade daran seine helle Freude gehabt haben. Aber auch Balthasar, der manches bei Dostoevskij vornehm glättet, stellt bei beiden «Denkern» ein «Ausgespanntsein zwischen Sublimität und Gemeinheit» fest (HUB 213), und bemerkt an anderer Stelle:
Mit dieser «transzendenten Ethik» wirken Nietzsche wie Dostojewskij absolut sprengend. Nietzsche nennt sich Dynamit. Dostojewskijs ganze Romantechnik beruht im Grunde auf einer fortwährenden Reihe von Skandalen, in jeder denkbaren Gestalt, als das «Anstößige», «Peinliche», «Unmögliche», «Lächerliche», «Hilflos-Überwältigte», «Himmelschreiende» (HUB 257)
[1] Alle Balthasar-Referenzen und – zitate folgen der Ausgabe Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Band II Im Zeichen Nietzsches, Einsiedeln, Freiburg: Johannes Verlag 1998 (Nachdruck der Ausgabe von 1937 – 1939), mit dem Kürzel HUB und der Seitenzahl. Balthasars Zitate aus Nietzsche und Dostoevskij werden, soweit im Kontext notwendig, durch die Angaben von Werktiteln ergänzt; in wörtlichen Zitaten wird Balthasars Schreibung russischer Namen beibehalten, ansonsten gilt die wissenschaftliche Transkription der deutschsprachigen Slavistik.
[2] S. HUB, 208.
[3] S. aber den Nietzsche-Beitrag Jean-Claude Wolfs zur Freiburger Balthasar-Konferenz und zum vorliegenden Band.
[4] vgl. dazu HUB 203 f., wo Balthasar von Nietzsche und Dostoevskij sagt, «Nicht nur verführen sie zur letzten Grenze, sie sind selbst von ihr verführt, der Bann des «Eschaton» umstrickt sie ganz» – um nach einem Zitat aus Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund über den Genuss an der Erniedrigung, «dass man bis an die letzte Mauer gelangt sei» fortzufahren: «Diese letzte Mauer zu erreichen bieten sie alle Künste der Analyse an, aber sie wissen genau, dass die Grenze selbst nur «synthetisch», durch Glaube und Auslegung eingeholt und überschritten wird». – Das russische Wort stena kann je nach Kontext mit «Mauer» oder «Wand» übersetzt werden. Da es jedoch auch Bestandteil von Redensarten ist wie lezt‚ na stenu, vor Wut die Wand hochgehen, oder probit‘ lbom stenu , mit dem Kopf durch die Wand wollen, ist bei Dostoevskij die Übersetzung «Wand» vorzuziehen.
[5] Laut HUB 215 ist der Atheismus, den Dostojewskij bekämpft, fast unüberwindlicher als der Nietzsches, das Christentum durch Nietzsche oft besser verteidigt als durch Dostojewskij. Vgl. auch das entscheidende Nietzsche-Zitat HUB 264 (aus Jenseits von Gut und Böse): «Es ist möglich, dass nur der heiligen Fabel der Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle des Wissens um die Liebe verborgen liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das an keiner Menschenliebe je genug hatte, das Liebe, Geliebtwerden und nichts außerdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfinden musste, um die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben wollten, – und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben-Können ist, – der sich der Menschenliebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiß – sucht den Tod“.
[6] Aus „Von der Armut des Reichsten“ (Dionysos-Dithyramben):
… Du musst ärmer werden, / weiser Unweiser!/ willst du geliebt sein./Man liebt nur die Leidenden, /man gibt Liebe nur den Hungernden:/Verschenke dich selbst erst, o Zarathustra! // – Ich bin Deine Wahrheit“ – Hub 269
[7] Vgl. die Arbeiten Ernst Hauswedell, Die Kenntnis von Dostojewsky und seinem Werke im deutschen Naturalismus und der Einfluß seines «Raskolnikoff» auf die Epoche von 1880-95 (Diss. München), 1924, sowie Theoderich Kampmann, Dostojewskij in Deutschland, Münster i. Westf. : Helios-Verlag 1931.
[8] Eine erste deutsche Übersetzung dieses frühen Beispiels von politisch durchaus brisanter «Lagerliteratur» erschien offenbar bereits 1864 (Meyers Konversations-Lexikon. Vierte Auflage, Fünfter Band, Leipzig Bibliographisches Institut 1886, 89).
[9] F. M. Dostojewskij, Erzählungen . Frei nach dem Russ. von Wilhelm Goldschmidt. Leipzig : Reclam jun., [ca. 1886] (Reclams Universal-Bibliothek ; 2126)
[10] Allerdings in einer französischen Ausgabe Th. Dostoievsky, L’esprit souterrain ; trad. et adapté par E. Halpérine et Ch. Morice, Paris : Plon, [1886]. Für diese Information danke ich Frau Isabelle Wienandt. In deutschen Übersetzungen trägt der Text häufig auch den Titel «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch».
[11] Alois Hofman, Thomas Mann und die Welt der russischen Literatur : ein Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Komparativistik, Berlin : Akad.-Verl., 1967
[12] Hans Halm, «Wechselbeziehungen zwischen L. N. Tolstoi und der deutschen Literatur». In: Archiv für slawische Philologie 35 (1911), S. 452 – 476; Otto Harnack, «Tolstoi in Deutschland». In: Preußische Jahrbücher 67 (1891) S. 1 – 13; Gerhard Kersten, Gerhart Hauptmann und Lev Nikolajevič Tolstoj. Studien zur Wirkungsgeschichte von L. N. Tolstoj in Deutschland 1885 – 1910, Wiesbaden 1966. (= Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik. 9.); Eckbert Pechstedt, «L.N. Tolstojs Bühnenwerke im Wirkungsfeld des deutschen Expressionismus», Zeitschrift für Slawistik 27, 1982, 501-511; vgl. auch Sigfrid Hoefert, Russische Literatur in Deutschland. Texte zur Rezeption von den Achtziger Jahren bis zur Jahrhundertwende, Tübingen: Max Niemeyer 1974 (Deutsche Texte, 32).
[13] Ein gutes Beispiel ist der große Raum, den der sehr katholisch orientierte Freiburger Professor für französische Literatur Pierre-Maurice im 3. Band seiner großen Monographie über Rousseaus Religion den religiösen Ideen Lev Tolstojs widmet (Pierre-Maurice Masson, La religion de Jean-Jacques Rousseau, Paris: Hachette vol 1-3, 1916, Bd.3 Rousseau et la Restauration religieuse).
[14] Balthasars Kennerschaft erweist sich in der Tatsache, dass er in respektablem Umfang auch den Roman Der Jüngling zur Kenntnis nimmt, der von sonstigen Autoren zum Thema Dostoevskij oft übergangen wird.
[15] Vjačeslav Ivanov (1866- 1949), russischer Dichter, Religionshistoriker und –philosoph, seit 1924 in Italien, war seit seinen Studienzeiten auch eng mit dem deutschen Sprachraum verbunden. Sein ursprünglich als Übersetzung seiner russischen Dostoevskij-Studie gedachtes Buch, Dostojewskij.Tragödie – Mythos – Mystik. Übers. v. Alexander Kresling, Tübingen: Mohr 1932, wuchs sich beim Redigieren der Übersetzung zu einem eigenen Werk aus, das Jahrzehnte später ins Russische „rückübersetzt“ werden musste. (s. auch seine deutschen Publikationen Dostojewskij und die Romantragödie; Gedächtnisrede von Wjatscheslaw Iwanow, übers. v. Dmitrij Umanskij, Leipzig, Wien: Wiener Graph. Werkstätte, 1922, sowie Wiatscheslaw Iwanow, Die russische Idee. Übersetzt und mit einer Einleitung von J. Schor, Tübingen Mohr 1930). Michail Bachtin erwähnt Ivanovs Dostoevskij-Arbeiten bei aller Polemik mit deutlichem Respekt. Ivanovs stark von seinen mystisch-christlichen (orthodoxen und katholischen) Ideen geprägtes Bild von Nietzsche und Dostoevskij verdient eine systematischere Konfrontation mit der Konzeption Balthasars (1905–1988).
[16] Vgl. Jürgen Lehmann, «Bachtin und Nietzsche«, in: pp. 257-63 Peter Wiesinger, Hans Derkits (Hgg.), Kanon und Kanonisierung als Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Bern: Peter Lang; 2003, 257 – 263; Bernice Glatzer Rosenthal (Hg.), Nietzsche in Russia, Princeton, 1986.
[17] 1895-1975, russischer Sprach- und Literaturtheoretiker, Philosoph von heute weltweitem Ruf. 1929 nach Kasachstan verbannt, Anfang der 60er Jahre rehabilitiert und wieder in Moskau aktiv.
[18] Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i renessansa, Moskva : Izd. Chud. Lit., 1965; ab 1968 zahlreiche Übersetzungen in westliche Sprachen, darunter Rabelais und seine Welt : Volkskultur als Gegenkultur. Aus d. Russ. von Gabriele Leupold. Hrsg. u. mit e. Vorw. vers. von Renate Lachmann, Frankfurt am M. : Suhrkamp, 1987
[19] russisch zuerst 1929; deutsch Frankfurt/M.[u.a.] : Ullstein, 1975
[20] russ. zuerst u.d.T. Problemy tvorčestva Dostoevskogo, Leningrad: Priboj 1929; 2., verbesserte Auflage Problemy poètiki Dostoevskogo, Moskva: Sovetskij pisatel‘ 1963; deutsch erstmals Probleme der Poetik Dostoevskijs (aus dem Russischen von Adelheid Schramm), München : Hanser, 1971
[21] Einer der Grundzüge von Dostoevskijs Werken ist das starke Moment der Parodie und anderer Formen offener oder heimlicher Bezugnahme auf Texte und Stile anderer Autoren
[22] Julia Kristeva, «Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman» , in: Critique: Revue Générale des Publications Françaises et Etrangères, 1967; 23: 438-465.
[23] Als „Paradoxalist“ bezeichnet sich der anonyme Protagonist von Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund.
[24] Ich sündige an dieser Stelle selbst entschlossen gegen ein Gesetz der neueren Literaturwissenschaft, das eine begriffliche Trennung zwischen dem Autor und seinem Werk gebietet; der Erzähler des Romans ist niemals – niemals! – der Autor selbst. Einer dogmatischen Auslegung dieses Gesetzes steht aber bereits entgegen, dass, semiotisch betrachtet, der Gesamtbedeutungsaufbau des Romanwerks sich über den Kopf des fiktionalen Erzählers hinweg sein eigenes Urhebersubjekt, vulgo seinen eigenen Autor schafft: sobald ich als Leser überhaupt den fiktionalen Erzähler wahrnehme, tue ich dies vor dem Wahrnehmungshintergrund des Autorbildes, welches das Werk mir beim Lesen Zug um Zug vermittelt. So, wie es in Romanen zuverlässige und unzuverlässige Erzähler geben kann, so auch zuverlässige und unzuverlässige semiotische Urhebersubjekte oder Autoren. Dostoevskij kreiert beständig mäßig unzuverlässige Erzähler und „Autoren“ seiner Werke; in letzterem kann er mit Gogol’ und mit Leskov verglichen werden.
[25] HUB, 234; der unheilbar intrigante und verlogene Lebedev wird hier auch zitiert: «die Worte und das Tun, die Lüge und die Wahrheit, das ist alles gleichzeitig in mir enthalten und ist alles vollkommen aufrichtig».
[26] Alle nachfolgenden Zitate aus den Aufzeichnungen aus dem Untergrund sind meine Übersetzung nach der Ausgabe F.M.Dostoevskij, Zapiski iz podpol’ja, Ann Arbor: Ardis 1982. Die Stellen werden nach der Kapiteleinteilung dieser Ausgabe nachgewiesen.
[27] Vor allem der erste Teil der Aufzeichnungen ist schwer zu qualifizieren, da mehrere Gattungsmomente sich in ihm mischen: das Moment der Tagebuchaufzeichnung, das Moment des «kulturphilosophischen» Traktats, insbesondere aber auch das Moment des intelligenten Kneipengeschwätzes mit Ansprachen an ein imaginäres Publikum, dem der Sprecher höchstpersönlich alle Stichworte liefert. Dieses endlos monologisierende, die Zuhörer und die Leser tyrannisierende Geschwätz ist ein Genre, das die russische Intelligenz auch außerhalb der Literatur zu hoher Vollendung gebracht hat. Literarhistorisch kann es als Glied in einer Gattungstradition identifiziert werden, die zumindest von Diderots Monodram Le neveu de Rameau bis in die moderne Literatur reicht, und zwar hier von Joyce über Beckett bis hin zu Camus und darüber hinaus zum nouveau roman. Auch in der russischen Literatur vor Dostoevskij finden sich Prototypen dieses Genres bei Gogol´ und insbesondere bei Turgenev, im Tagebuch eines überflüssigen Menschen, sowie in seiner Erzählung Ein Hamlet aus dem Kreise Ščigry.
[28] Interessanterweise heißt der – mit Christuszügen ausgestattete – Titelheld von Dostoevskijs Roman Idiot knjaz‘ Myškin, Fürst Mäuschenmann.
[29] Anspielung auf M.E. Saltykov-Ščedrins Satirenzyklus Wie es wem beliebt, 1863 (Kak komu ugodno, 1863).
[30] Kapitel V, «Baal». Von mir übersetzt nach der Ausgabe F.Dostoevskij, Iskanija i razmyšlenija, Moskva: Sovetskaja Rossija 1983, 173